Coverbild

Toni Lucas

KIRSCHENSOMMER

Kurzroman

© 2015

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-123-0

Coverfoto:
© andrea photo – Fotolia.com

Luise saß vergnügt im grünen Blätterdach des knorrigen Kirschbaumes und spuckte mit Hingabe Kirschkerne in die Gegend.

Unter ihrem roten Basecap, dessen Schirm sie verwegen zur Seite gedreht hatte, quollen einige verschwitzte blonde Locken hervor. Ihr Mund war saftverschmiert, ihre blaue Arbeitslatzhose wies große, grüne Flecken auf. Auch ihr ursprünglich weißes T-Shirt sah mit den grünlich-braunen und roten Klecksen inzwischen aus wie eine Landkarte des Sommers.

Eigentlich sollte der großen Eimer, der vor ihr an einem Haken am Ast baumelte, schon längst gefüllt sein. Doch die beinahe tiefschwarzen, zuckersüßen Früchte waren eine zu große Verführung. Immer wieder landeten sie Luises Mund statt im Eimer.

Konzentriert kniff Luise die Augen zusammen und visierte eine der prachtvollen roten Rosen nahe der großen Hecke an. Sie holte tief Luft und dann – Plopp! Die Rose wackelte leicht. Zufrieden lächelnd zupfte Luise die nächste Handvoll Kirschen vom Zweig.

Kirschkernspucken machte einfach nur glücklich.

Während sie behaglich kaute, ließ Luise ihre Augen über die sommerliche Idylle des elterlichen Gartens wandern.

Schnurgerade reihten sich die Beete mit Salat, Kohlrabi, Bohnen und Erbsen aneinander. Die Johannis- und Stachelbeerstämmchen waren dicht mit Früchten behangen.

Luise seufzte. Sie hatte noch viel Arbeit vor sich. Emsig zupfte sie nun eine Weile Kirschen in den Eimer.

Um sie herum waren nur das Summen der Bienen und das Rascheln der Blätter zu vernehmen. Irgendwo im Dorf brummte ein Rasenmäher.

Plötzlich drang ein merkwürdiges Geräusch herauf zu ihrem luftigen Sitz. Sie beugte sich nach vorn, um besser sehen zu können.

Da sollte doch . . . Das konnte ja wohl nicht sein! Tatsache!

Nachbars Dackel Willi buddelte selbstvergessen neben den Tomaten.

Wütend schnappte Luise nach Luft: »Willi!«

Der Hund tat, als hörte er nicht und grub nur umso emsiger. Schlagartig war es mit Luises guter Laune vorbei. Gestern erst hatte sie die Tomaten gejätet und fein säuberlich geharkt. Nun machte Willi die ganze Mühe zunichte.

Wie schaffte er es bloß immer, durch die Hecke zu kriechen?

»Willi!« Luises Ruf folgte eine Kirsche, die ihr Ziel jedoch weit verfehlte. Stattdessen tippelte Willi nun seelenruhig hinüber zu den Gladiolen und grub mit noch größerer Begeisterung weiter.

Nun reichte es Luise. »Verdammt! Willi! Verschwinde!« Sie griff nach dem nächsten Ast, hangelte sich vorsichtig in Richtung Leiter. Schon hatte ihr Fuß eine der oberen Sprossen erreicht, als es plötzlich heftig knirschte. Der Ast, an dem Luise sich gerade festhielt, brach mit lautem Knacken.

Luise ruderte hilflos mit den Armen, erwischte einen Ast, der jedoch prompt ebenfalls brach. Fuchtelnd griff sie nach der Leiter, die, von Luises Gewicht nach hinten gezogen, ins Wanken geriet.

Für einen Moment stand Luise senkrecht auf der Leiter, ohne dass sie wusste, was sie nun tun sollte. Dann entschied sich die Schwerkraft gegen sie. Mit lautem Krachen und einem spitzen Schrei fiel Luise zu Boden. Dunkelheit schlug über ihr zusammen.

In der folgenden Nacht fand Luise kaum Schlaf. Immer wieder sah sie Nina vor sich – ihre bezaubernden Augen, ihr lausbübisches Lächeln, ihren wippenden Zopf. Sie erinnerte sich an die sanfte Berührung ihrer Hand, an jedes ihrer Worte.

Immer wieder ging sie ihr Gespräch durch. Konnte es sein, dass Nina ebenfalls etwas mehr als ärztliche Fürsorge für sie empfand? Wie wahrscheinlich schien es denn, dass sie vom Baum fiel und ausgerechnet von einer frauenliebenden Frau gefunden wurde?

In Luises Kopf kreiselten die Gedanken, was nicht gerade hilfreich war, da sie noch immer unter starken Kopfschmerzen litt.

Am nächsten Morgen erwachte sie müde und zerschlagen aus einem unruhigen Schlaf voller wirrer Träume. Der Gedanke, dass es noch beinahe sechsunddreißig Stunden dauerte, bis Nina vorbeikommen würde, verstärkte das Kribbeln in Luises Magengegend so erheblich, dass es bis in ihre Arme und Hände ausstrahlte.

Der morgendliche Blick in den Spiegel ernüchterte sie jedoch augenblicklich. Es erschien ihr nun beinahe absurd, dass Nina etwas für sie empfand. Ihr Gesicht war vom unerquicklichen Schlaf verquollen, ihr Haar eine einzige Katastrophe. Ihr Rücken war von grünlich-gelb schimmernden Flecken nur so übersät. Selbst der Gips sah schmuddelig aus.

Ob Nina überhaupt wiederkam? Es würde beinahe an ein Wunder grenzen. Luise schlurfte enttäuscht in die Küche. Dort suchte sie sich eine große Plastiktüte und Klebeband, um ihren Gips wasserfest zu verpacken.

Sie durfte sich nicht gehen lassen. Das war sie sich schuldig. Auch für ihre Eltern musste sie wieder fit aussehen. Ihre Mutter rief jeden Tag zweimal an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Ihr hatte sie wahrscheinlich auch den Urlaub verdorben.

Alles nur wegen Willi!

Nach den Anstrengungen der morgendlichen Routine musste sich Luise eingestehen, dass sie auch eine knappe Woche nach dem Unfall noch weit davon entfernt war, gesund zu sein.

Murrend legte sie sich auf die Couch und hing ihren Nina-Fantasien nach, wobei sie Ottilie inbrünstig kraulte.

Am Nachmittag dann fand sie die Kraft, zum Frisör zu gehen. Mit der Frisörin war sie zur Schule gegangen. Sie sahen sich nur ab und zu, wenn Luise ihre Eltern besuchte. Gelegentlich tranken sie dann einen Kaffee zusammen und plauderten über Belangloses.

Als Luise diesmal, erschöpft von dem kurzen Weg, den Salon betrat, schrie Saskia erschrocken auf. »Luise! Wie siehst du denn aus? Bist du unter den Bus geraten? Setz dich bloß schnell hin! Du siehst ja aus wie ein Gespenst.«

Sie zog ihr einen Stuhl heran und nötigte sie zum Hinsetzen.

Luise wehrte sich halbherzig. »Sasi, mach doch nicht so einen Aufriss. Mir geht's gut. Ich bin nur von der Leiter gefallen. Und auch nur, weil Willi wieder in Mutters Beeten gebuddelt hat. Alles halb so wild.«

»Wenn das bei dir halb so wild ist, möchte ich nicht wissen, was du sagst, wenn noch etwas Schlimmeres passiert. Magst du einen Kaffee?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Saskia in ihrem kleinen Aufenthaltsraum, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen.

Luise war froh, dass sonst niemand im Laden war. Auch wenn die stämmige, untersetzte Saskia mit ihrem braunen Kurzhaarschnitt in Jeansrock und ärmelloser Bluse nicht unbedingt wie das Klischeebild einer Frisörin wirkte, hatte sie zuweilen gluckenhafte Anwandlungen, denen nur schwer zu entkommen war.

Als Saskia mit zwei Tassen Cappuccino und einer Schale Kekse zurückkam, hatte Luise sich soweit von den Strapazen des kurzen Spaziergangs an diesem heißen Sommernachmittag erholt, dass sie wieder einen normalen Puls und angemessene Farbe im Gesicht hatte.

Dankbar nippte sie am Cappuccino. Dass sie dafür Saskia jede Kleinigkeit ihres Unfalls erzählen musste, nahm sie in Kauf. Immerhin war der kleine Salon die Nachrichtenzentrale des Ortes.

»Übrigens habe ich eine Weile gebraucht, um herauszufinden, wer mich denn da unter dem Baum gefunden hat«, schloss Luise ihren kurzen Bericht.

»Und? Wer war es?« Pure Neugier flackerte in Saskias grünen Augen.

»Die Kinderärztin, die Dr. Meisner vertritt«, ließ Luise wie nebenbei verlauten, »Kennst du die?«

»Aber klar doch. Erst letzte Woche war ich mit Emma bei ihr, weil mein liebes Kind mal wieder eine kräftige Erkältung aus dem Kindergarten mitgebracht hat. Keine Ahnung, wie du das zwischen all den bakterienverseuchten Kids aushältst, ohne ständig krank zu sein.« Saskia nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse.

»Och, kein Problem. Ich bin doch geimpft und entwurmt. Was hattest du denn für einen Eindruck von Ni. . . ähm, Frau Hofmann? Ist sie gut?«

Saskia schien den kleinen Versprecher nicht gehört zu haben. »Ja, war schon in Ordnung. Emma zumindest war begeistert. Aber das lag wohl vor allem an den Belohnungsgummibärchen. Wäre schon schön, wenn wir so eine junge Ärztin hier im Ort hätten. Eigentlich haben wir doch viel zu bieten, so für junge Familien, findest du nicht?«

Luise erblasste. »Hat sie denn Familie?«

»Keine Ahnung. Auf ihrem Schreibtisch stand schon ein Foto. Aber frag mich nicht, wer da drauf war.« Saskia hatte ausgetrunken und baute sich nun mit in die Hüften gestemmten Händen vor Luise auf. »Wollen wir mal schauen, was wir aus deinem Katastrophengebiet machen können?«

»Klar, darum bin ich doch hier.« Luise wirkte plötzlich seltsam geistesabwesend. Willig nickte sie zu allen Vorschlägen, die Saskia ihr machte. Auch während des Schneidens wurden ihre Antworten immer einsilbiger.

Wie konnte sie nur glauben, dass Nina noch frei und ungebunden war? So eine Frau war doch garantiert in einer Beziehung oder hatte jede Menge Verehrerinnen, im Zweifelsfalle auch Verehrer. Es gab keinen vernünftigen Grund, weshalb Nina auch nur einen Gedanken daran verschwenden sollte, eine wie auch immer geartete Beziehung zu Luise aufzunehmen.

In derlei unerfreuliche Gedanken vertieft, achtete Luise kaum darauf, was Saskia mit ihrer Frisur anstellte. Erst als diese »So, fertig. Schau mal« sagte, schrak sie zusammen.

Als Luise in den Spiegel blickte, hätte sie sich beinahe nicht wiedererkannt. Ihre üppigen blonden Locken waren verschwunden. Zurück war ein kesser Kurzhaarschnitt geblieben, der ihr etwas Jungenhaft-Androgynes verlieh.

»Oh«, entfuhr es Luise, und sie probierte ein freches Grinsen aus.

»Zufrieden?«, lächelte Saskia. »Wenn du hier ein bisschen zuppelst und dort ein paar Haare zurechtkämmst, dann fällt die Narbe von vorn gar nicht mehr auf. Außerdem macht sich bei der Hitze sowieso ein Hut ganz gut.«

»Öhm, naja, war wohl das Beste, was aus dem Schlachtfeld herauszuholen war«, gab Luise gedämpft zurück. »Meine Mutter wird ein bisschen erschrecken. Aber sie gewöhnt sich sicher daran.« Sie schüttelte vorsichtig den Kopf, um herauszufinden, wie sich ihre neue Frisur anfühlte. Ziemlich luftig, fand sie.

Als Saskia zu weiterem Smalltalk ansetzen wollte, kam glücklicherweise Kundschaft, sodass Luise sich verabschieden konnte.

Leise pfeifend schlenderte sie nach Hause. Neue Frisur, neues Leben? Es wäre ja zu schön, wenn an diesem Spruch etwas dran wäre.

Obwohl Luise sich erschöpft und müde fühlte, machte sie in der darauffolgenden Nacht erneut beinahe kein Auge zu. Zu groß war ihre Aufregung, zu intensiv ihre Vorfreude, zu stark ihre Angst vor einer Enttäuschung.

Ninas Augen verfolgten sie. Lächelnd schienen sie Luise zu sich zu locken. Ihr schön geschwungener Mund schien ihr etwas zuzurufen, doch so sehr Luise sich mühte, sie verstand es nicht.

Schweißgebadet wachte sie am nächsten Morgen auf. Obwohl sie wusste, dass sie noch mehr als genug Zeit bis zu Ninas Eintreffen hatte, entfaltete sie eine hektische Umtriebigkeit, die sie durchaus selbst ein wenig erschreckte.

Sie räumte die ohnehin ordentliche Wohnung auf, machte frische Limonade, bügelte ihre frisch gewaschene Arbeitshose, stellte Leiter und Eimer für die Kirschen bereit.

Danach war Luise so geschafft, dass sie sich hinlegen musste. Sie fiel in einen tiefen Schlaf und wachte erst auf, als Ottilie maunzend auf ihr herumlief und ihr das Gesicht leckte.

Erschrocken schnellte Luise hoch. Es war kurz nach halb fünf. In einer Stunde würde Nina da sein!

Luise duschte hastig, kämpfte eine Weile verzweifelt mit ihrer neuen Frisur und zog dann die frische Arbeitslatzhose sowie ein frisches, weißes T-Shirt an. Das Ganze krönte sie mit einem Hauch ihres Lieblingsparfüms.

Dieses Mal wollte sie den bestmöglichen Eindruck machen.

Während sie in einem Sessel nervös auf Ninas Klingeln wartete, fühlte sie sich wie vor einem ersten Date. Dieses Kribbeln, diese Angespanntheit, ihr trockener Mund – kein Zweifel, sie hatte sich in Nina verguckt. Oder doch verliebt?

Luise schaute unruhig auf die große Wanduhr. Es war inzwischen fünf vor halb sechs. Wo blieb Nina nur?

Angespannt beobachtete sie das ruckartige Vorrücken des Sekundenzeigers. Klack, klack, klack, klack. Jedes einzelne Klacken zerrte an ihren Nerven.

Luise sprang auf und lief zum Fenster. Doch der Vorgarten, in dem sie längst hätte Unkraut zupfen müssen, lag verwaist. Nur kleine, dicke Hummeln flogen brummelnd um die voll erblühten roten und weißen Rosen.

Im Haus gegenüber waren die Jalousien heruntergelassen. Auch Mathilde von nebenan schien heute nicht im Garten zu sein. Nicht einmal Willis Bellen war zu hören. Selbst die Straße dehnte sich leer und öde hinter der Hecke.

Eine Weile kam sich Luise vor wie der letzte Mensch auf Erden. Allein, verlassen, krank.

»Nun mach mal ’nen Punkt! Luise, du spinnst doch!« Erschrocken vom Klang ihrer eigenen Stimme wandte sich Luise hastig vom Fenster ab und schüttelte ein wenig erbost über sich selbst den Kopf. Sie ging nach draußen und machte es sich auf der Bank vor dem Haus bequem.

Dort saß sie noch keine zwei Minuten, als sie einen kleinen Strohhut eilig über der Hecke entlangschweben sah. Ehe Luise sich über dieses Phänomen wundern konnte, war Nina schon am Gartentor und winkte lachend zu ihr herüber.

»Komm rein!«, gab Luise winkend zurück und stand auf.

»Hallo! Tut mir leid, dass es ein bisschen später geworden ist, aber heute war ziemlich viel los.« Nina zog nachdenklich die Stirn kraus. »Also eigentlich ist immer viel los, aber heute besonders. Es ist wie verhext. Wenn ich mal was vorhabe, fallen die lieben Kleinen wie die Fliegen vom Rad oder holen sich den Sonnenbrand ihres Lebens.« Sie lachte ihr ansteckendes Lachen. »Aber dafür bin ich schließlich da.«

»Eben. Ich bin froh, dass du kommen konntest. Die Stare feiern schon Feste im Baum.« Luise reichte ihr die Hand, doch Nina ignorierte diese geflissentlich. Stattdessen begrüßte sie Luise mit einer kurzen freundschaftlichen Umarmung.

»Was ich verspreche, halte ich. Definitiv.« Nina trat einen Schritt zurück und betrachtete Luise mit professionellem Blick. »Du siehst heute wirklich schon etwas besser aus. Nicht mehr so blass. Was macht der Arm? Schicke Frisur übrigens.«

Luise wurde rot. »Danke, dem Arm geht's ganz gut und die Frisur war reine Notwehr. So wirklich daran gewöhnt habe ich mich aber noch nicht.« Sie zupfte verlegen an ihrem Pony.

»Nein, wirklich, sieht gut aus. Du siehst aus wie ein Lausbub. So jung und frech. Hauptsache, du fällst nicht wieder von einem Baum.« Nina zwinkerte verschmitzt, was Luise nur noch mehr zum Erröten brachte.

»Wenn du meinst. Aber auf einen Baum komme ich mit dem Arm momentan wohl eher nicht. Magst du was trinken? Ich habe Limonade gemacht.« Unauffällig versuchte Luise, Nina zu betrachten.

Diese trug knielange Jeans und ein ausgeblichenes T-Shirt. Ihre Füße steckten in ausgetretenen Turnschuhen. Über ihrer Schulter baumelte eine Leinentasche. Niemals hätte Luise vermutet, dass sie Ärztin wäre.

Als Nina Luises taxierenden Blick bemerkte, wurde sie verlegen. »Ich weiß schon, nicht gerade Haute Couture. Aber für den Baum reicht's.«

»Nein, nein. So war das nicht gemeint. Ich habe nur . . .«, haspelte Luise aufgeregt und blieb schließlich stecken.

». . . den Wert der Arbeitskraft eingeschätzt?«, schmunzelte Nina.

»Ja, ich meine nein, . . . ähm, magst du ein Glas Limonade?«, wand sich Luise.

»Später gern. Vielleicht fangen wir einfach mit dem Pflücken an? Dann schaffe ich sicher auch noch meinen letzten Zug.«

Froh, der peinlichen Situation entronnen zu sein, führte Luise Nina in den Garten.

»Wow, du hast ja schon alles vorbereitet. Selbst die Leiter steht schon. Wie hast du das bloß geschafft mit deinem Arm und den angebrochenen Rippen?«, wunderte sich Nina verblüfft.

»Och, wenn man will, geht alles«, gab Luise zurück. Dass es ihr anschließend sehr schlecht gegangen war, weil sie definitiv an ihre Grenzen gestoßen war, verschwieg sie wohlweislich. Ein Indianer kannte schließlich keinen Schmerz.

»Na, dann wollen wir mal.« Flink wie ein Eichhörnchen stieg Nina auf die Leiter und begann zu pflücken. Ein Weile war nur das dumpfe Ploppen der Kirschen zu hören, wenn sie auf den Eimerboden fielen.

Schließlich rief Luise: »Du kannst ruhig ein paar essen. Die schmecken wirklich gut.«

»Ja, die sehen auch toll aus«, tönte es von oben herab. »Aber wenn ich erst damit anfange, kommt keine mehr in den Eimer.«

»Kommt mir bekannt vor«, grinste Luise.

Wieder pflückte Nina eifrig.

»Wie hat es dich eigentlich in unser Kaff verschlagen?«, wollte Luise nach einer Weile wissen.

»Naja, Kaff ist übertrieben. Ich finde es eigentlich ganz nett hier. Ehrlich gesagt, war es eine rein finanzielle Sache. Man hat hier eine Vertretung gesucht und mit einem ordentlichen Batzen Geld gelockt. Da bin ich der Versuchung erlegen. Außerdem musste ich mal raus aus dem Klinikalltag. Ich glaube, ich bin viel zu neugierig auf das Leben, um jetzt schon in der Alltagsroutine zu versinken. Und du, warum bist du hier weg? Ist doch idyllisch, und Kinder gibt’s jede Menge.«

Luise, die die Leiter hielt, verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, ehe sie zögernd antwortete: »Ach, da kam viel zusammen. Pubertäres Aufbegehren gegen die dörfliche Langeweile, Stress mit meinen Eltern. Sie wollten, dass ich irgendwann das Haus übernehme, ich wollte das nicht. Am Ende habe ich meinen Kopf durchgesetzt und bin gegangen.« Bei dem Gedanken daran legte sich ein Schatten über Luises Gesicht. »Aber das ist Ewigkeiten her. Inzwischen vertragen wir uns gut, so auf die Distanz. Sie wollen zwar immer noch, dass ich das Haus mal übernehme, aber wer würde schon mit mir hierherziehen?«

Der letzte Satz war Luise einfach so herausgerutscht. So hatte sie auch nicht verhindern können, dass er merkwürdig sehnsüchtig klang.

»Also hält dich die Liebe in der Stadt«, hakte Nina nach. Neugierig hielt sie im Pflücken inne und schaute Luise eindringlich aus luftiger Höhe an.

Die hatte das Gefühl, in Ninas Augen, die wie dunkle Seen schimmerten, zu ertrinken. Heftig schnappte sie nach Luft. »Nein, nicht mehr. Das ist schon eine Weile vorbei.«

Mit einem Mal hatte Luise die Nase voll von der Heimlichtuerei, dem Versteckspiel, dem sich vorsichtig Herantasten. Plötzlich war es ihr egal, was Nina von ihr dachte.

Oder nein, es war ihr nicht egal. Vielmehr wollte sie sofort wissen, was sie von ihr dachte und woran sie bei ihr war.

Luise holte tief Luft und sprudelte hervor: »Meine Freundin und ich haben uns vor knapp zwei Jahren getrennt. Ich will irgendwann Kinder, sie findet, dass – Zitat – ›die kleinen Rotznasen ziemlich eklig‹ sind. Sie wollte unbedingt für ein Jahr ins Ausland, für mich kam das nicht infrage, da ich gerade eine Weiterbildung begonnen hatte. Es hat einfach nicht gepasst mit uns beiden.«

Nina nickte verstehend. »Kenn ich. Meiner letzten Freundin habe ich zu viel gearbeitet und zu wenig Party gemacht. Sie hat immer gemeint, dass man mit Anfang dreißig entweder das Leben genießen oder Karriere machen kann. Ich fand, es geht beides. Jetzt genießt sie allein oder mit wem auch immer.«

Ohne Luises Reaktion abzuwarten, wandte sich Nina scheinbar ungerührt wieder den Kirschen zu. Nur daran, dass sie noch emsiger pflückte als zuvor, konnte Luise erkennen, dass ihr Geständnis sie aufgewühlt hatte.

Das ging ja leicht, dachte sie. Sie schüttelte versonnen den Kopf, während sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht zeigte. Mit einem Mal fühlte sie sich wirklich erleichtert, so als könnte nun nichts Schlimmes mehr geschehen. Vergnügt begann sie vor sich hin zu trällern, ohne dass ihr wirklich bewusst war, was sie da sang.

Erst als Ninas heller Sopran vom Baum herunterschallte, stimmte Luise lauthals ein und schon sangen sie vergnügt: »Zwei mal drei macht vier – widdewiddewitt und drei macht neune! Ich mach’ mir die Welt – widdewidde wie sie mir gefällt. Hey – Pippi Langstrumpf hollahi-hollaho-holla-hopsasa. Hey – Pippi Langstrumpf – die macht, was ihr gefällt. Ich hab’ ein Haus, ein kunterbuntes Haus, ein Äffchen und ein Pferd, die schauen dort zum Fenster raus. Ich hab’ ein Haus, ein Äffchen und ein Pferd, und jeder, der uns mag, kriegt unser Einmaleins gelehrt.«

Kaum waren die letzten Töne verklungen, mussten beide Frauen prusten vor Lachen. Ninas helles Gelächter schwebte leicht und glockenklar, während Luises dunkleres Glucksen kraftvoll vom Boden her klang.

Noch immer kichernd kletterte Nina schließlich mit dem Eimer vom Baum herab und stellte ihn Luise vor die Füße. »So. Das wäre der erste. Jetzt hätte ich nichts gegen eine Limonade.«

»Kommt sofort!« Eilig strebte Luise in die Küche, packte zwei Gläser in einen Korb, nahm den Krug mit frischer Limonade aus dem Kühlschrank und legte noch eine Dose Kekse hinzu.

Beides trug sie zu einer schattigen Ecke im Garten, wo unter einem großen Sonnenschirm ein kleiner Holztisch und zwei bequeme Stühle auf die beiden Frauen warteten.

Als Nina sah, wie sich Luise abschleppte, beeilte sie sich, ihr den Korb abzunehmen. Kurz darauf saßen sie einträchtig nebeneinander, schlürften die grün schimmernde Limonade.

»Mh, lecker. Sieht zwar ein bisschen giftig aus, schmeckt aber toll. Was ist das?«, fragte Nina, nachdem sie durstig ihr Glas geleert hatte.

»Das ist ein Grashüpfer. Die Pfefferminzblätter sind aus dem Garten, der Honig von Nachbars Bienen, nur die Limetten sind gekauft.« Luise schob Nina die Dose mit den Keksen hin. »Und das sind Himbeerkekse mit selbstgepflückten Himbeeren. Das war mein morgendliches Programm, bevor ich Fallobst gespielt habe.«