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Dieter Schneider

Double

Ein Werder-Roman

VERLAG DIE WERKSTATT

Copyright © 2011 Verlag Die Werkstatt GmbH

ISBN 978-3-89533-831-1

Inhalt

Vorwort

Anfang 2003: Hannes Grün und seine große Liebe

3. Mai 2003: Anna Petersons traurige Augen

22. März bis 3. Mai 2003: Unzuverlässige Statistik und unberechenbares Toilettenfenster

3. Mai 2003: Simons erstes Spiel

30. Juli 2003: Kindergeburtstag mit Papageien-Outfit und Entfesselungskünstler

1. bis 8. August 2003: Einladung angenommen

9. August 2003: Zu dritt beim Spiel und erhöhte Temperatur

10. bis 17. August 2003: Kleine Hagelwolken, Reptilien und ein Traumpass

18. bis 23. August 2003: Jonglieren, Alligatoren und Wiedergeburt

24. bis 31. August 2003: Beinahe ein Leben ohne Fußball

1. bis 13. September: Nebenwirkungen, Hilfe für Anna und das Eigentor des Jahres

14. bis 20. September 2003: Outfitstrategie, Simon kommt heim, eine Serie geht zu Ende

20. bis 27. September 2003: Haarige Angelegenheiten & Ivans Durchbruch

28. September bis 5. Oktober 2003: Gespielte und spielerische Tore

6. bis 18. Oktober 2003: Der Schock

19. bis 25. Oktober 2003: Kopfsachen

28. Oktober bis 1. November 2003: Englische Woche mit Jack und Diane

2. bis 8. November 2003: Ein Kantersieg für Anna

11. bis 22. November 2003: Marco-Bode-Tage und ein Dreierpack

23. bis 29. November 2003: Zwei Rückschläge und böse Erinnerungen

1. bis 6. Dezember 2003: Sandy wird lebendig, ein entlassener Trainer und eine neue Rolle

7. bis 16. Dezember 2003: Abseins, ein einarmiger Bär und Leberkusen

14. bis 16. Dezember 2003: Von einem echten Kunstwerk und einem Weihnachtsmeister

Winterpause 2003/04 226

25. bis 31. Januar 2004: Double-Begriff und Genugtuung über ein falsches Bauchgefühl

2. bis 7. Februar 2004: Vom gelobten Land & anonymen Botschaften

8. bis 15. Februar 2004: Dreimal ist Bremer Recht!

16. bis 21. Februar 2004: Beziehungen zum Fußballgott und die Vier-Phasen-Minidusche

23. bis 28. Februar 2004: Langer Jammer, zwei Gläser Wasser und zwei Tore

29. Februar bis 7. März 2004: Einsamkeit, verschmähte Weißwürste & eine Spontanaktion

8. bis 14. März 2004: Ein Tag, 1440 Minuten, 15 Spiele

15. bis 21. März 2004: Über Lübeck nach Berlin, 11 Punkte und ein unerwartetes Treffen

22. bis 28. März 2004: Die Gitarre und ein Spiel, von dem ganz Deutschland sprach

29. März bis 4. April 2004: Drei Griffe, ein Live-Auftritt und die Angst vor dem Traum

5. bis 10. April 2004: Verschwörungstheorie, Back to the Roots & Ansichten eines Indianers

12. bis 18. April 2004: Von Bullen, besprühten Garagen und den Enkeln des Gästetorwarts

19. bis 25. April 2004: Abschied von Onkel Hicki, Duschfest und ein verlorenes Fernduell

26. April bis 1. Mai 2004: Von Klobrillen, geplatzten Knoten und Viktor Skripnik

1. bis 8. Mai 2004: Hoeneß’ vergebliches Aufbäumen und ein Spiel für die Ewigkeit

9. bis 16. Mai 2004: Die Schale kommt nach Bremen

17. bis 29. Mai 2004: Der Pokal kommt nach Bremen

Epilog: Von schlechter Logistik und einer defekten Muffe

Anmerkung des Autors

Dieter Schneider

Für alle, die um das Glück keinen großen Bogen machen und dort glücklich sind, wo die Weser einen großen Bogen macht

„Es ist einfacher, Tore zu schießen, als den deutschen Führerschein zu machen.“

(Ailton)

„Dem Fußballer geht es ähnlich wie dem Autor: Was mühelos aussieht, ist die Ernte harter Arbeit. Die Kunst besteht darin, dass man die Anstrengung nicht erkennt.“

(Johan Micoud)

„Eine Niederlage schmeckt viel bitterer, als der schönste Sieg süß schmecken kann!“

(Hannes Grün)

Vorwort

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Es gibt Tage im Leben, die vergisst man nie. Auch im Leben eines Profifußballers. Einer dieser Tage war der 30. Juli 2003 und obwohl ich ihn gerne aus meinem Gedächtnis streichen würde, ist er noch heute präsent. An diesem Tag gastierten wir in der vorletzten Runde des UI-Cups im österreichischen Pasching, bei einer Mannschaft, die – verglichen mit dem deutschen Fußball – maximal Drittliganiveau hatte. Der Weg ins Finale des UI-Cups und damit die Qualifikation für den UEFA-Cup schien nur noch Formsache zu sein. Doch es kam anders. Wir gingen mit 0:4 unter und jedem war klar, dass uns im Rückspiel nur noch ein Wunder helfen würde. Aber Wunder – auch die von der Weser – sind leider nicht planbar. Im Rückspiel kamen wir nicht über ein 1:1 hinaus.

Danach herrschte zunächst eine unglaubliche Tristesse im Team und bei den Fans. Was in den Fans vorgegangen sein muss, schildert Dieter Schneider in seinem Roman derart emotional, dass man das Gefühl hat, das Spiel und die damit verbundene Enttäuschung noch einmal am eigenen Leib zu erleben – eine ganz neue Perspektive für mich als ehemaligen Spieler.

Vielleicht war ausgerechnet dieses Spiel die Initialzündung für eine Saison, die als die erfolgreichste, bewegendste und vielleicht emotionalste in der Geschichte von Werder Bremen eingegangen ist. Denn die Mannschaft rückte zusammen, gewann das erste Bundesligaspiel in Berlin souverän mit 3:0 und ließ viele unvergessliche Partien folgen. Spontan fallen mir die Spiele in München, wo wir mit einem 3:1-Sieg die Meisterschaft perfekt gemacht hatten, und das erfolgreiche Pokalfinale ein. Aber während ich „Double“ las, waren plötzlich auch wieder Momente präsent, die in meiner Erinnerung in all den Jahren beinahe ein wenig verblasst waren: Das Spiel in Gladbach, als wir mit 10 Spielern ein 0:1 in einen 2:1-Sieg umwandelten. Oder das Auf und Ab beim Auswärtsspiel in Stuttgart, das schließlich 4:4 endete. Der Krimi in Fürth, im Viertelfinale des DFB-Pokals, als es in der 90. Minute 1:2 hieß und nach Micouds Ausgleich allen Spielern, und sicher auch den Fans, ein Stein vom Herzen fiel, als wir uns doch noch in die Verlängerung retten konnten. Aber es sollte nicht zur Verlängerung kommen, denn Ivan Klasniimage erzielte unmittelbar danach sogar noch den 3:2-Siegtreffer in der regulären Spielzeit. Niemand konnte uns auf dem Weg zum Double stoppen. Dieter Schneider begleitet den Leser auf diesem Weg, in einer Achterbahn der Emotionen. Das Schöne daran ist, dass Schneider diesen Weg nicht nur aus der Sicht von Hannes, dem erfahrenen Fan schildert, für den Werder immer schon an erster Stelle in seinem Leben gestanden hat. Er reflektiert die Saison auch aus den Augen des kleinen Simon, der von Hannes zum ersten Mal mit ins Weser-Stadion genommen und an diesem Tag vom grün-weißen Virus infiziert wird.

Doch das Buch ist mehr als ein sehr emotionaler Fußball-Roman. Als Vater zweier Kinder weiß ich, dass es das schönste Geschenk ist, wenn diese gesund sind. Wenn dieses Geschenk von heute auf morgen nicht mehr existiert und man um das Leben eines Kindes bangt, wird alles zur Nebensache. Dieter Schneiders Schilderungen von Simons Krankheit und der damit verbundenen Ratlosigkeit seiner Mutter Anna sind sehr bewegend. Gleiches gilt für Hannes’ Umgang mit der Krankheit seines kleinen Freundes. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass Hannes, trotz seiner 30 Jahre, erst durch diese Erlebnisse richtig erwachsen wird. Mir wurde durch den Roman aber auch einmal mehr vor Augen geführt, welche Verantwortung ich als Profifußballer von Werder Bremen hatte. Natürlich war da die Verantwortung gegenüber Werder, meinem Arbeitgeber. Aber unsere Mannschaft hatte auch eine Verantwortung gegenüber der Stadt Bremen, die durch unsere Erfolge einen richtigen Schub bekommen hat. Und schließlich ist da die Verantwortung gegenüber den vielen Fans. Und dann gibt es Fans, denen gegenüber wir – ohne dass dies einem Spieler zu jeder Zeit bewusst ist – ein ganz besonders hohes Maß an Verantwortung haben. Simon ist einer dieser Fans. Wir konnten mit unserem Beruf eine ganze Region, aber auch Einzelschicksale positiv beeinflussen.

Der Zufall will es, dass ich vor einer Woche im Rahmen eines Benefizspiels einige Weggefährten des Double-Kaders getroffen habe. Es war schön, mit ihnen über die Saison 2003/2004 zu sprechen und es war ebenso klasse, mit anzusehen, dass Johan Micoud noch immer ein begnadeter Fußballer ist und es nach wie vor Spaß macht, mit ihm zu spielen. Das Thema Pasching habe ich allerdings nicht angeschnitten. Womit ich wieder beim 30. Juli wäre. Man sagt ja, Geschichte wiederholt sich manchmal. Am 30. Juli 2011 musste die Werder-Mannschaft wieder eine Schmach erleben – sie schied in der ersten Runde des DFB-Pokals mit einer glanzlosen Vorstellung in Heidenheim aus. Einem Drittligisten. Natürlich kann man das Double nicht mehr gewinnen. Aber der Start in die Bundesligasaison 2011/2012 war so schlecht nicht. Wenn sich in der Liga die Geschichte tatsächlich wiederholen würde, hätte ich nichts dagegen. Simon und Hannes sicherlich auch nicht.

Ich hoffe, Sie haben ebenso viel Freude beim Lesen dieses Buchs und werden von genauso vielen Emotionen gepackt wie ich!

Ihr

Frank Baumann

Bremen, September 2011

Frank Baumann war Mannschafts-Kapitän der Double-Mannschaft und ist Ehrenspielführer von Werder Bremen.

Anfang 2003: Hannes Grün und seine große Liebe

In den letzten fünf Jahren hatte Hannes Grün in drei verschiedenen Städten gewohnt. Er hatte acht neue Jobs angetreten und sich unzählige Male eine andere Frisur zugelegt. Beinahe ebenso oft hatte er Termine mit Psychologen vereinbart, von denen er bis auf einen alle anderen hatte platzen lassen. Wahrscheinlich charakterisierten derartige Fünfjahresstudien normalerweise die Lebensabschnitte von Schläfern fundamentalistischer Organisationen oder Auftragsmördern. Doch Hannes’ polizeiliches Führungszeugnis war unbescholten wie die Jungfrau Maria. Er hatte ebenso wenig Erfahrung mit kriminellen Delikten wie ein fünfzigjähriger Schalke-Fan mit dem Gewinn einer Bundesliga-Meisterschaft. Im Alter von 18 Jahren hatte er ein Eins-Komma-Abitur geschrieben und anschließend ein Wirtschaftsstudium mit Prädikatsexamen abgeschlossen.

Hannes hatte ein anderes Problem: Er vertrug keine Frauen.

Dabei war es nicht so, dass er allergisch auf sie reagierte. So konnte er sich also durchaus in ihrer Nähe aufhalten, solange sie ihn in Ruhe ließen. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, mit ihnen zu reden, zu scherzen oder ihnen zu schmeicheln. Denn so strich er schließlich Provisionen in einer Dimension ein, durch die seine drei Komplettumzüge ohne jegliche Verluste finanziert worden waren. Wer konnte so etwas schon von sich behaupten? Aber wenn es darum ging, mit Frauen das einzugehen, was der Duden eine Beziehung nannte, musste Hannes sie ins Abseits laufen lassen. So steckte Hannes in Bezug auf das schwache Geschlecht in einem Dilemma: Ohne die Frauen hätte er nie umziehen, sich keinen neuen Job suchen müssen und seine Haarfarbe sich selbst überlassen können. Doch es waren gerade die Frauen, welche für die stattlichen Überweisungen seiner jeweiligen Arbeitgeber verantwortlich waren, weil sie gewöhnlich in den Verkaufsgesprächen schwach wurden. Das Dumme war nur, dass sie auch gerne in anderen Situationen schwach geworden wären.

Zwei Dinge müssen an dieser Stelle noch erwähnt werden.

Hannes hatte einen Doppelgänger. Der Mann war fünf Jahre älter als er und sah ihm trotzdem zum Verwechseln ähnlich. Er hätte sein Zwillingsbruder sein können, so viel war Hannes mittlerweile klar. Hannes hatte ihn noch nie getroffen; er hatte, offen gestanden, lange nichts von der Existenz seines Doubles gewusst. Das Problem war nur, dass der Doppelgänger nicht Max Schmidt hieß, ein stattliches Doppelkinn hatte und an der Wursttheke im Supermarkt an der Ecke Hackfleisch eintütete. Hannes Grüns vermeintlicher Zwillingsbruder hieß James Duncan, war ein weltbekannter Hollywoodschauspieler und brachte Frauen reihenweise zum Dahinschmelzen. Keine schlechten Voraussetzungen, wenn es darum ging, in der Marketing- und Verkaufsbranche mit Charme und Einfühlungsvermögen lukrative Aufträge an Land zu ziehen. Und dies mit einer Aura, die half, je nach Bedarf einen rastlosen, gute Taten vollbringenden Einzelgänger, einen mit Armbrust ausgestatteten Zeitreisenden oder den Jäger eines Massenmörders zu verkörpern. Die schlechtesten aller denkbaren Voraussetzungen jedoch, wenn man Frauen nicht vertrug. Deshalb bewegte sich Hannes in der Öffentlichkeit normalerweise gut getarnt. Er trug Baseballkappen, Schals oder Brillen, um nicht sofort als James Duncan erkannt zu werden.

Die zweite Sache, die hier erwähnt werden muss: In Hannes’ Herz floss grün-weißes Blut. Auf seiner rechten Arschbacke war das Wort Meister und die Zahl 1988 tätowiert, wovon seine Eltern bis heute nichts wussten. Er hatte eine kleine Narbe am Kinn. Sie war Überbleibsel eines Splitters, den er aus seinem Unterkiefer gezogen hatte. Der Splitter hatte den Weg in sein Kinn gefunden, weil er sich aus der Glastür eines Schranks gelöst hatte. Hannes hatte die Tür nach einer, auf eine Radioreportage folgenden, endlos erscheinenden Phase der Leere und Apathie mit gut drei Metern Anlauf eingetreten. Die Apathie und Leere hatte sich in Hannes’ Körper ausgebreitet, als Michael Kutzop am Abend des 22. Aprils des Jahres 1986 einen Elfmeter wider seiner sonstigen Gewohnheit nicht ins Tor, sondern an dessen rechten Pfosten geschossen hatte. Wer sich noch immer keinen Reim auf jene zweite noch erwähnenswerte Sache im Leben des Hannes Grün machen kann: Hannes war Werder-Bremen-Fan. Einer der größten, die es jemals gegeben hatte. Werder war Hannes’ große Liebe und würde es immer bleiben.

Doch er war in all den Jahren vorsichtig geworden. Nicht weil er Angst vor Anfeindungen oder Sticheleien hatte oder glaubte, bei Diskussionen mit Fans von anderen Mannschaften den Kürzeren zu ziehen. Hannes fand auf alles eine Antwort. Er war ein wandelndes Werder-Lexikon und der König des Argumentierens. Er redete deshalb nicht gern über sein grün-weißes Herz, weil er es mit niemandem teilen wollte. Es gehörte ihm und wahrscheinlich hatte er deshalb seine Frauen-Abseitsfalle im Lauf der Zeit geradezu perfektioniert. Möglicherweise war für Frauen einfach kein Platz mehr in seinem Herzen.

3. Mai 2003: Anna Petersons traurige Augen

Er kam gerade aus der Dusche, als es an seiner Tür läutete.

Hannes zog seinen Bademantel an, riss die Wohnungstür auf und – stand vor einer Frau, die er noch nie gesehen hatte!

„Oh!“, flüsterte sie.

Sie sah traurig aus.

Hannes konnte nicht antworten. Er spürte nur das Pochen in seinem Hintern.

„Jetzt wollte ich gerade gehen. Herr Grün?“

„Ja, genau! Wer …?“

Sie räusperte sich.

„Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll. Glauben Sie mir, ich hätte nicht bei Ihnen geläutet, wenn ich eine andere Möglichkeit hätte.“ Sie knetete ihre Hände und schaute ihn an. Hannes sah, dass sie grüne Augen hatte. Wie Werder. Und er sah auch, dass sie in ihm kein James-Duncan-Double sah. Wahrscheinlich lag das daran, dass er gerade erst aus der Dusche gekommen war. Oder daran, dass es ihr nicht gut ging. Dann reichte sie ihm die Hand.

Ohne zu überlegen, erwiderte Hannes ihren Händeruck, der angenehm fest war.

„Ich bin Ihre neue Nachbarin, seit zehn Tagen. Ich wohne direkt gegenüber!“

Hannes nickte. Er wusste immer noch nicht, was sie wollte. Er schaute nach unten und sah, dass er den Flur nass machte.

„Oh, es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass hier alles nass wird!“

Ich auch nicht, dachte Hannes.

„Ich bin hier, um Sie zu bitten, mir einen Gefallen zu tun, Herr Grün.“

„Hannes, ich heiße Hannes!“

„Hannes“, wiederholte sie und betrachtete die Pfütze, „ich bin Anna!“

„Um was geht es denn?“, fragte Hannes, der langsam zu frieren begann, ungeduldig.

Erst jetzt sah er, wie traurig ihre Augen wirklich waren.

„Könnten Sie bitte auf meinen Sohn Simon aufpassen?“

Hannes glaubte sich verhört zu haben.

„Aufpassen, auf Ihren Sohn? Wie meinen Sie das?“

Sie schluckte.

„Ich bin allein mit ihm. Heute Nacht ist mein Vater gestorben und ich muss mich um die Formalitäten kümmern. Am Nachmittag muss ich arbeiten, am Flughafen. Normalerweise hat er immer auf Simon aufgepasst, wissen Sie. Heute am Samstag ist keine Schule. Mein Vater ist ganz plötzlich gestorben und Simon hängt so an ihm. Ich konnte es ihm nicht sagen, dass sein Opa gestorben ist. Ich weiß einfach nicht, wohin mit ihm. Da dachte ich …!“

Ihr Kinn vibrierte, sie war kurz davor zu weinen. Meinte sie das ernst? Sie kannte ihn doch gar nicht. Oder war sie so verzweifelt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Simon? Er sollte auf ihren Sohn aufpassen. Wie hatte sie sich das vorgestellt. Heute spielte Werder gegen Hertha. Er wollte das Spiel sehen.

„Das tut mir wirklich sehr leid mit Ihrem Vater, aber ich weiß nicht. Um ehrlich zu sein, hatte ich heute schon was geplant, wissen Sie. Und Ihr Sohn, er kennt mich doch gar nicht. Ich habe keinerlei Erfahrung mit Kindern!“

Es war ein einziger Rechtfertigungsversuch. Eine Ausrede, weil er zu Werder wollte. Warum war sie gerade in diese Wohnung gezogen?

„Ehrlich gesagt, dachte ich mir schon, dass Sie so reagieren, wissen Sie. Wahrscheinlich würde jeder so reagieren. Sie denken bestimmt, ich bin verrückt oder hysterisch. Es ist nur, Simon findet Sie wirklich toll, wissen Sie, und da dachte ich mir, es ist einen Versuch wert. Vielleicht hätten Sie sich mit ihm ja einigermaßen verstanden.“ Sie atmete tief durch. „Na ja, dann muss ich sehen, was ich mache. Trotzdem vielen Dank, Hannes!“ Sie drehte sich um und ging. Er spürte, dass sie jetzt weinte, es gelang ihr jedoch, es vor ihm zu verbergen. Hannes wusste, dass er noch ein paar Sekunden stark sein musste, dann würde der Tag ihm und Werder gehören. Als er die Türe fast schon zugezogen hatte, rief er:

„Warum?“

Anna drehte sich um und kam ihm wieder einen Schritt entgegen. Er sah die Tränen in ihren Augen.

„Warum was?“

„Warum findet er mich toll, Ihr Sohn?“

„Er hat Sie schon ein paar Mal gesehen, als er von der Schule nach Hause kam. Er sagt, Sie sehen aus wie Eugene der Zeitreisende!“

Hannes musste lachen. Jetzt erkannten ihn sogar schon Kinder, wenn es deren Mütter nicht taten. Eugene der Zeitreisende war der erste Film, in dem James Duncan eine Hauptrolle spielte.

„Wissen Sie, ich habe wirklich keine Erfahrung mit Kindern und so!“ Er dachte darüber nach, wie gerne er am Nachmittag mit Werder allein sein wollte. Daraus würde jetzt nichts werden, er musste wohl noch jemanden mitnehmen.

„Hat Simon schon einmal ein Fußballspiel gesehen? Werder?“

Anna schüttelte unmerklich den Kopf.

„Nein. Nein, hat er nicht. Er nervt mich schon ein ganzes Jahr, weil er einmal zu Werder möchte!“

Hannes nickte.

„Gut, dann sagen Sie ihm, er wird heute das erste Mal ins Weser-Stadion gehen!“ Hannes schaute auf den Boden, auf dem sich mittlerweile ein kleiner See gebildet hatte.

„Wie lange habe ich noch Zeit?“

„Eigentlich müsste ich schon im Krankenhaus sein. Sie wollen meinen Vater wegbringen, wissen Sie!“

„Gut. Dann geben Sie mir bitte zehn Minuten. Dann bin ich so weit!“

Anna weinte.

„Danke. Das werde ich Ihnen nie vergessen. Wir klingeln dann bei Ihnen!“

Hannes nickte. Er zog die Tür hinter sich zu und dachte an sein eigenes erstes Werder-Spiel.

Eine Viertelstunde später läutete sie wieder. Hannes öffnete die Tür und sah, wie sich Anna zu ihrem Sohn nach unten bückte und ihm irgendetwas sagte. Er konnte nur noch „sei schön brav“ verstehen. Dann stand sie auf und schaute Hannes ernst an.

„Sie wissen ja gar nicht, was Sie da für mich tun!“

Hannes nickte.

„Hallo! Du bist bestimmt Simon, richtig?“

Der Junge schaute zu ihm nach oben, hob die Augenbrauen und lächelte.

„Ja, das stimmt!“

Hannes streckte ihm die Hand entgegen.

„Ich bin Hannes!“

Simon nickte und schaute seine Mutter an.

„Ich fürchte, ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für alles. Ich habe ihm Geld in den Rucksack gesteckt und da ist auch ein Zettel mit meiner Handynummer. Also, wenn irgendetwas sein sollte, Sie können mich jederzeit anrufen!“

„Gut, das mache ich. Aber ich denke, es wird nicht so weit kommen! Wir kriegen das schon hin, stimmt’s Simon?“

Anna nahm ihren Sohn, hob ihn in die Höhe und drückte ihn an sich, so als befürchtete sie, ihn nie mehr wiederzusehen.

„Ich passe auf, Mama!“, flüsterte Simon.

„Ja, das weiß ich, Du bist ein großer Junge!“

Dann stellte sie ihn wieder auf den Boden, drehte sich um, versuchte vergeblich zu lächeln und ging.

22. März bis 3. Mai 2003: Unzuverlässige Statistik und unberechenbares Toilettenfenster

Es sei an dieser Stelle ein weiteres Mal erwähnt, dass Hannes sich wegen seiner Ähnlichkeit mit James Duncan in der Öffentlichkeit normalerweise gut tarnte. Doch manchmal konnte er sich nicht tarnen. Dann, wenn er gezwungen war, längere Zeit mit Unbekannten in einem Raum zu sein, dem Wartezimmer einer Arztpraxis beispielsweise. Oder wenn er an seinem Arbeitsplatz mit Kollegen zusammen war.

Genau das war Hannes in diesem Moment wieder einmal zum Verhängnis geworden.

Er hatte lange dagegen angekämpft, war ihr immer wieder ausgewichen. Er hatte den Unwissenden, Naiven, Zerstreuten gemimt, auf Zeit gespielt, andere Termine ins Spiel gebracht, sogar eine ansteckende Krankheit vorgegaukelt. Aber sie wollte partout nicht aufgeben, war ausdauernd, mit einer ausgeklügelten Taktik ausgestattet und schien nie den Glauben an ihr Vorhaben zu verlieren. Sie hieß Silke und kam Hannes vor wie ein Team aus den Niederungen der Tabelle, das durch bedingungslosen Willen und Einsatz am Ende Jahr für Jahr den Kopf aus der Schlinge zog und den Klassenerhalt schaffte. Was für den Vfl Bochum der Klassenerhalt war, bedeutete für sie ein Date mit James Duncan.

Als ihm seine Kollegin erzählte, sie sei aus Hannover nach Bremen gezogen, ignorierte er allerdings seine Prinzipien. Sein Werder-Wissen förderte sofort eine ungeheuer kostbare Information zutage, die ihn bei konsequenter Vorgehensweise damit segnen konnte, sich dem Klammergriff dieser Frau zu entziehen.

„Werder spielt am Wochenende gegen Hannover!“, hatte er eher beiläufig formuliert und dabei so getan, als würde er wichtige Daten in seinem Laptop abrufen. Ohne hinzusehen hatte er sofort gespürt, dass sie ihren Kopf zu ihm gedreht hatte.

„Das weiß ich und ich werde im Stadion sein. Ich bin ein ganz eingefleischter 96-Fan!“

Besser hätte es nicht laufen können.

Der Fußballgott hatte also die Karten gemischt und ihm ein todsicheres Blatt gegeben. Die Fakten besagten nichts anderes, als dass in den bisherigen Heimbegegnungen der zwölf gemeinsamen Bundesligajahre mit 96 für Werder drei Unentschieden und neun Siege zu Buche standen. Niederlagen? Fehlanzeige! Hannover war ein Aufsteiger, das Hinspiel hatte 4:4 geendet, wobei Werder nach 67 Minuten durch ein Tor von Joe-le-chef-Micoud zum 4:2 bereits wie der sichere Sieger ausgesehen hatte. Nur durch eigene Nachlässigkeit und einen Doppelschlag von Bobiimage binnen drei Minuten hatte man sich kurz vor Schluss doch noch die Butter vom Brot nehmen lassen. Aber dieses Remis war wohl Ansporn genug, um die Sache jetzt wieder geradezurücken. Das und die Heimbilanz von neun Siegen, drei Unentschieden und null Niederlagen.

„Gut, dann meinetwegen, wir gehen zusammen etwas essen. Aber nur unter einer Bedingung: Hannover muss Werder schlagen, abgemacht?“

Sie hatte keine Antwort gegeben. Da waren nur ein kurzes Nicken und dieses Lächeln. Ein Lächeln, das nur Sieger zustande brachten. Doch was verstanden Frauen schon von Fußball? Hannes kannte sein Team und wusste, Werder würde einen Teufel tun, um sich gegen den „kleinen HSV“ eine Blöße zu geben.

Alles hatte perfekt begonnen, planmäßig, schnörkellos, gemäß den Erwartungen. In der dritten Minute hatte Frank Verlaat einen Pass auf Ailton gespielt. Wie das Messer durch die Butter war der Ball durch die sogenannte 96-Abwehr geflutscht und wäre Toni nur einen Schritt schneller gewesen, die Kugel wäre nicht in den Händen des 96-Keepers gelandet, sondern hätte stattdessen im Netz des Gästetores gezappelt. Die Schaaf-Truppe legte los wie ein verschreibungspflichtiges Medikament gegen die Frauenunverträglichkeit des Hannes G. Der Ball landete auf dem Tornetz (Verlaat nach Ailton Eckball), kullerte um Millimeter am 96-Tor vorbei (nach dem eher unfreiwilligem Heber von Mladen Krstajic). Dann narrte Angelos Harry Charisteas seinen Gegenspieler an der Mittellinie und schickte den Kugelblitz auf die Reise. Toni ging ab wie die Feuerwehr und schob den Ball eiskalt am aus dem Tor herausstürzenden 96-Keeper Gerhard Tremmel vorbei ins Netz. Nach zehn Minuten, die einen Zwischenstand von 3:0 gerechtfertigt hätten, lag Werder endlich mit 1:0 in Führung. Und als nicht einmal eine Minute später, nach exakt dem gleichen Spielzug – Harry lässt Gegner ins Leere laufen, passt millimetergenau auf Toni, der guckt den Keeper aus – der Ball nur haarscharf am Kasten der Gäste vorbeieierte, wusste Hannes, dass sein Werder-Instinkt funktioniert hatte und er das Date mit seiner hartnäckigen Arbeitskollegin ebenso stornieren konnte wie Hannover 96 die Aussicht auf drei Punkte. Sie würde ihn nicht mehr belästigen, Wettschulden waren Ehrenschulden.

Wenige Minuten vor der Halbzeit stand plötzlich Bobiimage völlig ungedeckt in Werders Fünfmeterraum. Hannes hatte keine Ahnung, wie so etwas hatte passieren können. Bis dahin hatte sich beinahe das komplette Spiel in der Hälfte der 96er abgespielt. Chancen über Chancen hatten die Grün-Weißen herausgespielt. Es hätte mindestens 5:0 stehen können, nein müssen. Neben den ungeahnten Freiheiten des Freddy B. in Werders Fünfer gesellte sich der unglückliche Zustand, dass ein US-Boy namens Steven Cherundolo just im gleichen Moment eine der wenigen geglückten Flanken seiner bisherigen Karriere genau auf den Schädel von Freddy B. zirkelte. Der ließ sich nicht zweimal bitten und nickte den Ball zum Pausenstand von 1:1 ein. Nach nur einem einzigen Angriff der Hannoveraner war der Spielverlauf völlig auf den Kopf gestellt und Hannes benötigte ein Bier.

Nachdem in der zweiten Halbzeit auf beiden Seiten nicht viel passiert war und Hannes langsam klar wurde, dass er die Frau, die von einem Hannover-Sieg überzeugt war, auch bei einem Remis loswerden würde, fing auch noch der Schiri an, Mist zu bauen. Jeder im Stadion konnte sehen, dass Frank Verlaat in der 56. Minute nach einem fairen Zweikampf den Ball vor seinem Gegenspieler aus dem Strafraum beförderte. Auch der Schiri ließ zunächst weiterlaufen. Zunächst. Bis er, wie von einem bösen Zauber übermannt, plötzlich in seine Pfeife blies und auf den Elfmeterpunkt zeigte. Das Stadion ereiferte sich in wütenden Protesten. In seiner Panik schickte Hannes ein Stoßgebet an den Fußballgott und wurde erhört: Freddy Bobiimage hämmerte das Leder wie weiland Uli Hoeneß weit über den Kasten des Werder-Gehäuses. Vergessen waren die Hasstiraden auf den Schiri. Das ausverkaufte Stadion brodelte, denn jeder wusste, dass Werder jetzt den Sack zumachen würde. Alles andere als ein klarer Sieg würde nicht den Spielanteilen entsprechen. Aber Hannover bestand jetzt aus zehn Verteidigern plus Torwart. Sie igelten sich ein, machten hinten dicht und warteten auf Konter. Die anderen Zuschauer schauten in immer kürzeren Abständen auf die Uhr, weil ihnen die Zeit davonlief und sie mit einem Heimsieg den Nachhauseweg antreten wollten. Hannes jedoch schaute aus einem anderen Grund auf die Uhr: Er wollte weiter in Freiheit leben. Er wollte, dass ihn die Statistik nicht belog, er wollte Gerechtigkeit. Er konnte auch mit einem Unentschieden mehr als gut leben. Einen Deal, den er als Fan normalerweise niemals unterschrieben hätte, denn 96 war ein Aufsteiger, dem Werder in der ersten Halbzeit eine Lehrstunde verpasst hatte.

Als die letzte Viertelstunde des Spiels angebrochen war, hatte Werder einen Eckball. Doch anstatt auf dem Kopf von einem der groß gewachsenen Werder-Akteure, landete der Ball bei einem 96-Spieler mit einem ziemlich schwierig auszusprechenden Namen serbokroatischen Ursprungs. Da fast alle Grün-Weißen auf den Siegtreffer aus waren, hatte jener Spieler freies Geleit und konnte so ohne große Gegenwehr mit dem Ball am Fuß über das halbe Spielfeld spazieren. Und als er endlich in Werders Strafraum angekommen war, legte er die Kugel auch noch quer auf diesen Freddy Bobiimage. Anders als Hoeneß anno 76 machte er den Lapsus seines Mondelfmeters damit wett, dass er das Runde (ausgestattet mit einer Freiheit, als befände er sich in einem F-Jugendspiel) ungehindert ins Werder-Eckige schob. Hannes stockte der Atem, denn er ahnte, dass ihm der Fußballgott nicht noch einmal aus der Patsche helfen würde. Und er sollte Recht behalten. Werder gab ein Spiel mit 1:2 ab, das man nie und nimmer hätte verlieren dürfen.

Es dauerte nicht lange und eine SMS ging auf seinem Handy ein.

„Darf ich bitten, James!“

Wettschulden sind Ehrenschulden. Nachdem Hannes alles noch gute sechs Wochen hatte hinauszögern können, wurde es dann an einem Freitagabend Anfang Mai schließlich ernst. Er führte Silke, seine Arbeitskollegin aus Hannover, zum Essen aus. Normalerweise hätte er das Ambiente bevorzugt, eines seiner Lieblingslocations in Bremen, was nicht nur daran lag, dass man von der Terrasse des Cafés die Weser sehen und das nach ihr benannte Stadion fühlen konnte. Vor jedem Heimspiel ging er ins Ambiente. Es war wie ein Ritual. Das hatte er übrigens auch schon getan, als er noch nicht in Bremen gewohnt hatte und von weit her den Weg zu einem Bundesligaheimspiel hatte antreten müssen. Es fiel ihm dieses Mal allerdings nicht schwer, auf das schöne Ambiente im gleichnamigen Café zu verzichten. Dazu war morgen noch genug Zeit, bevor Werder gegen Hertha einen Big Point im Kampf um einen UEFA-Cup-Platz setzen musste. Er wollte ausnahmslos positive Erinnerungen mit dem Ambiente verknüpfen, was angesichts seiner Begleiterin und der mit dem Date verbundenen Vorgeschichte nur schwer vorstellbar war.

Er wusste, dass ein Abend der Kategorie „Augen zu und durch“ vor ihm liegen würde. Also waren sie schließlich bei einem Mexikaner in Schwachhausen gelandet, keine zehn Minuten zu Fuß von seiner Wohnung in der Buchenstraße entfernt. Seine Strategie war die: Ignoranz vorgaukeln, ohne viel zu taktieren. Weil er wusste, dass in dem Laden viele Bildschirme hingen, auf denen man Fußballspiele live anschauen konnte und an jenem Freitagabend die Zweitligaspiele übertragen wurden, hoffte er, ihr Interesse zeitnah in Desinteresse zu verwandeln. Als sie gegen 20 Uhr ihrem reservierten Tisch zugewiesen wurden, begann gerade die zweite Halbzeit der 2. Liga-Konferenz mit den Spielen St. Pauli – Wacker Burghausen, Union Berlin – LR Ahlen und SC Freiburg – 1. FC Köln. Es waren nicht gerade Granatenspiele, aber für seinen Plan hätte es keine besseren Begegnungen geben können. Seine Taktik war simpel: Immer wenn sie eine unangenehme Frage stellte, würde er wie versteinert auf den Bildschirm starren und eine emotionale Anspannung vorgaukeln wie während des Elfmeterschießens im DFB-Pokalfinale anno 1999 zu Berlin.

Zunächst wollte sie allerdings erst einmal wissen, weshalb es ihn nach Bremen verschlagen hatte und welchen Dialekt er sprach. Anstatt ihr zu erzählen, dass er vor einer Frau wie ihr geflüchtet war, hatte er ihr erklärt, es hätte sich einfach so ergeben und dass es für ihn im Grunde genommen immer klar gewesen war, über kurz oder lang Bremen als seinen Wohnsitz zu wählen. Damit hatte er wahrheitsgemäß ebenso voll ins Schwarze getroffen wie Freiburgs Iashwili, der soeben das 3:0 erzielt hatte. Die Sache mit seinem Dialekt überhörte er zunächst professionell und sie stellte keine weiteren Fragen dazu. Stattdessen wartete sie darauf, dass er sie auch danach fragte, wieso sie nach Bremen gekommen war, also tat er ihr den Gefallen. Worauf sie einen nicht enden wollenden Redeschwall losließ. Wenn Hannes sich nicht verhört hatte, hatte sie ihm sogar von ihrer Wasserschildkröte erzählt und dass sie einmal Bierdosen gesammelt hatte. Er hoffte, dass das Küchenpersonal bald mit dem Essen fertig war, irgendwie musste man sie schließlich stoppen.

Er drehte seinen Kopf langsam, aber stetig in Richtung des nächsten Großbildschirms und fragte sich, welchen Teams er jeweils die Daumen drückte. Fußball war nur dann etwas wert, wenn man einer Mannschaft den Sieg gönnte. Die erste Partie war selbsterklärend, denn für einen Werder-Fan gab es nur einen Verein aus Hamburg und der kam vom Kiez. Außerdem hatte Ivan Klasniimage mal für St. Pauli gespielt. Für den wurde es auch langsam Zeit, sich in Werders erste Elf zu spielen. Hannes hielt große Stücke auf ihn, auch wenn der junge Kroate im Moment dabei war, einen Kreuzbandriss auszukurieren und deshalb sein Können noch nicht so richtig unter Beweis stellen konnte. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass Ivans Knoten in der neuen Saison platzen könnte. In der zweiten Begegnung drückte er Union Berlin die Daumen, denn die Eisernen wurden von Mirko Votava trainiert, der immerhin etwa 350-mal die Knochen für Werder hingehalten hatte und im Trikot der Grün-Weißen die Meisterschaft, den DFB-Pokal und den Europapokal der Pokalsieger gewonnen hatte. Im dritten Spiel tendierte er gefühlsmäßig zum SCF, obwohl er vor zwei Jahren eine bittere Stunde im Dreisamstadion zu Freiburg miterleben musste: Es war unter der Woche gewesen, ein DFB-Pokalspiel im Oktober 2001. Typische Version der Kategorie „Spiel auf ein Tor“, Ailton und Pizarro hätten 28 Tore machen müssen, die Breisgau-Brasilianer spielten wie Breisgau-Andorraner, aber der Ball wollte einfach nicht über die Torlinie rollen. Und als sich Hannes zusammen mit den anderen 200 Werder-Fans schweren Herzens auf eine Verlängerung eingestellt hatte, traf ein Mensch namens Sellimi in der 90. Minute nach einem Konter (der einzigen Freiburger Chance im gesamten Spiel) zum 1:0-Endstand. Werder war draußen und es war kalt und dunkel. So gesehen gab es eigentlich Grund genug, um den Kölnern die Daumen zu drücken. Aber das einzig sympathische am 1. FC Köln war deren Maskottchen, ein Geißbock namens Hennes. Exakt der Name, den seine kleine Cousine früher für ihn auserkoren hatte, weil sie Hannes noch nicht über die Lippen gebracht hatte.

„Könntest Du Dir vorstellen, dass was zwischen uns läuft?“

Hannes hatte jedes Wort verstanden, und er wusste, dass er sich nicht verhört hatte. „T’schuldige, was hast Du gesagt?“

„Deine Masche hat etwas von Zorro, verstehst Du?“

„Wenn schon, dann Zeitreisender mit Armbrust“, lag Hannes auf der Zunge!

„Zorro?“ Und dann sah Hannes, dass der Regisseur Mirko Votava einblendete.

„Ey, schau mal, kennst Du den Typen dort? Ich wette nicht!“

Sie drehte sich um.

„Wen?“

„Den, im Fernsehen!“

„Den Trainer? Muss ich den kennen?“

„Nee, musst Du nicht, aber jeder, der den kennt, hat bei mir einen Stein im Brett, weißt Du!“

Er zog lässig und schnell den linken Mundwinkel zur Seite. Scheinbar hatte die Meldung gesessen, denn sie blieb stumm. Als er aus seinem Augenwinkel sah, dass das Essen gebracht wurde, hatte er ihre erste Attacke erfolgreich überstanden.

Als Hannes sah, wie sie aß, wusste er, dass er so schnell wie möglich das Weite suchen musste. Er hatte noch nie einen Menschen so essen sehen. Sie hatte sich geschätzte 15 Chickenwings bestellt, dazu Kartoffelecken und diverse Saucen. Was sie mit den Wings anstellte, erinnerte Hannes an die Piranha-Horrorfilme aus seiner Kindheit.

Hannes konnte nichts essen. Verzweifelt starrte er auf den Bildschirm und sah nur den verwaisten Gästeblock von Wacker Burghausen.

Er wünschte sich ein schnelles Ende und sehnte das Golden Goal der ersten Verabredung herbei. Doch dazu musste er handeln und konnte nicht länger den stummen Unbeteiligten spielen. Dafür hielt sie ihn wohl, was wiederum irgendwie ihr Essverhalten zu stimulieren schien. Außerdem entging ihm nicht, dass an den beiden Nachbartischen bereits getuschelt wurde.

„Es tut mir leid“, flüsterte Hannes und legte die Gabel auf seinen Teller, „aber ich muss mir doch noch mal kurz die Hände waschen gehen, bevor ich anfange zu essen!“

„Bleib nicht zu lange weg, Zorro!“, flüsterte sie.

Er schloss die Kabine hinter sich zu. Wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, hätte er den Schlüssel zweimal umgedreht. Viel Zeit blieb ihm nicht, das wusste er. Ob sie Drogen genommen hatte? Niemand, der clean war, war in der Lage, so zu essen. Morgen spielte Werder gegen Hertha. Die Vision beschlich ihn, dass er nicht nur das morgige Spiel verpassen würde, sondern auch sonst nie mehr ein Werder-Spiel würde sehen können. Stattdessen vielleicht Spiele von Hannover 96 oder sogar dieses Münchner Vereins, dessen Name Hannes nicht so gern in den Mund nahm.

Er fragte sich, wie lange er jetzt wohl schon in der Kabine war. Immer, wenn jemand die Türe öffnete, befürchtete er, dass sie vielleicht nach ihm suchte. Er musste weg, raus hier, abhauen. Aber von ihrem Tisch im Restaurant konnte sie die Toilettentüre sehr gut sehen. Sie wartete draußen auf ihn. Sie würde nicht aufgeben. Nein, wenn er sie loswerden wollte, dann musste er schlau sein. Er musste sie auskontern, mit einer Taktik, die in keinem Buch stand. Und dann sah er das offenstehende Fenster. Er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Es war nicht gerade groß, dennoch schien es geeignet, um dadurch ins Freie zu flüchten. Er musste dazu nur auf die Toilettenschüssel steigen. Dann war ein Klimmzug notwendig, um in den Fensterrahmen zu gelangen, als ehemaliger Turner für ihn eine eher einfache Übung. Anschließend galt es, auch wenn es eng werden würde, sich im Stile eines Aals in die Freiheit zu winden. Sein Orientierungssinn war nicht gerade stark ausgeprägt. Er hatte wirklich keine Ahnung, wo er landen würde und wie hoch es jenseits der Kabine nach unten ging. Doch was auch passierte, er würde sich irgendwie hinuntermogeln. Und es gab keine Alternative. Es musste nur schnell gehen.

Er stand auf dem Rand der Toilettenschüssel, als sei er dafür geboren, und sprang etwa dreißig Zentimeter in die Höhe, um nach dem schmalen, gekachelten und daher ziemlich rutschigen Fenstersims zu greifen. Doch er war sportlich genug, um den Rahmen des Fensters gleich beim ersten Versuch zu fassen zu bekommen. Besser hätte es nicht laufen könne, seine Finger griffen schon nach der Freiheit wie die der Schalke-Profis am 19. Mai des Jahres 2001 gegen 17:17 Uhr nach der Meisterschale. Dann zog er sich nach oben. Seine Beine hingen etwa einen halben Meter über der Toilettenschüssel, während er seinen Kopf durch das Fenster streckte. Er begann zu schwitzen, stützte sich auf seine Handflächen und versuchte, sich weiter durch das Fenster zu drücken. Schließlich kam er zu der bitteren Erkenntnis, dass es doch nicht ganz so gut lief. Was für Schalke einst Patrick Andersson war, war für Hannes die Größe des Fensters.

Er steckte fest.

Nach nur wenigen Augenblicken hatte er seine Situation richtig eingeordnet: Er war im Toilettenfenster eines Restaurants gefangen, weil er vor einer Frau flüchten wollte. Sie würde sicher jeden Moment nach ihm suchen. Außerdem war er juristisch gesehen gerade dabei, sich der Zechprellerei schuldig zu machen. Im Übrigen war der Teil seines Körpers, den Hannes bereits durch das Fenster gezwängt hatte, nicht etwa einem Hinterhof zugewandt. Er schaute in etwa einem Meter fünfzig Höhe auf eine Seitenstraße Schwachhausens, in der vermutlich mehr Menschen wohnten als in dem Dorf, in dem Hannes seine Kindheit verbracht hatte. Wenn man eine Kosten-Nutzen-Analyse seiner derzeitigen Lage anstellen wollte, konnte man nicht viel Positives resümieren. Hannes fielen nur zwei Dinge ein: Es war wenigstens schon dunkel und es regnete nicht.

Genau in diesem Moment begann es zu tröpfeln.

Er versuchte etwa zum zehnten Mal, sich durch Ziehen aus der misslichen Lage zu befreien. Dieses Mal stützte er die Hände an der Außenwand des Gebäudes ab. Sofort hatte er das Gefühl, sich den Rücken verrenkt zu haben. Das war wohl nicht die richtige Strategie. Ob er versuchten sollte, wieder in die Kabine zurückzukommen? Keine Chance. Er konnte sich täuschen, aber es schien so, als hörte er Stimmen, jemand flüsterte hinter ihm, irgendwo in der trockenen Herrentoilette. Doch da seine Ohren bereits dem Verkehrslärm und dem stärker werdenden Regen ausgesetzt waren, konnte er nicht mit Sicherheit ausschließen, sich das Flüstern nur eingebildet zu haben. Er versuchte, seinen Kopf zu drehen und nach hinten zu schauen, um herauszufinden, woran genauer festhing. Dann hörte er Männerstimmen rufen. Dieses Mal täuschte er sich definitiv nicht. Es hörte sich irgendwie an wie Berlin und sofort assoziierte Hannes: Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin. Doch dann, als ihm klar wurde, dass im Inneren des Fensterrahmens zwei Schrauben steckten, die denselben zur Falle umfunktionierten, bemerkte er, dass er sich verhört hatte. Sie riefen nicht Berlin, es hieß eindeutig: Herr Grün.

„Scheiße!“, flüsterte Hannes. Offensichtlich hatte sie die Jungs vom Nachbartisch als Spähtrupp angeheuert.

„Ja, ich, ich komme gleich. Ich habe mir den Magen verdorben, aber ich bin gleich da!“, schrie er.

„Wie bitte?“

Die Frage war zu deutlich zu verstehen und konnte deshalb unmöglich aus dem Innern der Herrentoilette kommen. Hannes schaute wieder nach vorn und sah den Strahl einer auf ihn gerichteten Taschenlampe.

„Was machen Sie denn da, junger Mann?“

Ich rette gerade mein Leben, indem ich einen qualvollen Tod sterbe!

„Ist schon in Ordnung, ich habe alles im Griff!“, rief Hannes.

„Sieht aber nicht unbedingt danach aus!“

Jetzt sah Hannes, dass es sich um einen älteren Herrn handelte, der gerade seinen Hund Gassi führte.

„Wissen Sie, ich muss mich jetzt gleich übergeben, es ist besser, wenn Sie einfach weitergehen. Mir wird es dann sofort wieder besser gehen. Ich habe damit ziemlich viel Erfahrung!“

„Soll ich einen Arzt holen? Gleich um die Ecke wohnt ein sehr netter Allgemeinmediziner?“

„Nein. Nein, lassen Sie nur. Ich gehe gleich wieder rein, schließlich regnet es ja. Ich will nur hier drinnen nicht alles vollkotzen!“

„Na denn, schön. Hat ja mal jeder so seine Taktik, nicht wahr! Komm Freddy, lassen wir den jungen Mann sich mal ungestört übergeben!“

Hannes wartete etwa 20 Sekunden, bis Freddy – der Name schien ihn zu verfolgen – samt Herrchen nicht mehr zu sehen waren. Die Sache lief völlig aus dem Ruder. Bald würde der nächste Passant kommen, dann wieder jemand und noch mal einer. Vielleicht würde sich ein Knäuel von Schaulustigen bilden, die ihn mit ihrem Handy fotografierten, um die Bilder ins Internet zu stellen. Irgendwann würde die Feuerwehr aufkreuzen.

Er versuchte sich zu drehen, aber sein Arsch steckte nach wie vor fest. War er so fett geworden? Jetzt endlich bemerkte er, dass sein Portemonnaie im Weg war. Es befand sich in seiner linken Gesäßtasche und war angesichts der Tatsache, dass die beiden Schrauben nach innen zeigten, ganz einfach zu dick. Möglicherweise hätte er es durch mehrfaches Hin-und-Herbewegen geschafft, seine Hose aufzureißen und dafür zu sorgen, dass sein Portemonnaie herausfiel. Doch dies würde erstens zu lange dauern und zweitens konnte das Portemonnaie in der Toilettenschüssel landen.

Es gab nur eine Chance – er musste sich seines begrenzt vorhandenen physikalischen Wissens bedienen, das ihm sagte, dass man einen Batzen Münzgeld weniger einfach eindrücken konnte als menschliches Fleisch. Mit anderen Worten: Wenn er nicht wollte, dass er morgen zum Gespött von ganz Bremen gemacht wurde, mit einem Foto von sich – gefangen im Toilettenfenster eines mexikanischen Restaurants – in allen Zeitungen, dann musste er sich jetzt um gut 90 Grad drehen, um im ursprünglichen Sinne des Wortes mit der rechten Arschbacke an den beiden Schrauben vorbeizuschrammen. So konnte das Fenster doch noch das Tor zur Freiheit werden. Er liebte diese Stadt, er liebte Werder zu sehr, als dass er seine Zelte schon wieder abbrechen wollte. Er fühlte sich der Stadt verbunden, hier war er zu Hause und das würde er sich nicht von zwei Schrauben kaputt machen lassen. Er musste es auch für Werder schaffen, das nahm er sich vor. Wenn ich es schaffe, schlägt Werder morgen die Hertha, ansonsten gibt es schon wieder eine Niederlage. Eine größere Motivation gab es nicht. Er wusste, dass es die richtige Strategie gewesen war, sich zu drehen. Er wusste auch, dass er es jetzt schaffen konnte, obgleich er spürte, dass die Schrauben viel länger waren, als er gedacht hatte.

Als er das Krankenhaus verlassen konnte, hatte kalendarisch bereits ein neuer Tag begonnen. Es war 0.45 Uhr. Der Weg in die Freiheit hatte in Form einer etwa acht Zentimeter langen und „ziemlich tiefen“ – wie der Arzt es ausgedrückt hatte – Fleischwunde in seiner rechten Gesäßhälfte einen hohen Preis gefordert. Sie hatten seinen Hintern mit sechs Stichen zusammengeflickt und sich über die Meister 1988-Tätowierung an gleicher Stelle lustig gemacht. Der Arzt hatte ihm erzählt, die neue Narbe würde beinahe parallel zu dem Wort Meister