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Die Autorin

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Melanie Kubandt

ist Diplompädagogin mit Schwerpunkt Elementarbereich und Sprachheilpädagogin (Magister). Nach dem Studium war sie eineinhalb Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls für Empirische Bildungsforschung der Universität Würzburg tätig. Seit August 2007 leitet sie beim Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker e.V. (BRA) das Projekt „Beschulung aphasischer Kinder“ der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung. Im Rahmen des Beschulungsprojekts publiziert sie Fachartikel zu Aphasie bei Kindern und Jugendlichen, bildet bundesweit ambulante Therapeuten und schulische Fachvertreter in der Thematik fort und führt halbjährlich Eltern-Kind-Seminare für Betroffene durch. Seit vier Semestern ist sie Lehrbeauftragte für kindliche Aphasie am Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik der Universität Würzburg.

Melanie Kubandt

Aphasie bei Kindern
und Jugendlichen

Ein Ratgeber für
therapeutische Berufsgruppen

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Informationen in diesem Ratgeber sind von der Verfasserin und dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung der Verfasserin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen

Besuchen Sie uns im Internet: www.schulz-kirchner.de

1. Auflage 2009

ISBN 978-3-8248-0693-5 (PC PDF)

Alle Rechte vorbehalten

© Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2009

Mollweg 2, D-65510 Idstein

Vertretungsberechtigter Geschäftsführer: Dr. Ullrich Schulz-Kirchner

Titelfoto: © Pavel Losevsky · www.fotolia.de

Illustrationen (Seite 15 und 20): Matthias Heins

Lektorat: Doris Zimmermann

Umschlagentwurf und Layout: Petra Jeck

Druck und Bindung: wd print + medien GmbH, Elsa-Brandström-Str. 18,

35539 Wetzlar

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Reihe

Definition und Einführung

Abgrenzung zu Sprachentwicklungsstörungen

Abgrenzung zu Aphasie bei Erwachsenen

Geschichtlicher Exkurs

Das 19. Jahrhundert: Die Entstehung der Aphasiologie für das Kindesalter

Die Entwicklungen seit Ende des letzten Jahrhunderts

Ursachen der Aphasien im Kindes- und Jugendalter

Einige Vorüberlegungen zum Gehirn

Das Schädel-Hirn-Trauma

Klassifikationen von Schädel-Hirn-Traumen

Die Gehirnerschütterung – ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma

Die Gehirnquetschung – ein schweres Schädel-Hirn-Trauma

Was geschieht bei einem schweren SHT?

Der Schlaganfall

Ursachen

Symptomatik

Weitere Ursachen

Wie ist eine Heilung oder Besserung nach einer Hirnschädigung zu erklären?

Symptome der Aphasien

Initialer Mutismus

Spontansprache

Sprachverständnis

Schriftsprache

Kommunikation und Pragmatik

Begleiterscheinungen

(Halbseiten-)Lähmungen (Parese/Plegie)

Dysarthrien

Neuropsychologische Beeinträchtigungen

Verhaltensauffälligkeiten

Klassifikationsbemühungen

Exkurs: Das Landau-Kleffner-Syndrom

Verlauf und Prognose

Prognosefaktoren

Intervention: Diagnostik und Therapie

Diagnostik

Therapie

Therapieziele

Therapiedurchführung und Methoden

Exkurs: Effizienz und Effektivität von Therapie

Elternarbeit

Andere Therapiebereiche

Ergotherapie

Physiotherapie (Krankengymnastik)

Neuropsychologische Therapie

Psychosoziale Folgen als zentrale Kategorie

Psychische Veränderungen

Familiäre Veränderungen

Soziale Veränderungen

Schulische Veränderungen

Förderliche Faktoren im schulischen Kontext

Maßnahmen der beruflichen (Re-)Integration

Selbsthilfearbeit

Projekt „Hilfen für Kinder mit Aphasie“

Projekt „Beschulung aphasischer Kinder“

Weitere Beratungsangebote

Nützliche Kontaktadressen

Literaturhinweise

Vorwort zur Reihe

Die „Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute“ vermitteln kurz und prägnant grundlegende Kenntnisse (auf wissenschaftlicher Basis) und Hilfestellungen zu ausgewählten Themen aus den Bereichen Sprachtherapie, Ergotherapie und Medizin. Die Autor(inn)en der Reihe sind ausgewiesene Fachleute, die seit vielen Jahren in Therapie, in Beratung, in Forschung und Lehre tätig sind.

Kinder und Jugendliche, die von einer Aphasie betroffen sind, sind eine relativ kleine Patientengruppe, die in der Grundlagenund Therapieforschung nur selten beachtet wird. Bei Eltern und Angehörigen, aber auch bei den Experten des neurologischen Rehabilitationsteams herrscht daher oft Unsicherheit darüber, wie sich dieses Störungsbild von anderen neurogenen Sprachstörungen unterscheidet, wie es am besten therapiert werden kann und wie sich das Kind mit der Aphasie weiter entwickeln wird.

Der vorliegende Ratgeber bietet allen, die mit aphasischen Kindern zu tun haben, einen aktuellen Leitfaden durch das Wissen, das in den letzten Jahren hinzugewonnen wurde. Veraltete Meinungen werden wissenschaftlich fundiert über Bord geworfen, die Leser erhalten einen Überblick über Ursachen und Verlaufsphasen der Störung und Therapeuten wertvolle Hinweise auf diagnostisch und therapeutisch sinnvolle Vorgehensweisen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der teilhabe-orientierten Rehabilitation, d.h. auf dem Einbezug von Eltern, Familie, Freunden und Schule. Damit und mit den abschließenden Hinweisen auf Kontaktadressen und Informationsquellen gelingt es dem Ratgeber hoffentlich, das Störungsbild bekannter zu machen, das Forschungsinteresse der Neuro-Rehabilitation auch auf kindliche Aphasien zu lenken und den Betroffenen ein paar Antworten auf die vielen offenen Fragen zu geben.

Prof. Dr. Claudia Iven
Herausgeberin

Hinweis und Dankeschön:

Die Originalzitate der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie der Eltern entstanden im Rahmen der Projekte „Hilfen für Kinder mit Aphasie“ und „Beschulung aphasischer Kinder“ des Bundesverbands für die Rehabilitation der Aphasiker e.V. und der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung.

Definition und Einführung

Aphasie bei Kindern und Jugendlichen ist eine erworbene Sprachbehinderung, die infolge einer Schädigung des Gehirns durch Schädelhirntrauma, Schlaganfall, Tumor oder entzündliche Erkrankungen (z.B. Hirnhautentzündungen) in unterschiedlicher Ausprägung auftreten kann.

Bis zum Alter von 15 Jahren erleiden in Deutschland nach einer Schätzung des Bundesverbands Aphasie e.V. jährlich etwa 3.000 Kinder und Jugendliche eine Aphasie. Wissenschaftlich gesicherte Informationen zur Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr (Inzidenzrate) und zur Gesamtanzahl aphasischer Kinder und Jugendlicher (Prävalenzrate) in Deutschland gibt es bisher nicht. Man vermutet, dass es sich bei den Aphasien im Kindes- und Jugendalter um ein häufig nicht erkanntes bzw. wenig berücksichtigtes Phänomen handelt. Daher muss von einer hohen Dunkelziffer an Betroffenen ausgegangen werden.

Bei einer Aphasie können alle vier sprachlichen Modalitäten -Sprechen, Verstehen, Schreiben und Lesen – sowie alle linguistischen Ebenen wie Phonologie (Kombination von Lauten), Morphologie (Wortbildung), Syntax (Satzbau) und Semantik (Bedeutung) betroffen sein. Sekundär kann eine Aphasie unter Umständen auch die Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigen.

Sprachverständnis Sprachproduktion Lesen Schreiben
APHASIE
Phonologie Morphologie

Semantik

Syntax
Kommunikationsfähigkeit

Abb. 1: Betroffene Bereiche bei Aphasie

In der Literatur herrscht hinsichtlich der kindlichen Aphasie keine Einigkeit über die Alterseingrenzung. Die meisten Fachleute sprechen erst ab ca. dem 2. Lebensjahr von einer kindlichen Aphasie, wenn der Spracherwerb auf Wortebene bereits eingesetzt hat. Hirnschädigungen, die vor diesem Alter auftreten, können ebenfalls sprachliche Beeinträchtigungen verursachen. Die betroffenen Kinder sind dann meist von Beginn an nicht in der Lage, eine normale Sprachentwicklung zu durchlaufen. Davon ist die Aphasie abzugrenzen.

„Das Wort Aphasie habe ich zum ersten Mal in der IntensivStation gehört, nachdem ein Arzt nach Elenas Aufwachen aus dem Koma dies diagnostizierte. Ich bin dann in die Fachbuchhandlung in der Klinik gegangen und habe in Büchern nachgeschaut. Dort habe ich dann gestanden und versucht zu begreifen, was es bedeutet.“

Monika B., Mutter der betroffenen Elena

BEACHTE

Erworbene Aphasien sind von Verzögerungen und Behinderungen der kindlichen Sprachentwicklung zu unterscheiden!

Abgrenzung zu Sprachentwicklungsstörungen

Im Gegensatz zu Aphasien treten Sprachentwicklungsstörungen nicht plötzlich auf und sind nicht durch eine akute Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) bedingt. Sprachentwicklungsauffällige Kinder sprechen selbst mit drei Jahren noch wenig oder nichts. Auch im Kindergartenalter bestehen die Äußerungen nur aus einzelnen Wörtern oder kleinkindhaften Sätzen im Telegrammstil. Die Lautstrukturen sind oft mehrfach verändert und verkürzt. Mögliche Ursachen von Sprachentwicklungsstörungen sind:

Image  Hörstörungen

Image  Missbildung der Artikulationsorgane (z.B. Gaumenspalte)

Image  Minimale Zerebrale Dysfunktionen (MCD) als Folge von Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen oder einer Erkrankung des ZNS im frühen Kindesalter

Image  Genetische Veranlagung

Image  Psychosoziale Vernachlässigung

Sprachentwicklungsstörungen treten häufig mit anderen Behinderungen der körperlichen und geistigen Entwicklung oder mit generellen Störungen des sozialen Verhaltens auf. Aber auch ein isoliertes Auftreten ist möglich. Sofern als Ursachen vererbte oder frühkindlich erworbene Fehlfunktionen des ZNS anzunehmen sind, wurden Sprachentwicklungsstörungen früher auch Entwicklungsaphasie genannt. Deren Symptome und Syndrome sind anders als die der erworbenen Aphasien. Zudem ist zu beachten, dass diese Begrifflichkeit mittlerweile veraltet ist.

Auch Kinder, die ihre Sprachentwicklung noch nicht abgeschlossen haben, können eine Aphasie erleiden. Es muss jedoch beachtet werden, dass es sich bei einer Aphasie immer um einen Abbau oder Verlust vorhandener Sprachfunktionen handelt. Darin zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu Sprachentwicklungsstörungen.

BEACHTE

Aphasien treten nach bzw. während eines zunächst normal verlaufenden Spracherwerbs ein. Sie sind die Folge eines klar umschriebenen Ereignisses! Allerdings können auch Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen eine Aphasie erleiden.

Abgrenzung zu Aphasie bei Erwachsenen

Aphasie in jungen Jahren unterscheidet sich in Erscheinungsbild und Verlauf nicht nur von Sprachentwicklungsstörungen, sondern auch erheblich von den Aphasien bei Erwachsenen. Man grenzt zudem kindliche Aphasien von Aphasien bei Jugendlichen ab, da sich die Kinder meist noch mitten im Erstspracherwerb befinden, während Jugendliche diesen bereits weitgehend abgeschlossen haben. Somit stehen die Jugendlichen den Erwachsenen mit Aphasie näher. Gemeinsam sind den aphasischen Kindern und Jugendlichen jedoch das Familienleben und der Schulbesuch als lebensweltliche Rahmenbedingungen, die im Fall von Aphasie vergleichbare psychosoziale Veränderungen zur Folge haben.

Kindliche Aphasien unterscheiden sich von Aphasien bei Erwachsenen hauptsächlich dadurch, dass die häufigsten Ursachen traumatischer Natur sind und meist vor abgeschlossenem Spracherwerb eintreten. Im Gegensatz dazu sind Aphasien bei Erwachsenen zu ca. 80% Folge einer Durchblutungsstörung, sprich die Folge eines Schlaganfalls.

Gerade im psychosozialen Bereich hat die Aphasie große Auswirkungen auf das Kind bzw. den Jugendlichen und dessen Angehörigen. Die Sprache versagt ihren Dienst, Freunde ziehen sich zurück, der Betroffene wird häufig aggressiv oder depressiv. Eltern und Angehörige sind oftmals hilflos.

BEACHTE

Durch die Aphasie entstehen sowohl für die Betroffenen als auch die Angehörigen Kommunikationsprobleme, die für alle Beteiligten zu Veränderungen im Alltag führen. Aus diesem Grund müssen Therapeuten auch die Angehörigen in den Interventionsprozess aktiv einbeziehen.

Geschichtlicher Exkurs

Möchte man heutige Erkenntnisse verstehen, ist es sinnvoll, ihre geschichtliche Entstehung und Entwicklung zu betrachten.

Das 19. Jahrhundert:
Die Entstehung der Aphasiologie für das Kindesalter