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Lukas Hartmann

Mein Dschinn

Abenteuerroman

 

 

 

 

 

 

 

 

Umschlagillustration von

Kobi Benezri

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 01172 2 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60435 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

[5] Inhalt

1

Ein Lieferwagen – Indischer Tee –Die Statue mit vier Armen  [7]

2

Die Mutter im Topf – Polizeieinsatz – Der Flug mit Kol  [24]

3

Taschendiebe in Rom – Auf der Flucht – Der Weg zum Camp  [38]

4

Der böse Barani – Im Übungszelt – Keine Spur von Tama  [52]

5

Ausbildung zum Dieb – Kols Geist – Allein durch die Nacht  [70]

6

Aarian taucht auf – Der Eingang zur Katakombe – Eine Mutter ohne Gedächtnis  [80]

7

Tama wird entführt – Aarian in Not – Kols Smaragde  [99]

[6] 8

Flugtickets für Indien – Kol ist dabei – Raju mit dem Ambassador  [114]

9

Tamara im Ashram – Etwas von ihrer Geschichte – Fahrt durch Reisfelder  [134]

10

Der Befreiungsplan – Ein neues Training – Govinda auf dem Markt  [155]

11

Ein Schlüssel für Lars – Luftkampf der zwei Magier – Tamas Sturz  [167]

12

Kein Junkie mehr – Schon fast eine Familie – Kol verschwindet  [184]

 

Kein richtiges Nachwort  [199]

[7] 1

Ein Lieferwagen – Indischer Tee – Die Statue mit vier Armen

Ich erzähle euch, wie es wirklich war. Glaubt nicht alles, was die Zeitungen und das Fernsehen damals brachten. Das meiste davon war völliger Quatsch. Und jetzt meint Tama, ich solle das doch alles mal aufschreiben, und mein Deutschlehrer findet, ich sei ein Schreibtalent. Er kennt schon einen Teil meiner Geschichte. Dass Kol ein Dschinn war, glaubt er zwar nicht. Es lohnt sich aber trotzdem, sagt er, alles schön der Reihe nach zu erzählen, und er ist bereit, die Fehler zu korrigieren, wenn ich damit fertig bin, und einen Verlag zu suchen, der ein Buch daraus macht.

Also gut, ich hielt es nicht mehr aus im Knabenheim Sonnenhof. Vor drei Jahren, im November, war ich fast elf und dachte, ich sei schon bald erwachsen. Als der neue Gruppenleiter kam, wusste ich nach zwei Tagen: Wir passen nicht zusammen. Er war noch jung, benahm sich aber wie so ein Privatdetektiv, der dauernd hinter einem herschnüffelt. Ich konnte ihm nichts recht machen. Schuhe unordentlich hingestellt, Hausaufgaben vergessen, Radio zu laut aufgedreht: ein Tadel. Teller nicht aufgegessen, Zahnpasta auf T-Shirt verschmiert: ein Anpfiff. Zu spät in der Dusche: ein Rüffel. Beim Rauchen erwischt (einmal!): Meldung an den [8] Heimleiter, Strafarbeit. Dabei mochte ich den Heimleiter, Herrn Stauffer, eigentlich ganz gut. Aber Edmund fing ich bald an zu hassen. Wie kann man bloß Edmund heißen? Wir nannten ihn das Mündchen, und als er davon Wind bekam, war er beleidigt und rächte sich mit neuen Schikanen, vor allem an mir, weil ich ihm zu widersprechen wagte. Das alles hätte ich ertragen. Aber dann kam der Tag, als er mich zur Weißglut brachte. Er hatte meine Akte gelesen und wusste, dass meine Mutter sich schon lange nicht mehr um mich kümmerte. Sie war einfach verschwunden, und wo genau sie sich aufhielt, wusste niemand. Irgendwohin musste ich ja. Weil es meinen Vater gar nicht gab, nahm mich der Großvater bei sich auf, und als er starb, kam ich ins Heim. An diesem Abend rief Mündchen mich ins Besprechungszimmer, er schaute mich forschend an und fragte, ob ich meine Mutter sehr vermisse. Was für eine blöde Frage! Natürlich vermisste ich sie, aber ich fand, das gehe Mündchen nichts an, und das sagte ich ihm auch. Er lächelte mitleidig, und dann setzte er zu einem kleinen Vortrag an: Ich müsse lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, meine Mutter komme nicht mehr zurück, sie sei ja unauffindbar, ich sollte sie jetzt am besten vergessen und zu anderen Personen Vertrauen aufbauen, zum Beispiel zu ihm. Ich wurde wütend, mir kamen die Tränen, obwohl ich das überhaupt nicht wollte, ich schrie Mündchen an, er habe ja keine Ahnung, meine Mutter sei bestimmt am Leben, und ich würde sie selber suchen gehen, wenn nötig auch in Indien. Er schüttelte den Kopf, als wäre ich übergeschnappt, und das Lächeln verschwand nicht von seinem Gesicht. Da stand ich auf, warf meinen Stuhl um, rannte hinaus und flüchtete in mein Zimmer. Als Mündchen an die Tür klopfte, gab ich [9] keine Antwort. Ich hörte ihn sagen, mein Verhalten mache ihm Sorgen, wir würden das Gespräch morgen fortsetzen. Das werden wir bestimmt nicht!, dachte ich. Später kam Viktor herein, mit dem ich das Zimmer teilte, er fragte, was mit mir los sei, und ich sagte ihm, Mündchen sei ein Idiot, und ich wolle jetzt allein sein.

Noch an diesem Abend beschloss ich abzuhauen. Daran hatte ich schon ein paarmal gedacht, nun hatte ich keine Ausreden mehr. Wohin ich wollte, war mir klar: zu meiner Mutter, und darum gab es nichts anderes, als sie zu suchen. Das war gerade das Gegenteil von dem, was Mündchen mir einreden wollte. Der glaubte nämlich bestimmt, dass meine Mutter tot sei, und hätte er es gesagt, wäre es die schlimmste Lüge gewesen, die ich je gehört hatte.

Meine Mutter heißt eigentlich Tamara, von klein auf habe ich sie Tama genannt statt Mama. Das gefiel ihr, und wir blieben dabei. Ich hatte Tama mehr als drei Jahre nicht mehr gesehen. Sie hatte mir in dieser Zeit ganze zwei Briefe geschrieben, und auf denen stand kein Absender, das heißt: Sie wollte niemandem, auch mir nicht, ihren Aufenthaltsort verraten. Ich hatte keine Ahnung, wie und wo genau ich sie finden wollte. Auf den Umschlägen klebten indische Briefmarken, gut möglich, dass sie dort war, in Indien, das hatte auch der Großvater vermutet. Bloß ist Indien ein Riesenland, über eine Milliarde Einwohner. Sie einfach so zu finden, war ein unmöglicher Plan, doch mir war alles lieber, als mich mit Mündchen herumzustreiten. Und ich wollte endlich wissen, wie es Tama ging. Eine Mutter und ein Sohn in meinem Alter gehören zusammen, dachte ich. Man kann sich gegenseitig helfen, oder nicht?

[10] Außerdem hatte ich es satt, dass die anderen übers Wochenende Besuch bekamen oder zu Verwandten gingen, und ich nicht. Die erste Zeit im Heim hatte mich immerhin noch Aarian besucht und Schach mit mir gespielt, dann war er plötzlich weggeblieben, und niemand hatte mir erklärt, warum. Von Aarian erzähle ich später mehr. Er hatte mir einmal gesagt, wenn es mir wirklich schlechtgehe, müsse ich einfach am Straßenrand auf Hilfe warten, die komme dann schon. Es müsse aber der richtige Tag sein, und dann werde jemand auftauchen, den ich vielleicht kenne. Oder sogar ein guter Geist. Das glaubte ich natürlich nicht. Oder bloß ein bisschen.

Es war ein Novemberabend. Draußen goss es wie aus Kübeln. Ich holte aus dem Wandschrank eine gelbe Regenpelerine, zog sie an und ging einfach weg. Nur etwas nahm ich mit: Tamas Briefe, die steckte ich in die hintere Tasche meiner Jeans.

Die anderen aus meiner Hausgruppe spielten am Fußballkasten, sie waren sehr laut und achteten nicht auf mich, Mündchen blieb unsichtbar. Nur Viktor schaute mir fragend nach, sagte aber kein Wort. Ich ging durch die Haustür ins Freie, ich marschierte hinunter ins Dorf, der Regen prasselte auf meine Kapuze. Ich ging weiter bis zum Autobahnzubringer, und dort hielt ich den Daumen hoch, wie ich es in Filmen gesehen hatte. Es war genau das, wovor wir immer gewarnt wurden: Steigt nie bei jemand Unbekanntem ein! Doch ich war überzeugt, dass jemand anhalten und mich mitnehmen würde, dem ich vertrauen konnte. Und dann würde meine Reise beginnen.

Ein Auto nach dem anderen fuhr an mir vorbei. Die [11] Lastwagen mit ihren großen Reifen bespritzten mich von Kopf bis Fuß. Ehrlich, es machte mir nichts aus, ich stand einfach da und wartete. Von meiner Pelerine floss das Wasser in kleinen Bächen ab. Die Kapuze hatte ich so tief wie möglich in die Stirn gezogen.

An der Straße standen Lagerhäuser, es gab Straßenlampen und zwei Ampeln, die rot und grün und orange leuchteten. Es wurde immer dunkler, und die Lichter spiegelten sich im nassen Asphalt. Die Autofahrer hatten jetzt die Scheinwerfer eingeschaltet, das Licht glitt über mich hinweg. Der Regen glitzerte irgendwie wie Weihnachtsschmuck.

Ein Lieferwagen fuhr heran. Er war silbergrau und schon ziemlich alt, er fuhr langsamer und stoppte neben mir am Straßenrand. Hinter ihm stauten sich die Autos, ein paar Fahrer hupten. Dann begannen sie, den Lieferwagen zu überholen.

Die Vordertür wurde zurückgeschoben, ein Mann stieg aus. Er war groß und trug einen schwarzen Mantel, der bis zum Boden reichte, dazu einen schwarzen Hut mit breiter Krempe. Ob er alt oder jung war, konnte ich nicht erkennen, aber etwas an seiner Haltung erinnerte mich an meinen Großvater. Er hinkte, als er auf mich zukam, und ich wich vor ihm zurück.

»Komm, steig ein«, sagte der Mann. Seine Stimme kratzte ein wenig, sie war nicht laut, und doch übertönte sie den Verkehr.

Ich zögerte erst.

»Komm«, wiederholte der Mann. »Du frierst doch. Und hast du denn nicht darauf gewartet, dass dich jemand mitnimmt?«

[12] So war es, trotzdem schüttelte ich den Kopf. Doch dann dachte ich an das, was mir Aarian gesagt hatte, und ging am Mann vorbei zum Lieferwagen. Bevor ich einstieg, schüttelte ich mich, und das Regenwasser rann von meiner Pelerine. Ich kroch über den Fahrersitz hinweg auf die andere Seite und setzte mich.

Der Mann stieg dazu und schloss die Tür. Er nahm den triefenden Hut ab und warf ihn auf den Rücksitz. Jetzt sah man im unruhigen Licht, dass er alt war. Er hatte weiße Haare und ein zerfurchtes Gesicht. Er gleicht wirklich meinem Großvater, dachte ich.

 »Wohin willst du denn?«, fragte der Mann.

 »Ich weiß nicht«, sagte ich vorsichtigerweise.

»Du solltest um diese Zeit zu Hause sein. Wo ist das? Sag mir die Adresse. Ich bring dich hin.«

Ich zog es vor zu schweigen und schaute auf meine nassen Hände. Ich merkte, dass ich fror.

»Zieh die Pelerine aus«, sagte der Mann. »Da hinten irgendwo ist eine Wolldecke für dich.«

Er half mir aus der nasskalten Plastikhaut und ließ sie neben dem Schalthebel liegen, dann beugte er sich nach hinten und tastete herum, bis er die Wolldecke gefunden hatte. Er legte sie mir über die Schultern. »Wärmer?«

Ich nickte. »Die riecht nach Hund.«

»Richtig. Da lag immer Bello drauf, ein Labrador.«

»Wo ist er denn?«

Der Mann seufzte. »Er war altersschwach. Ich musste ihn einschläfern lassen.« Er drehte den Zündschlüssel, der Motor sprang an. »Aber sag mir jetzt, warum hast du da ganz allein gestanden?«

[13] Da sagte ich’s, aber bloß leise. »Ich will weg. Ich will zu meiner Mutter.«

Der Mann stellte den Blinker und reihte sich in die Kolonne ein. »Zur Mutter, ach so. Und wo ist die?«

»Ich glaube, in Indien.«

Der Mann ließ einen Augenblick das Steuerrad los, als wolle er die Hände verwerfen, fasste aber gleich wieder danach. »Und dorthin willst du jetzt? Nach Indien?«

»Ich will es versuchen.«

Der Mann räusperte sich. »Weißt du denn, wie weit weg Indien ist? Und wie groß?«

Ich nickte. »Klar. Man muss fliegen, ich weiß.«

Die Stimme des Mannes klang von Satz zu Satz ungläubiger. »Und da stellst du dich an den Straßenrand und hoffst, jemand werde dich zum Flughafen bringen und dir gleich noch ein Ticket besorgen?«

Ich schwieg. Wir hatten die Vorstadt erreicht. Der Mann bog in eine Nebenstraße ein, der Verkehr nahm ab. Wir waren in einem Viertel, das ich nicht kannte.

»Nun gut«, sagte der Mann. »Wir fahren erst mal zu mir. Dann schauen wir weiter. Eigentlich müsste ich dich gleich bei der Polizei melden. Du bist ja irgendwo davongelaufen.«

»Bitte nicht, tun Sie das nicht!«

»Tu ich nicht, auch wenn ich’s wohl müsste. Ich sehe ja, dass du Angst hast. Aber jetzt sag mir, wie du heißt und wie alt du bist.«

»Lars«, sagte ich. »Ich bin elf.« Und schwindelte noch ein bisschen mehr: »Fast elfeinhalb.«

»Ich heiße Kol«, sagte der Mann. »Du kannst du zu mir sagen, wenn du magst.«

[14] Wir fuhren durch einen kleinen Wald außerhalb der Stadt; kein einziges Auto mehr folgte uns.

Ich schaute den Mann, der sich Kol nannte, von der Seite an. Es gab einiges an ihm, das mich verwirrte. Ich hatte einen Verdacht. »Bist du ein Dschinn?«, platzte ich heraus.

»Du meine Güte!« Kol ließ wieder einen Moment das Steuerrad los, und dieses Mal geriet das Auto leicht ins Schlingern. »Ein Dschinn? Wie kommst du darauf?«

»Ein Dschinn ist ein Geist«, sagte ich. »Ein Flaschengeist zum Beispiel. Ein Dschinn kann gut sein oder böse. Das muss man herausfinden.«

»Ich weiß, was ein Dschinn ist. Du kennst wohl Aladin und die Wunderlampe, ja?« Kol schien nicht nur verwundert zu sein, sondern auch gereizt.

 »Jemand hat mir mal gesagt, ich muss am richtigen Tag an der Straße warten. Dann kommt einer, der wird mir helfen und mir den Weg zu meiner Mutter zeigen. Und ich habe gedacht, das könnte ein Dschinn sein.«

»Und wer hat dir das erzählt?«

»Der Freund meiner Mutter. Bevor sie wegging. Jetzt ist er auch verschwunden, genau wie sie. Er kannte die Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Er kam von weit her, aus dem Iran, das hieß früher Persien. Er hat mich manchmal besucht und mir Gebäck mitgebracht. Mit Pistazien, die mag ich.«

»Und deshalb soll ich ein Dschinn sein?«

»Auch weil du ein bisschen aussiehst wie mein Großvater. Der Mann aus dem Iran hat gesagt: Der Unbekannte, der dich mitnimmt, wird jemandem ähnlich sehen, den du kennst.«

[15] Kol machte ein Geräusch, das klang wie ein unterdrücktes Lachen. »Ach so. Willst du in diesem Fall nicht vielleicht besser zum Großvater?«

»Er ist tot«, sagte ich.

»Oh. Das tut mir leid. Schon lange?«

»Vor neunzehn Monaten ist er gestorben.«

Ich wollte noch mehr sagen, aber die Worte fehlten mir. Wir waren bei einem alleinstehenden Haus angekommen, das die Autoscheinwerfer aus dem Dunkel herausholten. Ringsum standen Bäume, die im Wind schwankten. Kol steuerte den Wagen auf den kleinen Parkplatz neben einem Klettergerüst.

»Das ist ein altes Schulhaus«, sagte er. »Man hat es nicht mehr gebraucht, es stand lange leer. Ich konnte es kaufen. Komm jetzt.«

Wir stiegen aus. Es regnete immer noch in Strömen. Ich zog die Wolldecke über den Kopf. Hinkend ging Kol, der sich wieder den Hut aufgesetzt hatte, voran zum überdachten Eingang. Ich folgte ihm und wich den Pfützen aus.

Kol öffnete die Tür mit einem großen Schlüssel und machte Licht. Im Flur roch es nach alten Schuhen und irgendwie nach Zimt, aber es war wenigstens trocken. »Unten gab es zwei Klassenzimmer«, sagte Kol. »Oben die Lehrerwohnung.« Er hängte Mantel und Hut an einen der vielen Garderobehaken in der Wand. Darunter trug er ein kariertes Hemd und schlottrige Hosen. Er nahm mir die Wolldecke ab und breitete sie über die Schuhbank unter den Haken. »Das ist bis morgen wieder trocken. Wir gehen jetzt hinauf.«

Die Holztreppe knarrte. Auch sonst schien das alte Schulhaus voller Geräusche zu sein. Aber in der Wohnung [16] oben war es angenehm warm. Er habe am Morgen tüchtig eingeheizt, sagte Kol, im November brauche man Wärme. Er zeigte mir den großen Ofen, der zwischen Küche und Wohnzimmer in die Mauer eingebaut war, und legte gleich ein paar Scheiter nach.

Er verschwand für eine kurze Weile und kam mit einem dicken Pullover zurück, den er mir hinhielt. »Zieh den an, er ist zu groß für dich, aber du darfst dich nicht erkälten.« Ich streifte den Pullover über meine Trainingsjacke, er reichte mir bis zu den Knien, die Hände verschwanden unter den Ärmeln – wir lachten ein wenig darüber.

Wir setzten uns an den Küchentisch, und Kol fragte, was ich trinken wolle, heiße Milch oder einen Chai. Überrascht schaute ich ihn an. »Chai?«

Kol lächelte, und dabei legte sich sein Gesicht in hundert Falten. »Indischer Tee. Mit Koriander, Zimt, Kardamom, viel Zucker und Milch.«

»Woher weißt du das? Den hat Tama… meine Mutter manchmal gemacht.«

»Ich war selbst einige Male in Indien. Darum weiß ich, wie groß dieses Land ist. Und seither mag ich die indische Küche.« Kol zeigte auf das Regal an der gegenüberliegenden Wand. Darauf standen jede Menge Gläser mit Gewürzen, dazu ein kleiner Mörser. »Na gut, dann ist die Sache ja klar.« Er stand auf und begann am altmodischen Herd zu hantieren.

Ich schaute mich um. Warum waren denn die Kupfertöpfe auf dem Abtropfbrett so groß? Kol schien allein in diesem Haus zu leben. Oder doch nicht? Die Tür zum Wohnzimmer war offen, und ich sah dort drinnen [17] haufenweise Bücher. Sie waren in Stapeln auf dem Boden verteilt. In einer schlechtbeleuchteten Ecke stand eine menschengroße Statue, aus Holz vermutlich. Ich glaubte vier Arme zu erkennen. Das war vielleicht ein Gott oder ein Dämon. Ziemlich unheimlich. Ich schaute lieber wieder Kol zu.

Das Wasser im Topf brodelte schon, der Duft der Gewürze erfüllte die Küche, Kol schüttete Milch in den Topf und rührte darin mit einem Schwingbesen. Wenig später stellte er zwei Henkeltassen mit dampfendem Chai auf den Tisch. Man musste eine Weile warten, damit man sich nicht den Mund verbrannte. Und als ich dann vorsichtig davon schlürfte, konnte ich plötzlich nur noch an Tama denken. An ihre Stimme, an ihr Gesicht. Auch an ihre Bewegungen. Ich sah sie vor mir: Wie sie den Chai kühlte, indem sie ihn von einer Tasse in die andere goss. Wie der Tee in der Tasse fast überschwappte und dann doch nicht. »Süß genug für dich?«, sagte sie. »Oder noch süßer? Das wäre aber ungesund!« Und dann lachte sie.

Aber das war lange her. Ich war knapp sieben, als sie mich zum Großvater brachte. Sie musste weg, weit weg, und ich begriff nicht, warum. Ich hasste es schon damals zu weinen, aber auch jetzt, an Kols Tisch, wurden meine Augen plötzlich nass.

»Du denkst an deine Mutter, nicht wahr?«, sagte Kol, der den Blick nicht von mir abwandte. »Warum ist sie weggegangen? Und warum ausgerechnet nach Indien?«

»Ich glaube, wegen einem anderen Mann. Der war in einem Ashram. Sie hat gemeint, sie kommt bald zurück.«

Es gab noch andere Gründe, das heißt, ich ahnte, dass es sie gab, aber davon wollte ich Kol nichts sagen.

[18] Der strich sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe. Auch das hatte der Großvater, wenn er nachdachte, so gemacht. »Weißt du denn, was ein Ashram ist?«

Ich trank vorsichtig einen Schluck vom heißen Chai. »Klar. Das ist wie ein Kloster. Aber nicht wie bei uns. Sie haben in Indien eine andere Religion. Sie heißt Hindu…«

»Hinduismus«, ergänzte Kol. »Eine Religion mit vielen Göttern. Und doch ist eigentlich immer nur einer gemeint.«

»Und im Ashram«, fuhr ich fort, »sitzt man stundenlang da und soll nichts denken. Das heißt Meditieren. Dann vergisst man seine Sorgen. Der Großvater hat es mir erklärt.«

Kol runzelte die Stirn. »Hatte sie denn Sorgen, deine Mutter?«

»Viele, glaube ich. Sie hat sich von meinem Vater getrennt, da war ich noch sehr klein. Und dann hatte sie nie genug Geld. Und sie war oft krank. Darum half ihr der Großvater aus.«

»Hast du denn nicht beim Vater gewohnt, als sie weg war?«

Ich schüttelte den Kopf. »Der ist auch weggegangen, viel früher schon. Ich weiß gar nicht mehr, wie er aussieht.«

»Ach so. Also hat er sich nicht um dich gekümmert.«

»Nein. Der Großvater hat mich bei sich aufgenommen. Für ein halbes Jahr, meinte er. Und dass das schon geht. Aber dann kam Tama… Tamara, meine Mutter einfach nicht mehr zurück.«

Kol legte auf dem Tisch seine Hände übereinander. Sie waren gesprenkelt mit braunen Flecken, und die Adern sahen aus wie blaue Schnüre. »Wo bist du denn hin, als der Großvater starb?«

 »Ich kam ins Kinderheim.«

[19] Kol begann seine Hände zu kneten, so kräftig, dass die Knöchel knackten. »Und von dort bist du jetzt abgehauen.«

Ich schwieg, die Antwort war ja klar.

»Ich nehme an, dass es dir im Heim nicht besonders gefallen hat.«

»Es gibt einen neuen Gruppenleiter«, sagte ich, »der mag mich nicht, und ich ihn auch nicht.«

Kol streckte die Hand aus, als wolle er sie auf meine legen, zog sie aber wieder zurück. »Du suchst jemanden, bei dem du bleiben kannst, ja? Könnte das nicht auch dein Vater sein?«

»Ich kenne ihn ja gar nicht. Er kommt aus Tunesien. Und Großvater war sicher, dass er schon lange wieder dort ist.«

»Tja, das macht das Ganze nicht einfacher. Aber jetzt ist mir wenigstens klar, warum du einen Wuschelkopf und so dunkle Augen hast. Und das bei deinem Namen!« Kol lachte wieder ganz hinten im Hals, es war eine Art Glucksen, das mich ärgerte.

»Die anderen haben mich deswegen gehänselt. Das brauchst du nicht auch zu tun.«

»Oh, das war doch ein Kompliment.« Kol richtete sich auf, und in seinem Gesicht zeigte sich plötzlich ein anderer Ausdruck, ein forschender und strenger. »Die Frage ist bloß, mein Junge: Was machen wir jetzt mit dir? Die vermissen dich doch im Heim. Und wenn du nicht von selbst zurückkommst, benachrichtigen sie die Polizei.«

»Kann sein«, gab ich zu.

»Dann wirst du schon bald übers Fernsehen und die Zeitungen gesucht. Irgendein Foto haben sie ja sicher von dir.«

Das wusste ich eigentlich, aber ich wollte nicht daran erinnert werden und schwieg.

[20] Kol ließ nicht locker. »Ist es da nicht vernünftiger, du gehst freiwillig zurück? Ich fahr dich persönlich hin.«

»Nein! Nein! Bitte nicht! Ich geh nicht zurück! Lass mich hier! Und hilf mir, meine Mutter zu finden! Du musst mir helfen!« Ich stemmte mich hoch, doch Kol hielt mich an den Schultern fest.

»Sachte, sachte«, brummte er. Er bugsierte mich auf den Stuhl zurück. »Du kannst diese Nacht hierbleiben. Und wir machen Pläne, die dir weiterhelfen. Aber ich melde im Heim, dass du bei mir bist. Dass ich für deinen Schutz sorge. Und dass ich dich nicht entführt habe. Einverstanden?«

Ich murmelte etwas, das Ja bedeutete.

Kol fragte nach dem Namen des Heims, ich nannte ihn und auch den Namen des Heimleiters. Der sei eigentlich ganz nett, sagte ich, er werde bloß ärgerlich, wenn man die Hausregeln verletze. Das verstehe er, antwortete Kol, Regeln müsse man respektieren. Aber nun gehe er kurz telefonieren. Darauf verschwand er, und es war merkwürdig: Ich hatte das Gefühl, er gehe gar nicht wirklich hinaus, sondern löse sich einfach in Luft auf. Doch dann hörte ich seine Stimme von unten, durch die offene Tür.

Ich wagte nicht, ins Wohnzimmer hinüberzugehen, wo die Statue stand. Ich stellte die leeren Tassen hinüber aufs Abtropfbrett und schaute mir von nahem die Gläser auf dem Regal an. Sie waren nicht angeschrieben. Einige Gewürze kannte ich, die Zimtstangen, die Nelken, die Pfefferkörner. Doch da gab es auch merkwürdige Dinge, die wie Finger oder Eidechsenschwänze aussahen. Das trieb mich zurück zu meinem Stuhl.

Ich wartete lange und versuchte meine Gedanken zu [21] ordnen. Wer war dieser Kol? Konnte ich ihm vertrauen? Aber wem denn sonst? Aarian, ja, aber der war nicht da. In der ersten Zeit im Heim hatte er mich fast jeden Sonntag besucht, er hatte mir beigebracht, Schach zu spielen, und ich war so gut geworden, dass ich ihn ab und zu sogar matt setzte. Aarian hatte mir Märchen von Flaschengeistern erzählt, von den tanzenden Derwischen, von der heiligen Stadt Qom, er hatte mir Fotobände mit Bildern aus seiner Heimat gezeigt. Er hatte flüchten müssen, warum genau, wollte er nicht sagen. Es hatte damit zu tun, dass er ein Kurde war und manche Kurden im Iran verfolgt wurden. Ich verstand auch anderes nicht. Aber es war schlimm für mich, als Aarian eines Sonntags nicht mehr kam. Nicht einmal verabschiedet hatte er sich, kein Wort hatte er von seiner Abreise gesagt.

Eigentlich hatte ich Grund genug, auf Aarian wütend zu sein, aber die Wut war nach ein paar Tagen verflogen, und ich wünschte mir bloß, dass Aarian wieder auftauchen würde, genauso unerwartet, wie er verschwunden war.

Plötzlich stand Kol vor mir. Ich war verwirrt, einen Augenblick hatte ich ganz vergessen, wo ich war.

»Ein misstrauischer Mensch, dieser Heimleiter«, sagte Kol. »Er wollte mir erst gar nicht glauben. Er macht sich Sorgen um dich. Du seist ein sensibler Junge, hat er gesagt. Wahrscheinlich hat er wirklich gedacht, ich hätte dich entführt und wolle Lösegeld für dich. Dabei habe ich ihm klipp und klar meinen Namen und meine Adresse angegeben!«

»Aber darf ich bei dir bleiben?«, fragte ich nervös.

»Ja. Vorläufig. Wir müssen so schnell wie möglich eine Lösung für dich finden.«

Ich war erleichtert. Wenigstens diese Nacht würde ich [22] hier verbringen. Hoffentlich nicht ausgerechnet im Zimmer mit der Statue.

»Das Ding dort drüben…?«, fragte ich und zeigte ins andere Zimmer.

Kol lächelte. »Die Holzfigur? Das ist Schiwa, einer der indischen Hauptgötter, der Zerstörer und Erschaffer. Er hat vier Arme. Er steht auf einem Dämon, den er besiegt hat, und so hält er die Welt im Gleichgewicht. Macht er dir Angst?«

»Jetzt nicht mehr«, sagte ich, aber es stimmte nicht ganz. »Hast du ihn selber aus Indien mitgebracht?«

»Ja. Da hatte ich natürlich Übergepäck. Der ist schwer. Aber wenn ich Schiwa anschaue, werde ich ruhiger, und oft kommen mir dabei gute Ideen.«

»Hast du denn eine gute Idee für mich?«, fragte ich nach einer Pause.

»Eine Idee wofür?«

»Wie es jetzt weitergeht mit mir. Wie ich nach Indien komme. Wie ich meine Mutter finde.«

»Das willst du immer noch?«

Ich nickte zögernd, ich wusste ja, dass der Weg nach Indien mit einer Menge Schwierigkeiten gepflastert sein würde.

»Gut, gut. Wir werden sehen. Aber hast du nicht Hunger?«

Mein Nicken war dieses Mal überzeugter.

 »Dann kochen wir jetzt zusammen etwas Gutes. Und danach planen wir alles Weitere. Ja?«

Es fiel mir leicht, mit Kol einverstanden zu sein. Auch wenn an ihm etwas Undurchschaubares war. Was denn? Seine Augen, die sich plötzlich verdunkeln konnten, bis sie ganz schwarz wirkten. Seine Stimme, die ein bisschen kratzig war und doch sanft.

[23] Ich musste Kartoffeln und Möhren schälen und sie klein schneiden. Kol setzte währenddessen in einem Topf Linsen auf, die ich eigentlich gar nicht mag, in einem andern Topf Reis, den er vorher einige Male gewaschen hatte. Er röstete in einer Pfanne verschiedene Gewürze, er rieb Ingwer und vermischte alles, er gab das Gemüse zu den Linsen, rührte in den Töpfen, schnupperte. Und schon stieg mir wieder ein Duft in die Nase, den ich kannte, Tama hatte manchmal auch so gekocht.

Wir sprachen nicht viel während des Kochens. Aber ich fragte Kol, was er früher gemacht habe und warum er nach Indien gereist sei. Kol antwortete nur kurz: Er sei im Gewürzhandel tätig gewesen, Kauf und Verkauf; einmal, als man das noch konnte, sei er sogar auf dem Landweg hingefahren. Auch ein Kräuteröl habe er nach Europa gebracht, neue Teesorten, heilende Mischungen. Davon sei er allerdings nicht reich geworden, fügte er mit einem scharfen Seitenblick hinzu. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen.

[24] 2

Die Mutter im Topf – Polizeieinsatz – Der Flug mit Kol

Zum Nachtisch gab es Bananen, die Kol in Scheiben geschnitten und mit Mangokonfitüre bestrichen hatte. Danach fragte er mich über Tama aus. Ob sie irgendwo gearbeitet habe, wollte er wissen, ob nur der Großvater oder auch Freunde sie mit Geld unterstützt hätten, dieser Aarian zum Beispiel.

»Der hatte auch fast kein Geld«, sagte ich. »Und Tama hat manchmal schon gearbeitet. Nie lange, glaube ich. In einem Restaurant. In einem Schmuckladen.«

»Hat sie einen Beruf erlernt? Oder weißt du das gar nicht?«

»Doch. Sie war auf einer Handelsschule. Sie kann gut tippen. Sie hat mir immer gezeigt, wie ihre Finger auf den Tasten tanzen können. Und sie hat gesagt, eigentlich möchte sie am liebsten Kostüme nähen. Fürs Theater oder so.«

Ich weiß nicht warum, aber ich hatte schon vorher die Hand auf meine Gesäßtasche gelegt und ertastet, ob Tamas Briefe noch da waren. Und dann fingerte ich sie heraus und faltete sie auseinander. »Das sind zwei Briefe von ihr, von Hand geschrieben.«

»Darf ich sie lesen? Das gibt mir vielleicht einen Anhaltspunkt.«

[25] Ich schüttelte den Kopf. »Ich lese dir lieber vor.«

»In Ordnung.«

Ich hielt das erste Blatt vor meine Augen und las. Es waren lauter Großbuchstaben, ich konnte ja, als ich den Brief bekam, noch nicht so lange lesen.

LIEBER, LIEBER LARS, ICH BIN JETZT WEIT WEG. UND ICH VERMISSE DICH SEHR. ICH VERMISSE DICH JEDEN TAG. ABER ICH WAR SCHWER KRANK UND MUSS GESUND WERDEN, BEVOR ICH ZU DIR ZURÜCKKOMME. HIER KANN MAN MIR HELFEN. ES GEHT IN KLEINEN SCHRITTEN VORAN. ACH, ICH MÖCHTE DICH SO GERNE SEHEN. DU BIST BESTIMMT GEWACHSEN. WENN WIR WIEDER ZUSAMMEN SIND, WERDEN WIR SCHÖNE DINGE MITEINANDER UNTERNEHMEN. IM SOMMER GEHEN WIR SCHWIMMEN, JA? UND ICH MACHE DIR DEN BESTEN KARTOFFELSALAT DER WELT MIT WÜRSTCHEN UND SENF. ICH MUSS AUFHÖREN, MEINE HAND IST NOCH EIN BISSCHEN ZITTRIG. GRÜSSE GROSSVATER VON MIR. UND DIR DRÜCKE ICH GANZ VIELE KÜSSE AUF DIE NASENSPITZE!

IN LIEBE TAMA

Die letzten Worte wollten fast nicht mehr aus mir heraus, aber ich zwang mich. Nur bei Tamas Gruß krächzte ich ein bisschen.

Von Kol kam ein Brummen, dann fragte er: »Wann hast du den Brief bekommen?«

[26] »Da war ich beim Großvater«, sagte ich. »Und Tama war schon ziemlich lange weg.«