Inhalt

Vorwort

Hoffentlich verbock ich das nicht

Schläfer, Wiederkommer und ein abgesägter Finger

Betreff: Buchprojekt

Kann man ja mal machen

Reingestolpert

Wenn man mich fünf Minuten alleine lässt

Dommel

Whisky, Koks und Panzerglas

Nachtschicht

Ein Orgasmus ist nicht tödlich

Darmverschluss

Nähe, Distanz und die professionelle Fassade

Hamoudi

Das Gegenteil von Routine

Wie es sich gehört

Zauberwasser hilft nicht immer

Die Killerkombination

Space-Brownies, Maden und eine Reise mit dem Nachtzug

Wenn jemand stirbt

Was man nicht aus Büchern lernt

Ein wenig gereizt

Alles zu viel

Das hier ist kein Film

Die Schublade, in der wir enden

Cookie

Pizza im Großraum, ein Spatz in der Schachtel

Wie jemand, der sich auskennt

Ein Familienstreit, eine Autobergung und was man zum Abschied sagt

Feierabend

Das nennt man Verdrängung, Mike

Aggro-Wetter

Zwischenmenschlich interessant

Immer geradeaus

Die Kontrolle, die wir nie hatten

Am Badesee

Hinter der Front

Oder in den Zoo

Wie man den Penis wieder aus der Flasche kriegt

Tun, was nötig ist

Der Patient ist die einzige Maßgabe

Eine Prise Zucker

Wie man miteinander spricht und wer hier das Arschloch ist

Klinikerotik

Das könnte gefährlich werden

Frau Möller will leben

Eine endlose Reihe von Abschieden

Stayin’ Alive

Warum wir trotzdem hier sind

Auf eigene Gefahr

Lauter Unschuldige und ein nettes Wort für Schlägerei

Aus dem Gleichgewicht

Die Stimme des Instinkts

Gute Nacht, Freunde

Die Party ist vorbei

Hoffentlich verbock ich das nicht

Schläfer, Wiederkommer und ein abgesägter Finger

»Und, wie gehts dir hier bei uns?«, fragt mich Alina, während sie die Werte ihres aktuellen Patienten am Bildschirm neben seinem Behandlungsplatz in die Dokumentation einträgt.

Es ist ein strahlend schöner Tag im Juli 2019. Meine erste Schicht in der Zentralen Notaufnahme, momentan befinden wir uns im Großraum. Alina hat mir die Standardprozedur gezeigt, die das Pflegepersonal bei fast jedem neuen Patienten auf der internistischen Seite vornimmt, noch bevor ein Arzt oder eine Ärztin kommt: EKG anlegen, Blutdruck, Herz- und Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung und Temperatur messen, die Ergebnisse dokumentieren.

Bei dem untersetzten Italiener, der momentan seitlich auf der durch beigefarbene Vorhänge von den angrenzenden Bereichen abgetrennten Liege sitzt, kommt noch eine Blut- und eine Urinprobe dazu. Er klagt über heftige Bauchschmerzen, möglicherweise ist sein Blinddarm entzündet.

»Na ja, das ist schon alles sehr neu für mich«, antworte ich.

»Kann ich mir denken. Ich weiß noch, wie ich mich an meinem ersten Tag in der Notaufnahme gefühlt habe. Ich hatte richtig Schiss und dachte: Jeden Moment kann ein total krasser Fall reinkommen, hoffentlich verbock ich das nicht!«

Alina wendet sich vom Bildschirm ab und beginnt, die Blutentnahme vorzubereiten.

»Ich war dann erst mal mit Martina an der Sichtung«, erzählt sie weiter. »Sie hat mir alles gezeigt, und irgendwann ist sie kurz einen Kaffee holen gegangen. Kaum war sie weg, kam ein neuer Patient, ein Mann um die fünfzig. Ich hab zuerst gar nichts Außergewöhnliches bemerkt. Nur ein bisschen blass kam er mir vor, und seine linke Hand war eingewickelt. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, da sagte er: ›Junge Frau, ich habe mir mit der Kreissäge den Zeigefinger abgeschnitten. Hier ist das gute Stück.‹ Und damit hielt er mir den blutverkrusteten Finger vor die Nase. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte! Ich wusste nicht mal, ob ich das Ding jetzt einfach so in die Hand nehmen darf. Andererseits hatte ich sowieso genug damit zu tun, nicht auf der Stelle ohnmächtig zu werden.«

Alina hat das erste transparente Röhrchen mit dem Blut ihres Patienten gefüllt und greift nach dem nächsten. Ein wenig verunsichert verlasse ich den Großraum, um nach Mike zu sehen.

Er hat OT-Dienst, das heißt: Er verteilt die Patienten auf die Behandlungsräume, organisiert Verlegungen, nimmt Anrufe entgegen, kümmert sich um die Bürokratie. Bei Bedarf versorgt er auch Patienten, doch meist sitzt er am Computerarbeitsplatz der Pflegekräfte in der mit vielen Bildschirmen ausgestatteten, durch einen Tresen vom umlaufenden Flur getrennten Organisationsinsel. Sie liegt zentral zwischen dem internistischen und dem unfallchirurgischen Bereich und direkt gegenüber der Röntgenabteilung. Ein kurzer Korridor führt von hier zum Computertomografen und zu den beiden Schockräumen, die für die Versorgung besonders schwerer Fälle eingerichtet sind. Der Begriff »Schock« wird hier nicht im Sinne eines psychischen Schockzustands verwendet, sondern er bezeichnet die körperliche Reaktion auf ein schweres Trauma, unter anderem eine starke Verminderung der Blutzirkulation bis hin zum Kreislaufkollaps.

Mike telefoniert gerade, also gehe ich an der Organisationsinsel und den internistischen Behandlungsräumen vorbei, drücke auf den Schalter, der die Tür zum Wartebereich öffnet, begebe mich zur Sichtung und setze mich dort auf den freien Bürostuhl neben Martina. Ich spüre die Blicke, die mich von der anderen Seite der Glasscheibe taxieren. Die Leute denken, ich wüsste vielleicht etwas über ihre Angehörigen, die drinnen in Behandlung sind. Oder sie hoffen darauf, dass ich sie gleich hereinrufen werde.

Es ist noch nicht lange her, dass ich selbst da draußen saß. Im Gegensatz zu den anderen Wartenden fehlte mir ein Handy, mit dem ich mir die Zeit hätte vertreiben können. Die wenigen, ziemlich abgegriffenen Zeitschriften, die auf einem Tischchen bereitlagen, überzeugten mich nicht, für die Bilderbücher und Bauklötze war ich eindeutig zu alt. Also beschränkte ich mich aufs Beobachten. Hin und wieder fuhr ein Rettungswagen vor, und kurz darauf schoben die Sanitäter Transportliegen vorbei, auf denen meist teilnahmslose ältere Menschen lagen. Unweit von mir saß ein leger gekleideter Mann, den ich auf etwa 45 Jahre schätzte. Sein linker Arm hing in einer Schlinge vor seinem Bauch.

Die Zeit verging zäh. In meiner Verzweiflung las ich bereits zum dritten Mal das Infoplakat, das über dem Tisch mit den Zeitschriften hing. Anhand vieler bunter Grafiken sollte es die Leistungsfähigkeit der hiesigen Notaufnahme veranschaulichen. Im vergangenen Jahr seien 46.000 Patienten versorgt worden, hieß es da.

Zwischendurch wechselte mein Blick immer wieder auf den an die gegenüberliegende Wand montierten Flachbildschirm. Der zeigte den Grundriss der Notaufnahme, in dem blinkende, mit verschiedenfarbigen Dreiecken markierte Kästchen verteilt waren, die ab und an ihren Standort wechselten. Manche verschwanden plötzlich, gelegentlich kam ein neues hinzu. Ich vermutete, dass die Kästchen für die gerade in Behandlung befindlichen Patienten standen. Welches davon wohl Julia war? Keines von denen mit einem roten Dreieck, hoffte ich. Lieber blau oder grün. Gelb ginge zur Not auch noch. Aber ein rotes Dreieck, das konnte nichts Gutes bedeuten.

Ich wäre damals nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, dass ich selbst bald auf der anderen Seite der Glasscheibe sitzen und die Kleidung des Pflegepersonals tragen würde. Als ich vorhin neben Mike in der Garderobe stand und die weiße Stoffhose und das weit geschnittene hellblaue Oberteil mit den kurzen Ärmeln und dem V-Ausschnitt anzog, fühlte sich das an, als würde ich eine Verkleidung anlegen. In den zwei Stunden, die seitdem vergangen sind, hat sich daran wenig geändert.

Die automatische Tür, die vom Warteraum nach draußen zur Zufahrt für die Rettungs- und Notarztfahrzeuge führt, öffnet sich. Zwei Sanitäter schieben eine Trage hindurch. Der ältere Herr, den sie transportieren, sitzt aufrecht. Man kann den Verband um seine Stirn und das bereits getrocknete Blut auf seiner Nase und an seiner rechten Schläfe gut erkennen.

»Guten Morgen. Wir haben hier einen Sturz. Herr …« – der ältere der beiden Sanitäter, ein hagerer Mann mit Halbglatze, blickt stirnrunzelnd auf das Versicherungskärtchen, bevor er es durch den Spalt schiebt – »… Lauer ist über einen Badezimmerteppich gestolpert, mit dem Kopf auf dem Badewannenrand aufgeschlagen und hat sich dabei eine Platzwunde zugezogen.«

Martina steckt das Kärtchen in das in die Tastatur integrierte Lesegerät, wendet sich ihrem Bildschirm zu und klickt sich durch ein Menü, während sie redet.

»Schuld war nur der Teppich? Kein Schwindel oder so?«

»Nichts dergleichen.«

Klick.

»War er bewusstlos?«

»Nein. Seine Frau war sofort nach dem Sturz bei ihm und sagt, er sei jederzeit ansprechbar gewesen.«

Klick.

Frage.

Klick.

Frage.

Klick.

Noch ein paar Details werden geklärt: Sind Vorerkrankungen des Patienten bekannt? Nimmt er regelmäßig Medikamente? Hat sich seit dem letzten Klinikbesuch von Herrn Lauer sein Hausarzt geändert? Stimmen Adresse und Telefonnummer aus der Datenbank noch? Braucht der Rettungsdienst einen Transportschein für die Abrechnung mit der Krankenkasse? Das alles dauert kaum mehr als eine Minute, dann heißt es: »Okay, ihr könnt ihn reinbringen.«

Der jüngere Sanitäter drückt auf den Türöffner, und schon verschwindet das Trio aus unserem Sichtfeld in Richtung Behandlungsbereich. Über Martinas Schulter hinweg sehe ich zu, wie sie noch ein paar Felder in der Maske ihres Computerprogramms ausfüllt. Schließlich erscheint auf dem Bildschirm der Grundriss der Notaufnahme. Es ist genau die gleiche Grafik, wie sie der Bildschirm im Wartebereich zeigt. Nur dass hier die Kästchen mit den farbigen Dreiecken nicht anonym sind, sondern Namenskürzel enthalten. Herr Eberhard Lauer, 82 Jahre alt, wird zu Lau, Eb. Sein Dreieck ist gelb.

Das mit den bunten Dreiecken hat mir Martina am Morgen als Erstes erklärt. Die Farbe zeigt an, welcher Kategorie der Patient im Rahmen der Triage zugeordnet wurde – und damit, wie viel Zeit höchstens bis zu seinem ersten Kontakt mit dem ärztlichen Personal vergehen sollte.

Das Triagieren der Neuankömmlinge ist Martinas Hauptaufgabe an der Sichtung. Man sei hier außerdem Lotse, Pförtner und Seelsorger zugleich, sagt sie, und in vielerlei Hinsicht gefordert.

»Eine schnelle Auffassungsgabe ist nötig, oft auch Fingerspitzengefühl. Und hin und wieder braucht jemand eine klare Ansage, da darf man dann wiederum nicht zu zimperlich sein.«

Nicht nur mit Patienten, auch mit Angehörigen komme es gelegentlich zu Diskussionen und Konflikten.

»Dass wir sie in der Regel nicht mit in den Behandlungsbereich lassen, verstehen nicht alle. Wenn wir es täten, wäre es da drin schlicht zu voll. Deswegen dürfen Angehörige nur bei Kindern mit rein. Oder bei dementen Patienten. Vertraute Bezugspersonen können da das Personal sogar entlasten.«

Seit vor etwas mehr als zehn Jahren die bis dahin nach Fachbereichen getrennten Notaufnahmen zu einer Zentralen Notaufnahme zusammengelegt wurden, habe außerdem der Anteil der Bagatellfälle stark zugenommen.

»Manche Leute nutzen ganz bewusst aus, dass wir niemanden wegschicken dürfen. Die denken sich: In der Notaufnahme ist alles vor Ort. Wenn ich mich da durchchecken lasse, muss ich nicht lange auf Folgetermine oder Laborergebnisse warten. Dass sie Kapazitäten für echte Notfälle blockieren, ist denen anscheinend egal. Andere wissen einfach nicht, dass es den Kassenärztlichen Notdienst gibt, den man anrufen kann, wenn die Arztpraxen geschlossen sind.«

Als erfahrene Sichtungskraft kennt Martina aber auch den Patiententyp, der eigentlich viel eher hätte kommen sollen.

»Neulich erschien hier eine Frau mit ihrem 76-jährigen Mann, den bereits seit vier Tagen Sprachstörungen und Lähmungserscheinungen plagten. Eindeutige Schlaganfallsymptome. Sie meinte, es hätte ja auch einfach nur Flüssigkeitsmangel sein können. Da würde ich wiederum sagen: Lieber einmal zu oft in die Notaufnahme fahren.«

Jetzt sprechen wir über die Tücken, die die Arbeit an der Sichtung mit sich bringt. Da sind zum Beispiel die sogenannten Schläfer: Patienten, die ein noch unerkanntes, schweres Leiden mit sich herumtragen, aber mit harmlos erscheinenden Symptomen auftauchen.

»Jemand wurde grün triagiert und bricht kurz darauf im Wartebereich mit einer Hirnblutung zusammen. Ist alles schon vorgekommen. Ein Albtraum für jede Sichtungskraft.«

Eine ähnliche Herausforderung stellen die sogenannten Wiederkommer dar. Sie sind dem Team der Notaufnahme bereits bekannt, weil sie regelmäßig mit denselben, meist harmlosen Beschwerden vorstellig werden.

»Spätestens beim dritten oder vierten Mal ist die Versuchung groß, ihnen keine besondere Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Dann können plötzlich Symptome übersehen werden, die uns normalerweise alarmieren würden.«

Wieder beobachte ich, frage gelegentlich nach und notiere alles in mein Heft. Ich hatte geahnt, dass ich in der Notaufnahme viel Neues lernen würde, dabei aber hauptsächlich an Ausnahmesituationen gedacht: die Konfrontation mit schweren Krankheiten und Verletzungen, Patienten, die mit dem Tod ringen.

Und nun ist es die tägliche, unspektakuläre Kleinarbeit, die die ersten Seiten meines Notizhefts füllt: der Ablauf an der Sichtung, die Übernahme der Patienten durch das Team im Behandlungsbereich, Organisation und Dokumentation, das andauernde Desinfizieren der Hände. Dinge, die einfach sind und für den reibungslosen Betrieb trotzdem unerlässlich. Langsam wird mir klar: Wer die Notaufnahme verstehen will, muss vor allem ihre Routine verinnerlichen.

»So, jetzt hole ich mir erst mal einen Kaffee«, unterbricht Martina meine Gedanken. Im nächsten Augenblick ist sie schon auf den Beinen. »Ich bin in einer Minute wieder da.«

»Moment!«

Martina hält inne und sieht mich fragend an.

»Ähm …«

Was soll ich sagen? Dass vor meinem inneren Auge gerade ein blutiger, abgesägter Finger erscheint? Hier ist das gute Stück.

»Das … Das kann ich doch erledigen.« Ich springe auf. »So mache ich mich wenigstens nützlich. Wie trinkst du deinen Kaffee? Schwarz? Mit Milch und Zucker?«

Briefing: Triage

In der Notfallmedizin können die Fälle nicht in der Reihenfolge ihres Eintreffens bearbeitet werden – es wäre fahrlässig, einen potenziellen Herzinfarkt warten zu lassen, weil ein verstauchter Knöchel früher da war. Deshalb werden die Patienten im Rahmen der Triage in Kategorien unterschiedlicher Dringlichkeit eingeteilt. Das in diesem Buch beschriebene Manchester-Triage-System (MTS) kennt fünf Kategorien, denen die Patienten anhand ihrer Symptome zugeordnet werden. Für jede Kategorie gilt ein verbindlicher Zeitrahmen, innerhalb dessen der erste ärztliche Kontakt erfolgen muss.

Blau: nicht dringend. Maximale Wartezeit: 120 Minuten.

Grün: normal. Maximale Wartezeit: 90 Minuten.

Gelb: dringend. Maximale Wartezeit: 30 Minuten.

Orange: sehr dringend. Maximale Wartezeit: 10 Minuten.

Rot: sofort. Es besteht akute Lebensgefahr.

Als Alternative zum MTS wird in deutschen Notaufnahmen bei der Triage der sogenannte Emergency Severity Index (ESI) verwendet. Dieser nimmt die Einteilung nicht symptom-, sondern ressourcenbasiert vor. MTS und ESI unterscheiden sich im Ergebnis für den Patienten jedoch kaum.

Ist man über die Vorgehensweise bei der Triage informiert, wird man sich über ein wenig Wartezeit in der Notaufnahme kaum noch ärgern. Denn eines steht fest: Wer bei vollem Wartebereich unverzüglich drankommt, hat wahrscheinlich ein sehr ernstes Problem.

Vorwort

Am Ende ist nichts mehr, wie es war.

Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, das tägliche Geschehen in einer Zentralen Notaufnahme zu beschreiben. Ein Profi, den als stellvertretenden pflegerischen Leiter der Zentralen Notaufnahme mit zwanzig Jahren Berufserfahrung kaum noch etwas überrascht. An seiner Seite ein Autor ohne jede medizinische Vorbildung oder Erfahrung, der in eine ihm bislang unbekannte Welt eintaucht und die Pfleger und Ärzte während eines Sommers bei ihren Schichten begleitet.

Als das Manuskript fast fertig war, wurde der Klinikalltag plötzlich von der anrollenden Covid-19-Pandemie erschüttert, gleichzeitig rückten Intensivstationen und Notaufnahmen in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Keine Frage, dass wir diese epochemachenden Ereignisse dokumentieren wollten. Nicht von außen, wie die unzähligen Zeitungen und Online-Newsportale, die seit dem ersten Tag regelmäßig Unmengen an Zahlen und Statistiken veröffentlichen. Sondern von innen, anhand persönlicher Eindrücke direkt aus dem Brennpunkt des Geschehens.

So erhielt unser Buch völlig unerwartet eine neue Dimension. Wobei das Unerwartete schon immer Teil dieses Projektes war – schließlich geht es um einen Ort, an dem man jederzeit mit allem rechnen muss.

Vierundzwanzig Stunden Betrieb an sieben Tagen in der Woche. 46.000 Patientenkontakte pro Jahr. Verstauchte Gelenke, oberflächliche Schnittwunden, mehr oder weniger harmlose Kreislaufprobleme, Folgen von Alkohol- oder Drogenmissbrauch – parallel dazu Unfallopfer mit schwersten Verletzungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle, lebensbedrohliche Vergiftungen. Ärzte und Pflegepersonal der Zentralen Notaufnahme wissen nie, was während der nächsten Schicht auf sie zukommen wird.

Früher oder später verschlägt es wahrscheinlich jeden hierher – egal ob jung oder alt, arm oder reich, erfolgreich oder abgehängt. Tatsächlich kann man behaupten, dass kaum ein Ort alle Schichten, Berufe, Kulturen, Religionen und Überzeugungen so unterschiedslos zusammenbringt. Die Notaufnahme ist für Situationen da, in denen das, was uns voneinander unterscheidet, keine Rolle spielt: Unfälle oder plötzlich auftretende Erkrankungen. Und solche Umstände sind wiederum Auslöser fundamentaler Emotionen: Angst, Sorge und Trauer, nicht selten auch Wut und Aggression. Später kommen hoffentlich Freude und Erleichterung hinzu, gelegentlich sogar ausgelassene Heiterkeit.

Die Zentrale Notaufnahme wirkt in diesem Sinn nicht nur wie ein Spiegel, sondern wie ein Brennglas, das uns das Wesentliche in gebündelter, oft schmerzhaft intensiver Form vorhält. Sie ist ein Grenzbereich, der uns auf den Kern unserer Existenz zurückwirft und uns mit den zentralen Fragen unserer Menschlichkeit konfrontiert, mit unseren Ängsten und Hoffnungen, unseren Stärken und Schwächen, unserem Mut und unserer Verzweiflung. Auf diese Weise entstehen nicht nur die Dramen und Tragödien, die man in einer Klinik erwartet, sondern auch Krimis und Thriller, Romanzen und Komödien – all das, was das Leben ausmacht. Deshalb weisen die Geschichten aus der Notaufnahme weit über den Ort hinaus, an dem sie entstehen. Es lohnt sich zweifellos, sie zu erzählen.

In den folgenden Kapiteln werden wir die Türen einer Zentralen Notaufnahme mit umfassender Versorgung öffnen. Wir werden Einblick in einen Arbeitsalltag gewähren, der um vier Uhr nachmittags genauso wie um drei Uhr morgens ungetrübte Wachsamkeit verlangt, damit die vermeintlichen Kleinigkeiten, die im Zweifelsfall zwischen Leben und Tod entscheiden können, nicht übersehen werden.

Probleme wie den Pflegenotstand, die Belastung des Personals im Schichtdienst oder die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Helfenden kann und darf man dabei nicht ausblenden. Doch unser Anliegen geht darüber hinaus: Wir möchten die Arbeit in der Zentralen Notaufnahme in ihrer Vielseitigkeit zeigen und nachvollziehbar machen, warum es trotz aller Schwierigkeiten Pflegekräfte und Mediziner gibt, die an keiner anderen Stelle tätig sein möchten.

Ordnung und Chaos, Gesundheit und Krankheit, Routine und Ausnahmezustand, Autonomie und Abhängigkeit, Hektik und Konzentration – unsere Geschichten handeln vom Aufbrechen dieser Gegensätze, vom Erfahren und Überschreiten von Grenzen. Nicht zuletzt loten wir mit diesem Buch unsere eigenen Grenzen aus. Der Laie muss mit elementaren neuen Erfahrungen und teilweise erschütternden Eindrücken umzugehen lernen. Der Profi ist gefordert, seine eigene Routine zu hinterfragen und über all die Dinge nachzudenken, die er im Lauf der Jahre zu verdrängen gelernt hat. Wir laden Sie ein, uns bei diesem Experiment zu begleiten. Sehen Sie sich vor: Es wird eine abenteuerliche, aufwühlende Reise voller Höhen und Tiefen.

An ihrem Ende wird nichts mehr sein, wie es war.

23. Februar 2020 – Korrekturen (Fabian Marcher)

Die Sonne scheint durchs Fenster, Mike und ich sitzen an einem großen rechteckigen Tisch, jeder vor seinem geöffneten Laptop. Wir arbeiten konzentriert, lesen, diskutieren, machen uns Notizen. Es sind die Tage, in denen wir unserem Manuskript den letzten Schliff geben wollen. Dafür ist Mike extra über den Brenner zu mir an den Gardasee gereist.

Nebenbei erreichen uns die aktuellsten Nachrichten. Seit zwei Monaten ist von einer neuen Krankheit die Rede, einer Virusinfektion, die in China zu bisher ungekannten Quarantänemaßnahmen für Millionen führte. Die Bilder von Straßensperren und Menschen mit Schutzanzügen, Brillen, Visieren und Atemmasken sind beunruhigend. Andererseits ist das alles auch ziemlich weit weg. Die wenigen Fälle, die bisher anderswo in der Welt aufgetaucht sind – auch in Deutschland –, konnte man offenbar schnell identifizieren und isolieren.

Jetzt ist das Virus jedoch in Italien. Ausgerechnet. Etwa hundert Kilometer westlich von uns, in der Umgebung von Mailand, gebe es Infizierte, heißt es. Außerdem neunzig Kilometer östlich, bei Padua. Dort verzeichnet man bereits einen Toten. Kein Grund zur Panik, in den meisten Fällen verläuft eine Infektion wie eine leichte Erkältung, viele Betroffene bemerken gar keine Symptome. Am Brenner wird vorsichtshalber ein Personenzug aufgehalten, darf erst mit einiger Verzögerung weiterfahren. Wir machen Witze darüber, dass Mike morgen vielleicht nicht mehr über die Grenze gelassen wird. Ein paar zusätzliche Tage in Italien, es könnte Schlimmeres geben, oder?

Dann blinkt Mikes Smartwatch. Eine Nachricht vom Chefarzt der Notaufnahme. Der ist auf dem Weg nach Venedig, zum Karneval. Besser gesagt: Er war auf dem Weg dorthin. Gerade sei er auf halber Strecke umgekehrt, schreibt er. Mike runzelt die Stirn, ich zucke mit den Schultern. Wir arbeiten weiter.

Zu Beginn jedes Kapitels verdeutlicht ein Symbol, aus wessen Perspektive die Geschehnisse in der Notaufnahme im folgenden Text geschildert werden. Die Spritze steht dabei für den Profi Michael Steidl, der Stift für den Laien Fabian Marcher.

Betreff: Buchprojekt

Kann man ja mal machen

Das habe ich jetzt davon. Ich hätte einfach mal schön meine Klappe halten sollen. Dann müsste ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich würde mich nicht fragen, was meine Kollegen wohl von mir denken. Auch nicht, ob ich gerade dabei bin, meinen Ruf bei meinen Vorgesetzten aufs Spiel zu setzen. Oder wie das überhaupt funktionieren soll: ein Buch zu schreiben. Wirklich eine beknackte Idee.

Aber ich wollte es nicht anders. Ich musste der Patientin, von der ich wusste, dass sie gemeinsam mit ihrem Mann bereits einige Bücher veröffentlicht hatte, ja unbedingt erzählen, dass man in der Notaufnahme so wahnsinnig viele interessante Geschichten erlebe. Mir fehle allerdings die Zeit, das alles aufzuschreiben, sagte ich.

Die Patientin wurde geröntgt, verließ uns bald darauf wieder, ich vergaß die ganze Angelegenheit. Ein paar Wochen später drückte mir meine Kollegin Martina bei Schichtbeginn ein Kärtchen in die Hand, das an der Sichtung für mich abgegeben worden sei. Zwei Namen, eine Telefonnummer und eine E-Mail-Adresse. Darunter die Worte Betreff: Buchprojekt.

Ich kontaktierte Julia und ihren Mann Fabian, bald darauf haben wir uns getroffen. Kann man ja mal machen, rein interessehalber. Wir waren uns schnell einig, dass so ein Projekt nur durchführbar wäre, wenn Fabian mich bei der Arbeit beobachten könnte. Er würde die Zentrale Notaufnahme kennenlernen müssen – nicht nur die Räumlichkeiten, sondern auch das Personal und die Abläufe. Nur so wäre es ihm möglich, das von mir Erzählte wirklich einzuordnen.

Damals, vor wenigen Wochen, erschien mir das alles noch unwirklich, eher wie ein Gedankenspiel. Vielleicht habe ich insgeheim sogar gehofft, dass mir die Klinikleitung Steine in den Weg legen oder dass dem Antrag auf Hospitation in der Zentralen Notaufnahme, den Fabian bei der Pflegedienstleitung stellen musste, nicht stattgegeben würde.

Und jetzt? Fabian begleitet mich bereits seit einigen Tagen. Meist hält er sich im Hintergrund, blickt mir, dem übrigen Pflegepersonal und auch den Medizinern über die Schultern, stellt Fragen, zückt sein kleines Notizheft und seinen Kugelschreiber. Manchmal lassen wir ihn den ein oder anderen Botengang erledigen oder bitten ihn, mal eben mit anzufassen. Ich weiß noch immer nicht genau, was am Ende bei alldem herauskommen wird. Aber irgendetwas muss ich mir ja davon versprechen, sonst hätte ich mich nicht darauf eingelassen. Worum geht es mir also?

Wenn unser Beruf in den Medien ist, dann meistens, um auf Unzulänglichkeiten wie mangelnde finanzielle Mittel, zu wenig Personal, die psychische und physische Belastung oder unbequeme Arbeitszeiten hinzuweisen.

Was in der Regel fehlt, ist die andere Seite der Medaille. Unser Arbeitsalltag ist anspruchsvoll und alles andere als vorhersehbar. Wir müssen hochmoderne technische Geräte ebenso beherrschen wie den Umgang mit Menschen jeden Alters, jeden Charakters und unterschiedlichster sozialer oder geografischer Herkunft. Wir übernehmen Aufgaben, die auf anderen Stationen dem ärztlichen Personal vorbehalten sind, wie das Legen von Venenverweilkanülen, Blutabnahmen oder das Anbringen von Gipsverbänden. Wir müssen spontan reagieren und trotzdem die Ruhe bewahren. Jede und jeder von uns muss sich ins Team einfügen, aber gleichzeitig in der Lage sein, im Ernstfall eigenverantwortlich zu handeln, auch wenn es um Leben und Tod geht.

Gerade in der Zentralen Notaufnahme bewältigen wir zusätzlich viel Organisatorisches. Es liegt an uns, den permanenten Zustrom neuer Patienten in geregelte Bahnen zu lenken. Wir müssen erkennen, wer sofort Hilfe braucht und wen wir zunächst zurückstellen können. Wir betreuen die Patienten im Behandlungsbereich und sorgen gleichzeitig dafür, dass der Wartebereich nicht übervoll wird.

Das alles fordert uns. Doch wenn es gelingt, ist unsere Arbeit nicht nur extrem kurzweilig, sondern auch erfüllend und zweifellos sinnvoll. Das kann man wahrlich nicht von jedem Beruf behaupten. Deshalb möchten wir auch nicht bemitleidet werden, weil wir diesen Job machen. Wir möchten dafür respektiert werden. Falls meine Geschichten dazu beitragen, bin ich mehr als zufrieden.

Vielleicht gelingt es mir außerdem, die Menschen zum Vorschein zu bringen, die in der Uniform des Pflegepersonals stecken. Denn das droht, vor lauter berechtigter Sorge um die Patienten der Zentralen Notaufnahme, oft unter den Tisch zu fallen: Wir sind alle nur Menschen. Auch Mediziner und Pflegende müssen irgendwie verarbeiten, was sie tagtäglich erleben. Wir alle haben unseren eigenen Charakter, der uns manches leicht und anderes schwer macht. Gelegentlich sind wir selbst krank, manchmal unsere Partner oder unsere Kinder. Wir haben private Sorgen und Nöte, die wir nicht immer abschütteln können, während wir bei der Arbeit für andere da sind. Aber sich wegen so etwas zurückzulehnen ist nicht drin. Wir werden gebraucht, und der Betrieb muss weitergehen – jeden Tag, jede Nacht, ohne Unterbrechung.

Reingestolpert

Wenn man mich fünf Minuten alleine lässt

Mein erster Tag auf der unfallchirurgischen Seite beginnt ruhig. Wir haben Frühschicht ab sechs Uhr. Weil noch keine Patienten da sind, kümmere ich mich mit Mike um die Wischdesinfektion der Oberflächen im Gipsraum, während er mir von der Feier erzählt, in die er gestern Abend reingestolpert ist.

»Reingestolpert?«

»Meine Nachbarin hatte Geburtstag. Wir wussten gar nichts von einem Fest. Dann haben wir uns über den Zaun hinweg unterhalten, es gab das eine oder andere Bier, und dann kam die Frage auf, warum wir eigentlich nicht rüberkämen …«

Mike wirft ein Desinfektionstuch in den Müll, nimmt ein neues aus der Packung und wischt damit sorgfältig die Kabel eines Überwachungsmonitors ab. »Ich hab zu meiner Frau gesagt: Morgen ist Frühdienst, bitte, sei du die Stimme der Vernunft! Aber nichts da, sie wollte auf jeden Fall hingehen. Und dann … Du weißt ja, wie das ist, wenn man erst mal zusammensitzt.«

Wir putzen weiter, nach einer Weile bricht Mike erneut das Schweigen.

»Ich bin froh, dass wir heute auf der Unfallseite sind. Hab vorhin kurz mit Steffen geredet. Du weißt schon, der rothaarige Internist.«

Ich nicke und beuge mich zu den Vorratsschränken für die Verbände hinunter. Meine Aufgabe ist, jeden Einzelnen der unzähligen Schubladengriffe sorgfältig zu desinfizieren.

»Die haben in der Nacht einen echt deprimierenden Fall reingekriegt«, fährt Mike fort. »Junge Frau, Mitte zwanzig, metastasierendes Lungenkarzinom im Endstadium. Ist wohl kollabiert. Jetzt liegt sie in der Nummer sieben.«

Wir putzen ein paar Minuten schweigend weiter, bevor er innehält, sich zu mir umdreht und sagt: »Das sind Sachen, die einen runterziehen können. Ich meine, wenn jemand alt ist und vielleicht auch noch Kettenraucher, dann … Aber die hatte ja noch nicht mal genug Zeit, um irgendwas falsch zu machen.«

Das Telefon in Mikes Brusttasche klingelt. Er streift seine Gummihandschuhe ab, wirft sie schwungvoll in den Abfallsack und geht ran.

»Ja?«

Er lauscht, zieht die Augenbrauen hoch und reckt den Zeigefinger in die Luft. Das ist kein gewöhnlicher Anruf.

»Schockraum«, flüstert er mir zu. Mike hat mir das Prozedere in solchen Fällen erklärt: Die Leitstelle benachrichtigt den zuständigen Unfallchirurgen, der spricht die Informationen auf Band und schickt diese Nachricht dann gleichzeitig an das Pflegeteam in der Notaufnahme und an alle weiteren Beteiligten in der sogenannten Schockraum-Schleife: Chef- und Oberarzt der Notaufnahme, Anästhesist und Anästhesiepfleger, Oberarzt der Unfallchirurgie, Radiologe, Abdominalchirurg, das Labor. So ist innerhalb von wenigen Minuten das ganze Team informiert.

Mike legt auf.

»Eine Frau, ungefähr fünfzig Jahre alt. Ist mit hundert gegen einen Baum gefahren. Die schneiden sie noch aus dem Auto. Bedingt ansprechbar.«

Ich spüre ein Kribbeln in Händen und Füßen, mir wird ein wenig mulmig. Aber bin ich nicht genau deshalb hier? Wollte ich nicht mit eigenen Augen sehen, wie in der Notaufnahme um Leben und Tod gerungen wird? Vielleicht ist es nun so weit.

»Alles klar«, sage ich, während ich ebenfalls meine Gummihandschuhe ausziehe. »Wir sind hier drin sowieso fertig, oder?« Mike sieht sich noch einmal prüfend um, nickt und verlässt das Zimmer.

Wenig später stehe ich neben ihm im Unfall-Schockraum. Noch sind wir allein. Er startet den Computer und überprüft, ob alles an seinem Platz ist. Im Vorbeigehen haben wir mitbekommen, dass der Tag auf der internistischen Seite langsam Fahrt aufnimmt. Gerade wird dort eine verwirrte ältere Frau mit hohem Fieber und Verdacht auf Meningitis eingeliefert. Weil ohnehin bereits zwei infektiöse, isolationspflichtige Patienten in Behandlung sind, bricht da drüben langsam Hektik aus.

Ein weiß gekleideter, durchtrainierter Mann betritt den Schockraum. Er dürfte nicht älter als 35 sein.

»Das ist Patrick«, sagt Mike, »der diensthabende Unfallchirurg.«

Ich stelle mich kurz vor, der Arzt begrüßt mich mit einem Nicken. Die Nacht sei ruhig gewesen, sagt er, er habe sogar recht viel Schlaf bekommen. Eine Minute darauf erscheint der Anästhesieassistent, dann treffen in kurzen Abständen weitere Mitglieder des Schockraum-Teams ein. Über den kommenden Einsatz wird nur andeutungsweise gesprochen. Jemand wirft einen Blick auf die Uhr über dem Eingang. »Noch zehn Minuten.«

Ich trete hinaus auf den Flur und blicke zu der Doppeltür, durch die die Sanitäter besonders schwere Fälle bringen. Das ist der kürzeste Weg zu den Schockräumen, außerdem bekommen auf diese Weise Angehörige und Patienten an der Sichtung und im Wartebereich weniger mit. Noch ist hier bei uns alles ruhig, anders als in der internistischen Abteilung, aus der ich immer wieder hektische Kommandos höre.

»Ich brauche ein Ultraschallgerät!«

»Ich habs doch vorhin schon gesagt: Wir haben kein freies Überwachungsbett. Die sollen auch mal woanders hinfahren, verdammt!«

»Christoph, schaust du schnell in den Großraum? Ich kann jetzt nicht weg.«

»Wo ist denn jetzt das Ultraschallgerät?«

Sieben Minuten. Mike hat mir schon vor Tagen erzählt, womit ich rechnen muss. Bei Motorradfahrern etwa trete manchmal die sogenannte Schmetterlingsfraktur auf, bei der der zertrümmerte Beckenknochen nach hinten auseinanderklappen könne, als habe er Flügel. Vorsorglich werde den Patienten vom Notarzt oder den Sanitätern ein stabilisierender Gurt umgebunden. Wenn man diese Beckenschlinge im Schockraum öffne, könne es jedoch passieren, dass innere Verletzungen aufbrächen und das Unfallopfer innerhalb von Sekunden verblute. Ich atme tief ein. Wieder dieses seltsame Kribbeln.

Ein Surren, und die Tür öffnet sich. Ein Rettungssanitäter erscheint, er zieht eine Trage hinter sich her, gefolgt von einer Kollegin und dem Notarzt. Sie sind fünf Minuten früher dran als angekündigt. Trotzdem ist alles bereit, das siebenköpfige Schockraum-Team ist komplett, alle mit Gummihandschuhen und weißen Plastikschürzen ausgerüstet. Ich trete ein paar Schritte zurück, um nur nicht im Weg zu stehen. Dann geht es sehr schnell.

Die Trage wird in den Schockraum geschoben. Die Verunglückte liegt darauf, eine Decke ist über ihren Körper gebreitet, ich kann ihr Gesicht und ihr glattes helles Haar sehen. Zunächst erscheint sie bewusstlos, beinahe friedlich schlafend, doch dann hebt sie die Lider und starrt die Leute an, die sich von allen Seiten über sie beugen. Ein ungläubiges Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, bevor sie sich wieder in sich selbst zurückzieht.

Der Notarzt referiert in kurzen, prägnanten Sätzen, wie die Frau vorgefunden wurde, wie sich der Unfall wahrscheinlich abgespielt hat, wie ihr Zustand nach der ersten Beurteilung ist, welche Maßnahmen bereits ergriffen und welche Medikamente verabreicht wurden. Kreislauf den Umständen entsprechend stabil, keine schwerwiegenden äußeren Verletzungsanzeichen. Der Wagen hat sich wohl vor dem Aufprall zur Seite gedreht, sodass der Einschlag im hinteren Bereich erfolgte.

Einer der Sanitäter zeigt den Bildschirm des NIDApads in die Runde, darauf ist ein Foto vom Unfallort zu sehen. Der rote Kleinwagen ist total verformt, hat sich um den Baumstamm gewickelt. Dass die Frau in augenscheinlich gutem Zustand aus diesem Wrack herausgeholt werden konnte, erscheint mir wie ein Wunder.

Jemand nimmt die Decke weg. Die Kleidung der Frau wird aufgeschnitten und in einen Plastikbeutel gesteckt, ihr nur noch mit einem Slip bekleideter Körper auf Spuren von Verletzungen untersucht. Dann wird ihr ein knallrotes Umlagerungsbrett aus Kunststoff untergeschoben.

»Drei, zwei, eins, jetzt!«

Mit vereinten Kräften zieht das Team die Frau von der Trage auf die Schockraum-Liege. Jede Bewegung wirkt routiniert, alle wissen genau, was sie zu tun haben. Patrick überprüft noch einmal kritische Stellen auf eventuelle Knochenbrüche, währenddessen wird eine Infusion vorbereitet, die Radiologieassistentin öffnet die Zwischentür, die Schockraum und CT-Bereich trennt. Wenig später steht die Liege bereits direkt vor dem Computertomografen, das ganze Team wechselt den Raum, nur ich bleibe zurück.

Durch ein Fenster in der nun wieder geschlossenen Zwischentür kann ich beobachten, wie sie das Unfallopfer für die Untersuchung vorbereiten. Zuerst scheint alles glattzugehen, doch plötzlich entsteht Unruhe. Durch die Tür kann ich die Aufregung in den gedämpften Stimmen der Ärzte und Pfleger hören.

Die Patientin bewegt sich, einen Augenblick lang sieht es so aus, als wolle sie sich aufrichten. Mehrere Hände helfen ihr, sich auf die linke Seite zu rollen, jemand greift nach einem Plastikbeutel und hält ihn ihr vor das Gesicht. Die Frau übergibt sich hinein. Drei Mal innerhalb von einer Minute. Schließlich wird sie wieder behutsam auf den Rücken gedreht, und die Vorbereitungen für die Computertomografie laufen weiter.

Etwas später hat sich das Schockraum-Team in den Beobachtungsbereich zurückgezogen, das CT-Gerät arbeitet. Nur Mike steht nun draußen neben mir und späht ebenfalls durch das kleine Fenster.

»Sie ist bei Bewusstsein?«, frage ich.

»Ja, die meiste Zeit schon«, antwortet Mike, ohne den Blick vom Geschehen abzuwenden, »aber sie steht total neben sich. Kann sich an nichts erinnern. Wir haben sie gefragt, wohin sie wollte, was sie vorhatte, aber da kam nichts. Sie weiß nicht mal, welcher Tag heute ist. Kein Wunder bei der Geschwindigkeit. Und dann fast ungebremst gegen den Baum.«

»Meinst du, es war Absicht?«

Mike schüttelt den Kopf und deutet auf eine transparente Tüte, die die Sanitäter in einer Ecke des Schockraums abgestellt haben, bevor sie gegangen sind.

»Da sind die persönlichen Sachen aus dem Auto drin. Ein Rucksack, Turnschuhe, Sportklamotten. Das nimmt man nicht mit, wenn man sich umbringen will.«

Stimmt. So etwas hat man dabei, wenn man an seinem freien Tag irgendwo ein bisschen Sport treiben möchte oder wenn man zu einer leichten Wanderung in die Berge aufbricht. Man packt seine Tasche, greift nach den Autoschlüsseln, verlässt das Haus. Vielleicht verabschiedet man sich vorher noch vom Partner und von den Kindern, wechselt am Gartentor ein paar Worte mit der Nachbarin. Ohne auf den Gedanken zu kommen, dass es das letzte Mal sein könnte.

Als der Computertomograf fertig ist, stößt Mike wieder zum Team. Ich bleibe allein im Schockraum zurück und starre in Gedanken versunken auf die Tüte mit den Sportsachen. Irgendwann merke ich, dass meine Kehle total ausgetrocknet ist. Im Pausenraum habe ich eine Wasserflasche abgestellt. In einer Minute werde ich zurück sein. Auf dem Weg komme ich am Organisationstresen vorbei. Dahinter, im internistischen Bereich, herrscht jetzt totales Durcheinander. Eine Ärztin beklagt sich bei zwei Sanitätern, die gerade einen weiteren Pflegefall abgeliefert haben.

»Was stellen die sich vor? Erst melden sie einen Schockraum an – und schicken uns dann noch drei Rettungswagen! Hier stehen eh schon alle kopf. Wie sollen wir das schaffen?«

Die beiden Sanitäter zucken betreten mit den Schultern, ihr Gesichtsausdruck gibt die Antwort: Wir können nichts dafür, wir machen auch nur unseren Job. Ich hole meine Wasserflasche aus dem Pausenraum, nehme sie mit hinaus zum Organisationstresen, wo ich sie öffne und einen Schluck trinke.

»He, du – kannst du mir vielleicht helfen?«

Eine atemlose Frauenstimme in meinem Rücken. Ich drehe mich um. Es dauert einen Moment, bis ich hinter der hellgrünen Mund- und Nasenschutzmaske das Gesicht einer jungen Neurologin erkenne, die ich während der vergangenen Tage bereits ein paarmal gesehen habe. Miteinander gesprochen haben wir allerdings noch nie.

»Ja, natürlich«, antworte ich. Dann denke ich an mein wohl irreführendes Pfleger-Outfit und füge hinzu: »Aber ich bin nicht vom Fach, deswegen weiß ich nicht …«

»Hast du Angst vor Nadeln?«

»Nein.«

»Kannst du eine ältere Frau festhalten?«

»Ja, ich denke schon. Aber …«

»Dann kannst du mir helfen. Aber du musst dir Schutzkleidung anziehen. Komm!«

Kurz darauf stehen wir im internistischen Bereich, direkt vor dem Behandlungsraum Nummer zwei. Ich kämpfe mit dem langärmligen grünen Kunststoffkittel, während ich erfahre, dass es um die vorhin eingelieferte vermeintliche Meningitis-Patientin geht. Wegen der Möglichkeit einer Infektion wurde sie isoliert – was bedeutet, dass man ihr Zimmer nur mit Schutzkleidung betreten darf und im Umgang mit ihr auch ansonsten strenge Hygienestandards gelten.

»Ich muss eine Lumbalpunktion vornehmen, damit wir eine Meningitis ausschließen können«, erklärt die Neurologin. »Leider ist die Frau sehr unruhig und etwas verwirrt. Da habe ich allein keine Chance. Wir müssen dafür sorgen, dass sie sich nicht bewegt, solange der Eingriff dauert.«

Eine Lumbalpunktion habe ich in den letzten Tagen bereits zweimal aus sicherer Entfernung beobachtet. Dabei wird eine ziemlich lange Nadel in den Lendenwirbelbereich des Patienten eingeführt, um Liquor, also Rückenmarksflüssigkeit, zu entnehmen und vom Labor untersuchen zu lassen. Da jeweils fünf bis sechs Proben genommen werden, dauert das etwa eine Viertelstunde. Allerdings waren die Patienten, bei denen ich den Eingriff verfolgen konnte, relativ jung und haben die ganze Zeit über brav stillgehalten.

»So, jetzt noch Handschuhe, dann gehts los.«

Ich habe mir inzwischen ebenfalls eine Mund- und Nasenschutzmaske angelegt. Nun nehme ich mir gelbe Einweg-Gummihandschuhe der Größe L aus dem Karton und ziehe sie mir über. In der Milchglastür, die den Behandlungs- vom Wartebereich trennt, sehe ich mein Spiegelbild. Es erinnert mich an Klausjürgen Wussow alias Dr. Brinkmann in seinem OP-Outfit im Vorspann der Schwarzwaldklinik. Ich schüttle den Kopf. Was tue ich hier?

»Los, nur Mut!«

Die Neurologin steht bereits im Behandlungsraum und wartet ungeduldig auf mich. Ich sehe mich noch mal um. Es geschieht kein Wunder, niemand erlöst mich. Kein Mensch hat überhaupt die Zeit, Notiz von mir zu nehmen. Abgesehen davon, dass in meinem jetzigen Aufzug sowieso keiner merkt, dass ich nur der Autor bin, der hier seit ein paar Tagen neugierig herumschleicht. Ich drehe mich wieder um und betrete das Behandlungszimmer.

»Das ist Frau Brenner«, sagt die Neurologin. Und dann, zu der mit dem Überwachungsmonitor verkabelten Dame im hellblau geblümten Nachthemd gewandt, die mich von ihrer Liege aus etwas verschreckt anstarrt: »Frau Brenner, wir müssen nun eine Lumbalpunktion bei Ihnen vornehmen. Ich habe mir den Kollegen geholt, der mir dabei helfen wird. In Ordnung?«

Frau Brenner zeigt keine Regung, sie starrt mich noch immer unverwandt an. Ich habe nicht den Eindruck, dass der zierlichen alten Frau mit den verstrubbelten, rötlich gefärbten Haaren der Begriff »Lumbalpunktion« etwas sagt. Ich bin nicht einmal sicher, dass sie weiß, wo sie sich befindet.

»Grüß Gott.« Ich versuche mich an einem vertrauenerweckenden Lächeln. Keine Reaktion.

Die Neurologin hat einen OP-Beistelltisch neben die Liege gefahren und darauf die Liquor-Röhrchen und die für die Punktion nötigen sterilen Instrumente bereitgelegt.

»Gut, dann fangen wir jetzt an.« Sie bemüht sich, deutlich zu sprechen. »Wir müssen Sie auf die Seite drehen, Frau Brenner.« Sie bedeutet mir, mit anzufassen.

»Ich muss dann mal raus!« Die Stimme der alten Dame klingt erstaunlich forsch.

Die Neurologin seufzt, sieht erst mich an, dann Frau Brenner. »Müssen Sie auf die Toilette?«

»Ja.«

Auf der Stirn der Ärztin erscheinen kleine Schweißtropfen. Auch ich merke, wie sich meine Körperwärme unter der Schutzkleidung zu stauen beginnt.

»Groß oder klein?«

»Ja.«

Okay, das dürfte länger dauern. Natürlich könnten wir das Anliegen der alten Dame als Folge ihrer offensichtlichen Verwirrung abtun. Andererseits ist es vielleicht die Ursache für Frau Brenners Unruhe. Immer wieder versucht sie aufzustehen und muss mit beruhigenden Worten und sanftem Druck überzeugt werden, liegen zu bleiben. Wenn ich ihren Arm berühre, spüre ich durch den Gummihandschuh die Hitze ihres fiebrigen Körpers.

Die Ärztin schickt mich raus, ich soll eine Bettpfanne besorgen. Dazu muss ich den Isolierbereich verlassen und die Schutzkleidung wieder ablegen. Dann wende ich mich an eine vorbeihetzende Pflegerin, die sofort abwehrend die Hände hebt. »Tut mir leid, ich habe jetzt wirklich keine Zeit!«

Ich stelle mich ihr in den Weg und erkläre mit knappen Worten, was ich brauche. Sie hält gezwungenermaßen inne, öffnet eine Schublade in einem Schrank gegenüber dem Organisationstresen, holt eine Bettpfanne heraus und drückt sie mir mit einem knappen »Viel Glück!« in die Hand. Eine Sekunde später sehe ich sie nicht mehr.

Mit einem neuen Satz Schutzkleidung ausgerüstet, versuche ich kurz darauf, Frau Brenner, der ich gemeinsam mit der Ärztin die Erwachsenenwindel abgenommen habe, die Bettpfanne unterzuschieben.

»Ich muss mal raus«, sagt Frau Brenner, strampelt mit beiden Beinen und will sich wieder aufrichten. Für ihren Zustand und ihr Alter ist sie erstaunlich kräftig.

»Es hilft nichts«, seufzt die Neurologin. »Wir brauchen einen Toilettenstuhl.«

Es ist klar, wer den besorgen wird. Ich nicke und mache mich auf den Weg, entledige mich draußen erneut des Mund- und Nasenschutzes, der Schürze und der Handschuhe. Dann laufe ich in Richtung des Nebeneinganges, wo sich ein als Materiallager genutztes Zimmer befindet.

»Wo kommst du denn her?«

Mike steht auf dem Flur und starrt mich entgeistert an.

»Das willst du nicht wissen.«

»Mann, da lässt man dich mal fünf Minuten alleine …«

»Ich brauche einen Toilettenstuhl.«

Wortlos kehrt Mike um und begleitet mich. Eine Minute später habe ich mir zum dritten Mal neue Schutzkleidung übergezogen, schiebe den Stuhl, dessen Sitzfläche eine verschließbare Kunststoffschüssel bildet, in Behandlungsraum Nummer zwei, stelle ihn neben Frau Brenners Liege ab, blockiere die Räder mit den Feststellbremsen und hieve die alte Dame gemeinsam mit der Neurologin darauf. Während wir anschließend darauf warten, dass Frau Brenner ihr Geschäft erledigt, spricht die Ärztin ohne Unterlass.

»Ich weiß nicht, wie das klappen soll, so agitiert, wie die ist. Aber in einer halben Stunde muss ich zur Visite mit dem Oberarzt, bis dahin muss die Lumbalpunktion erledigt sein. Obwohl es nur darum geht, die Meningitis auszuschließen, die sie meiner Ansicht nach sowieso nicht hat. Ich tippe auf einen Harnwegsinfekt. So gesehen ist sie eigentlich gar nicht meine Patientin, sondern ein Fall für die Urologie …«

Wir lassen ein paar Minuten vergehen, das Ergebnis ist eine winzige Urinlache im Auffangbehälter des Toilettenstuhls. Dafür hat sich die ganze Aktion kaum gelohnt. Immerhin haben wir etwas gelernt: Wenn Frau Brenner sitzt, bewegt sie sich deutlich weniger. Das könnte unsere Chance sein. Wir heben sie wieder zurück, legen ihr mit einiger Mühe eine neue Windel an und setzen sie dann auf die Bettkante. Von draußen dringt gedämpft das Geräusch schwerer Stiefel herein, begleitet vom Quietschen und Klappern einer Trage. Die Rettungssanitäter bringen schon wieder Nachschub.

»Ab jetzt gut festhalten!«, ermahnt mich die Neurologin. »Das ist wichtig.«

Ich fasse Frau Brenner mit beiden Händen an den Oberarmen und blicke ihr in die Augen.

»Frau Brenner, die Ärztin wird jetzt einen kleinen Eingriff vornehmen«, erkläre ich. »Und solange das dauert, legen Sie bitte Ihre Arme um mich und halten sich an mir fest. In Ordnung?«

Ich lächle, dann fällt mir ein, dass der verdammte Mundschutz meine Mimik unsichtbar macht. Frau Brenner reagiert auch nicht, sondern starrt mich nur an und sagt: »Ich muss raus!«

»Das geht nicht, Sie müssen sich noch ein bisschen gedulden, bis die Ärztin fertig ist. Zwischendurch spüren Sie vielleicht ein Piksen im Rücken, aber dann halten Sie sich einfach an mir fest. Ich denke, das kriegen wir hin, oder?«