Ein historischer Kriminalfall
aus den Papieren Alexander MacKendricks, Gentleman

Die Protokolle aus dem Old Bailey erschienen zwischen 1674 und
1913 in Form eines Periodikums. Diese Drucke, jeweils kurz nach
Abschluß einer Verhandlungsserie veröffentlicht, waren ein großer
Verkaufserfolg. Auf der Abb. rechts zu sehen: Der Name des Richters
Sir Carmichael Clam sowie der Beginn der Sache Jonathan Merritt,
die am 30. August und den folgenden Tagen als erstes
verhandelt wurde
.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

 

September 1786 – Hamburg

Ich erfuhr von der Anklage gegen meinen Freund John Merritt aus der Zeitung.

Ich befand mich im Lesesaal der Angelsächsischen Handelsgesellschaft zu Hamburg. Ich saß und las mich durch die Presseerzeugnisse aus aller Herren Ländern, die hier in erfreulich großer Zahl bereitgehalten wurden. Soeben überflog ich die neueste Ausgabe eines noch jungen Londoner Blattes, froh, hier Kunde aus der lang entbehrten Heimat zu finden, als ich inmitten der übrigen, nicht gerade weltbewegenden Meldungen an jenen Worten hängenblieb.

Ich war eben erst in Hamburg angekommen. Zwei Tage waren damit herumgegangen, am Ort ein Logis zu finden, mich von der langen, mühevollen Fahrt im Reisewagen auszuruhen, meine derangierte Garderobe in Stand zu setzen, mich frisch frisieren zu lassen, ein paar Briefe zu schreiben und einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen, um mich wieder ein wenig mit der Stadt vertraut zu machen und ein paar neue Sehenswürdigkeiten zu inspizieren. Ich war vor einigen Jahren schon einmal hier gewesen. Ich mochte Hamburg. Es erinnerte mich an London, das geliebte London, an seine Ufermauern und Boote, an seinen Teergeruch und seine Betriebsamkeit. Ein London allerdings wie durch ein umgedrehtes Fernrohr betrachtet, war doch hier alles auf viel kleinerem Raum zusammengeduckt.

Jetzt war es Vormittag. Zeitig für meine Begriffe, war ich von blutgierigen Krabbeltieren aus meinem Hotelbett getrieben worden und hatte ein fashionables öffentliches Frühstückslokal aufgesucht, wo würdige Handelsherren mit goldenen Uhrketten und bestickten Westen neben mir den Morgenkaffee schlürften und ihre Gabelbissen vertilgten. Und nun saß ich lesend im zweiten Obergeschoß des Hauses an der inneren Alster, in welchem die Angelsächsische Gesellschaft residierte und wo einem reisenden Landsmann von gediegenem Ansehen gern Einlaß gewährt wurde. Der Raum, in dem ich mich befand, glich weniger einem praktischen Studiersaal als einem Salon, mit Sitzgruppen, edlen Holztäfelungen sowie schweren Vorhängen und Teppichen, die jeden Laut dämpften. Eine Fensterreihe blickte über das Wasser. Ich lehnte mit meiner Zeitung bequem in einem der lederbezogenen Ohrenbackensessel und ahnte nichts Böses.

Es war ein Spätsommertag, wie er im Buche steht. Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Scheiben. Wenn ich den Kopf hob, sah ich draußen das Glitzern auf den vom leichten Wind gekräuselten Wellen…

Oder nein, wir wollen genau sein! Ich verfalle in meine Gewohnheit – die Gewohnheit des Schriftstellers. Denn das ist meine Passion, die zu einer Profession geworden ist: Ich reise – reise, schreibe darüber in die Heimat, mein Verleger macht aus diesen Briefen ein Buch, und von seinem Geldertrag reise ich weiter. So ist es mir zur Gewohnheit geworden, das, was mir auf meinen Reisen begegnet, literarisch zu behandeln.

Doch hier geht es um eine ernste Angelegenheit, die mich persönlich tief betroffen hat. Hier soll wahrheitsgetreu und ohne Umschweife berichtet werden:

Nichts glitzerte draußen, die Sonne war bedeckt, und wenn ich es mir überlege, so würde sie, selbst wenn sie hell geschienen hätte, ihrem Himmelsstand zu dieser Tageszeit nach auch gar kein Glitzern auf die Wellen gezaubert haben können, jedenfalls nicht von meinem Blickwinkel auf das Gewässer aus. Auch von Wellengekräusel kann keine Rede sein, denn die Alster in ihrem Becken schwappte breit und dunkel unter dem träge aus den Straßen dringenden, von keinem Windstoß aufgefrischten Dunst. Kurz, es war ein gewöhnlicher Tag in Hamburg. Die Stadt war grau und satt, und in der Luft lag eine Ahnung von Nieselregen. Keine heitere Stimmung. Aber eben: ganz gewöhnlich. Nichts, das die Pensionäre und wettergegerbten Schiffseigner hätte aufmerken lassen, die sich mit mir im Raume befanden. Friedlich dösten sie hinter ihren aufgefalteten Gazetten. Nichts ließ Unheil erahnen.

Ich war guter Dinge. Wohliger Dämmer begann mich einzuhüllen nach meinem Morgenmahl und infolge der tiefen, ruhigen Atemzüge um mich herum. Die Nähe des Wassers ließ mich meinen Geist allmählich wieder auf die Heimat richten. Ich griff nach einem weiteren Nachrichtenblatt, das, wie alle übrigen, natürlich schon etliche Tage alt war. Ich überflog die zahlreichen Meldungen – bis mein Blick plötzlich an dem vertrauten Namen hängenblieb.

Auf der Stelle war ich wieder ganz wach. Ich las die mit dem Namen verbundenen Worte: jene Worte, mit denen meine ganze Welt plötzlich aus ihrer Ordnung geworfen wurde. Zunächst las ich, ohne den Sinn richtig zu erfassen. Ich fühlte mich erstarren, ohne noch den Grund zu begreifen. Ich entzifferte die Worte, den Satz noch einmal. Nun verstand ich: John, mein ältester, mein bester Freund, ja: der einzige wahre Freund, den ich auf dieser Welt besaß, war von einem fürchterlichen Geschick bedroht!

Der Satz lautete: »Mr. Jonathan Merritt, Mitinhaber des Londoner Verlagshauses Merritt & Hopkins, wird beschuldigt, den bekannten Verleger Sir Henry Mulbisher ermordet zu haben.«

Ich war einige Monate in den deutschen Landen hin- und hergereist. Meine Wege waren zu planlos und verschlungen, meine Aufenthalte zu kurz gewesen, als daß mich das Ausbleiben von Nachrichten aus der Heimat verwundert hätte. Briefschaften an mich, so mußte ich vermuten, lagerten auf irgendwelchen Poststationen und warteten vergeblich darauf, von mir abgeholt zu werden, oder reisten mir von Hotel zu Hotel hinterher, ohne mich je einholen zu können. Oder aber sie waren erst gar nicht abgeschickt worden, da niemand genau wußte, wo ich mich zum Zeitpunkt ihres Eintreffens gerade aufhalten würde.

In Regensburg hatte ich einem adligen Gesandten tatkräftig dabei geholfen, den Besitz gewisser wichtiger Geheimdokumente wiederzuerlangen. In Dresden hatte ich in einer anderen delikaten Angelegenheit, welche sich um eine gewisse hochgestellte Persönlichkeit sowie um ein kostbares Juwel drehte, eine nicht ganz unwichtige Rolle gespielt. In der idyllischen Szenerie eines preußischen Provinzhofes wurde ich zum Zeugen eines mysteriösen Todesfalles, in dessen Folge es galt, mich irriger Verdächtigungen zu erwehren. Zu Berlin hatte ich eine Zeitlang von der Bildfläche verschwinden müssen, wegen einer Affäre mit weitreichenden diplomatischen Implikationen. Zudem hielt mich eine sich dabei ergebende amouröse Episode von nicht alltäglicher Art in Bann. In Hannover schließlich griff ich einer jungen Witwe unter die Arme, ihr Erbe gegen den Zugriff durchtriebener Verbrecher zu verteidigen. Kurzum, mein Kopf war voll mit allen möglichen Dingen, welche sich in unmittelbarer Nähe abspielten, viel näher als das gute, alte, doch immer so beständige London, und ich hatte alles andere zu tun, als Zeitungen zu lesen. Auch waren englische Zeitungen hierorts Mangelware – die norddeutsche Hafen- und Handelsmetropole bildete eine rühmliche Ausnahme. Und wie hoch Sir Henry Mulbisher auch seine eigene Bedeutung veranschlagt hatte, so bedeutsam war er jedenfalls nicht, daß deutsche Gazetten seinen Tod einer Erwähnung für würdig befunden hätten.

Die vollständige Zeitungsmeldung, abgedruckt unter der Rubrik »Vor Gericht« und eingeleitet durch den oben zitierten Satz, war denkbar kurz. Ich las sie immer und immer wieder – weckte dabei wohl den einen oder anderen der Schläfer durch unwillkürliche Ausrufe aus seinen sorglosen Träumereien – und konnte aus ihrem Wortlaut doch nicht mehr ziehen als ein paar magere Fakten.

Der eigentliche Vorfall lag Monate zurück. Sir Henry war während einer Kutschfahrt erdolcht und mein Freund, der mit ihm im Wagen gereist war, daraufhin verhaftet worden. Soviel ich ausmachen konnte, war John der einzige andere Fahrgast neben Sir Henry gewesen – jedenfalls wurde angedeutet, daß aufgrund der eindeutigen Sachlage mit einem kurzen Prozeß zu rechnen sei. Als Datum der Verhandlung vor dem Krongericht in Old Bailey wurde der 30. August genannt, den Vorsitz führe der Sehr Ehrenwerte Sir Carmichael Clam.

Da saß ich nun. Das Papier in meinen zitternden Händen raschelte.

Die Zeitung hatte ein Weilchen gebraucht, um von London nach Hamburg zu reisen. Der Monat August war just verstrichen. Die Verhandlung war also schon in vollem Gange.

Ich vermochte nicht zu glauben, daß mein Freund einen anderen Menschen ermordet haben sollte. Und heiße dieser Mensch auch Henry Mulbisher.

Ich kannte John in- und auswendig, seinen guten, ja edlen Charakter.

Es war ausgeschlossen!

Oder gab es doch einen Zweifel in mir? Ich kannte auch seine Empfindsamkeit, kannte die Momente abgrundtiefer Verzweiflung und seine Bitterkeit.

Kaum vermag ich auszudrücken, wie sehr erschüttert und verwirrt ich war.

Was war da nur mit meinem Freund geschehen?

Ich beschloß, mich sofort in die Heimat einzuschiffen.

Dover

Einen ganzen Tag lang mußte ich herumlaufen, ehe ich ein Schiff fand, das nach England abging und mich mitzunehmen bereit war. Die Bark, auf der man mir endlich eine Kabine gab, erwies sich als ein armseliger Haufen vermoderter Planken unter der Führung eines Kapitäns von äußerst grimmigem Gebaren. Überdies sollte es erst drei Tage später seine Fahrt beginnen. Doch ich hatte keine Wahl.

Die Wartezeit quälte mich. Während die ängstliche Unruhe in meinem Herzen zunahm, bemühte ich mich, genauere Kenntnis über die Vorkommnisse in der Heimat zu erlangen. Doch es war vergeblich. Keiner der in Hamburg ansässigen Landsleute, die ich aufsuchte, keiner der von England her eingelaufenen Schiffsführer oder Passagiere hatte etwas darüber gelesen oder gehört.

Endlich stach mein windschiefer Seelenfänger in See. Die Überfahrt nahm einen wahrhaft höllischen Verlauf. Was geschah, machte sie zu einer der schlimmsten, wenn auch interessantesten meiner Reisen. Aber diese Begebenheiten verdienten einen eigenen Roman. Sie gehören nicht in dieses Buch, das einem anderen Ereignis gewidmet bleibt. Jedenfalls war ich froh, als wir uns endlich der lieblichen Küste Englands näherten.

So lieblich die Landschaft jener Küste dem anlandenden Seefahrer erscheint: Dover, ihre Hafenstadt und das Ziel meines Fährschiffs, ist ein gar elender Ort. Darin gleicht er den Posten aller seefahrenden Gemeinwesen auf der Welt. Ich habe schon viele, viele von ihnen in meinen Berichten geschildert und dabei meinen Vorrat an Ausdrücken des Häßlichen, Gewöhnlichen, Niederdrückenden erschöpft. Allerdings ist Dover doch wenigstens groß: Groß genug, daß sich hinter seinen Mauern und Schanzen auch das eine oder andere Haus behauptet, welches dem bedürftigen Durchreisenden einen gewissen Luxus bietet. Zu einem entsprechenden Preis, versteht sich. So das an der Hauptstraße gelegene Orb and Arrow.

Der schiffbrüchige Robinson, von den Fluten ans rettende Gestade seiner einsamen Insel gespült, kann kaum dankbarer gewesen sein als ich, der ich mich den ofenwarmen Küchlein hingab, welche mir im Orb and Arrow sogleich aufgetischt wurden. Und noch dankbarer stürzte ich mich auf die Gazetten aus der Hauptstadt, die ich in großer Zahl und so aktuell, wie es die Überlandpost eben erlaubte, vorfand. Zum Wohle wissensdurstig heimkehrender Weltenbummler bewahrte diese staunenswerte Nobelherberge nicht nur die jeweils jüngste Ausgabe eines jeden Blattes auf, sondern ganze Jahrgänge. Ich ging alles durch. Endlich, nach Tagen ängstlichen Grübelns und sinnloser Selbstbefragung, gewann ich nun ein umfassendes Bild des Falles. Es war unglaublich genug. Unglaublich und schrecklich.

Denn in der mittlerweise verstrichenen Zeit – zwischen der Meldung, die ich in Hamburg gelesen hatte und der Gegenwart – war der Prozeß bereits zu Ende gebracht worden. Das Urteil gegen meinen Freund war gefällt. Es lautete: Tod durch den Strang!

Mein Freund und Sir Henry Mulbisher, las ich mit zunehmender Bestürzung, waren am letzten Tag des Monats März im selben Mietwagen der London & Middlesex Coachways von der Hauptstadt nach Brentham gereist, wo jeder der beiden Männer ein Anwesen besaß. Andere Fahrgäste reisten an dem Tag nicht auf jenem Teil der Strecke. Bei der Ankunft nach mehrstündiger Fahrt öffnete man den Verschlag des Gefährts, bei welchem es sich um den üblichen geschlossen, kastenförmigen Überlandwagen handelte, und fand drinnen Sir Henry leblos auf den Polstern seiner Bank sitzend. Wie sich zeigte, war er erstochen worden – aus seiner Brust ragte das Heft eines Messers.

John habe der Entdeckung des Toten mit seltsamer benommener Verwirrung beigewohnt. Obwohl er Sir Henry während der ganzen Fahrt gegenübergesessen hatte, gab er an, keine Kenntnis über das Vorgefallene zu besitzen. Er habe geschlafen und nichts bemerkt – eine Aussage, die unter den gegebenen Umständen für höchst unglaubwürdig gelten mußte. Als mutmaßlicher Mörder wurde er ergriffen und in Arrest geführt. Der Kutscher, neben den beiden Männern als einzige weitere Person auf der verhängnisvollen Reise zugegen, hatte auf seinem Kutschbock vorn auf dem Dach nichts von den Vorgängen im Innern des Wagens mitbekommen. Er konnte nur bestätigen, daß das Gefährt zu keinem Zeitpunkt einen weiteren Passagier aufgenommen und unterwegs überhaupt nicht angehalten hatte.

So daß das Urteil gegen meinen Freund eine klare Sache gewesen sei, allen Beteuerungen seiner Unschuld zum Trotz. Diese seine Beteuerungen wurden in mehreren der Artikel, die ich studierte, in abwertender Weise erwähnt. Offenbar hätte man es ehrenvoller gefunden, wenn der Angeklagte, da seine Schuld doch so klar ersichtlich war, sich vor Gericht zu seiner Tat bekannt hätte. Ein Schreiber deutete an, John sei offenkundig verwirrt im Geiste. Die anderen sahen den Grund für den Mord in einer jahrelangen, zu starken Haßgefühlen gesteigerten Rivalität der beiden Buchverleger. An einer Stelle wurde Sir Henry als Johns »erfolgreicher, vom König für seine Verdienste geadelter Konkurrent« bezeichnet.

Ich starrte auf das Bild, das in einer der Zeitungen abgedruckt war – es handelte sich um dasjenige Blatt, welches den längsten Bericht über Mordfall und Verhandlung brachte. Es zeigte ein gestochenes Porträt Sir Henry Mulbishers. Das Bild gab sein Antlitz getreulich wieder: die senkrecht in die Wangen gegrabenen Linien, die hochmütige Stirn, die farblose Iris und die lange schmale Nase, die am Ende schanzenartig hervorschoß wie der Schnabel eines reizbaren Schwimmvogels.

Ich war Sir Henry nur wenige Male in persona begegnet, doch hatte sich seine Erscheinung meinem Gedächtnis eingeprägt. Das Zeitungsbild erweckte vollends seine gesamte äußere Gestalt vor meinem geistigen Auge. Wie er die Schultern straffte und das Kinn reckte. Wie er die Finger seiner beiden Hände spreizte. Wie er den Gehstock aufstieß. Wie er den Schritt seiner Füße setzte – welche stets nur in sehr schmal geschnittenen, vom teuersten italienischen Schumacher in London aus dem allerfeinsten Leder und mit dünnen Sohlen gefertigten Schuhen steckten –, wobei die Spitze zunächst nach vorne schoß und dann einen arroganten Bogen nach außen beschrieb, ehe der Fuß den Boden berührte. Alles in allem der Habitus eines Mannes, der sehr viel von sich selbst hielt und sehr wenig von anderen.

Ich vermutete, daß das Porträt sein Vorbild in jenem großen Gemälde besaß, welches ich bei meinem einzigen Besuch der Geschäftsräume Sir Henrys gesehen hatte. Es hing dort an der Wand direkt hinter seinem Stuhl. Auf diese Weise sah sich der Besucher gleich zwiefach dem kalten Blick und dem schmallippigen Mund des Verlagsinhabers gegenüber: ein gespenstisches Arrangement, und eine wahrhaft einschüchternde Erfahrung. Während das Zeitungsporträt nur die Büste in alltäglichem Anzug darstellte, zeigte das Ölbild – von niemand Geringerem als Reynolds gefertigt, wenn ich mich recht erinnerte – Sir Henry in ganzer Figur, angetan in strengem Jagdhabit, die Büchse in der Hand und umgeben von fletschenden Hunden und was an Accessoires dieses hochherrschaftlichen und gewalttätigen Sports in solchen Darstellungen üblicherweise noch alles zum Einsatz kommt. Sofern mich meine Erinnerung an dieses Gemälde nicht trog, hatte ihm der Stecher des mir nun vorliegenden Druckes die Perspektive, die Körperhaltung, die Haartracht und die Charakteristika des Gesichtes getreulich nachgebildet.

Dies war Sir Henry – der Mann, den so viele verabscheuten. Mein Freund nicht ausgenommen.

Und mein Freund hatte ihn ermordet: So hatten es die Geschworenen für erwiesen befunden. Sie hatten ihn zum Tode durch den Strang verurteilt. Die Vollstreckung des Spruchs war für den 23. September anberaumt. Von nun an gerechnet, eine Galgenfrist von gerade einmal zehn Tagen!

Weiß ich noch, was ich empfunden habe, als ich das erfuhr? Mein Gedächtnis scheint hier eine Leerstelle aufzuweisen. Schock, Wut, Unglaube – was waren meine Gefühle angesichts des Unglücks, das so plötzlich hereingebrochen war? Die vorangehenden Tage, in Hamburg und während meiner Überfahrt, hatte ich bang auf weitere Nachrichten gewartet. Dies hatte ich aber denn doch nicht für möglich gehalten.

Ich hielt es noch immer nicht für möglich. Mein Hirn verweigerte, sich die schreckliche Szene wahrhaftig auszumalen: Die Schlinge um den Hals meines Freundes, die Falltür, das Ende… Vielleicht lehnt unser Geist es ab, zu erfassen, was nicht sein darf. Ich war außerstande, an die Richtigkeit des Urteilsspruches zu glauben. John Merritt – der John Merritt, den ich kannte – war kein Mörder!

Welche Empfindungen auch immer mich in jenem Moment bewegten, wie erschüttert ich auch war: Gänzlich kopflos war ich nicht. Jedenfalls nicht lange. Ich begann, die Situation zu durchdenken und den nächsten Schritt zu planen. Es liegt wohl in meiner Natur, einer Krise zu begegnen, indem ich mich in die Tat stürze.

Ich mußte tiefer in diese ganze Angelegenheit dringen. Ich mußte den Widerspruch lösen, der in alldem lag. Den Widerspruch zwischen dem Schuldspruch und meiner Kenntnis über das Wesen meines Freundes. Ich mußte wissen, was in der Kutsche vorgefallen war.

Binnen zwei Tagen konnte ich es nach London schaffen. Wenn ich so schnell wie möglich aufbrach, bliebe Zeit genug, John zu sehen und mit ihm zu sprechen. Mein pochendes Herz meinte, ich müsse nur hinfahren und vor Ort ein paar Fragen stellen, schon wäre die Sache richtiggestellt, und mein Freund wäre wieder froh und frei wie ehedem!

Nachdem ich allerdings eine Zeitlang nachgedacht und aus dem Fenster meines Gastzimmers über die Dächer Dovers hin auf die See geblickt hatte, erschien mir die Sache schon nicht mehr ganz so einfach. Ein Gericht sprach nicht mir nichts, dir nichts ein Todesurteil aus. Es mußten gewichtige Gründe vorliegen.

Dennoch war ich immer noch so närrisch zu glauben, die Jury müsse irregeleitet worden sein. Und ich würde den Irrtum aufklären.

Ich hatte ja keine Ahnung, wozu ich mich da verstieg.

Ich wußte nichts von den Schwierigkeiten, den Kümmernissen, die mich erwarteten.

FREITAG, 15. SEPTEMBER

 

Gegen neun Uhr morgens

Wenn ich mich in London aufhielt, wohnte ich zumeist im Haus meines Freundes. John ließ im oberen Stockwerk stets ein Zimmer für mich bereithalten, wo ich bequem schlafen und arbeiten konnte. Unweit der Theater wie auch des Verlagshauses mit seiner schönen Bibliothek gelegen und nur einen Fußmarsch vom Fluß entfernt, bot mir diese Herberge alle Annehmlichkeiten, die ich mir nur wünschen konnte.

Als ich also am Vormittag dieses 15. September durch die vertrauten Straßen der geliebten Stadt rollte, leitete ich meinen Weg selbstverständlich als allererstes zu der Adresse auf der Rückseite von Covent Garden. Ich nahm an, daß mir, wie in der Vergangenheit schon öfter geschehen, auch in Abwesenheit des Hausherrn gern Einlaß gewährt würde.

Doch ich hatte mich getäuscht.

Ich ließ meine Kutsche warten und läutete an der Pforte. Nichts geschah. Ich sah an der Fassade empor und stellte fest, daß alle Vorhänge hinter den Fenstern geschlossen waren.

Ich zog einige weitere Male die Glocke, bis sich endlich im Haus etwas regte. Die Tür wurde aufgeriegelt, und es öffnete ein perükkenloser Glatzkopf mit bulliger Gestalt und abweisender Miene.

Ich glaubte nicht, ihn schon einmal bei John gesehen zu haben. Freundlich erklärte ich, wer ich sei und welches mein Anliegen.

Der Mann musterte mich. Offenbar kam er, so ramponiert ich von meiner Reise auch aussah, zu dem Schluß, einen Gentleman vor sich zu haben, dem er eine Antwort schuldig war. Die Antwort war allerdings denkbar kurz.

»Mr. Merritt is’ nich’ hier.«

»Ich weiß«, erwiderte ich, »ich habe von seinem Schicksal gehört. Darum bin ich gekommen. Wie schon gesagt, ich bin ein guter Freund Ihres Hausherrn.«

Die Falten auf der breiten Stirn glätteten sich etwas, und ein Anflug von Trauer huschte über seine Augen.

»Ich habe schon oft hier im Hause gewohnt«, fuhr ich fort.

Der Türsteher schien sich gleichsam in sich zusammenzuziehen. »Ich kann Sie nich’ hereinbitten«, sagte er matt. »Ich pass’ hier nur auf. Ich bin ganz allein im Haus.«

Ich war bestürzt. »Ganz allein? Wo ist Manning?«

Manning war Johns Diener, sein Faktotum. Ich vermochte mich an keinen Aufenthalt zu erinnern, da Manning nicht im Haus zugegen gewesen war. Er kannte meinen Freund seit dessen Kindertagen, hatte schon in Diensten von Johns Vater gestanden und war die treueste Seele, die man sich vorstellen konnte.

Der Glatzkopf zog ein schwer zu deutendes Gesicht. »Er is’ um die Ecke vom Gefängnis gezogen. Hat sich da ein Zimmer genommen. Er geht jeden Tag zu Mr. Merritt rein. In seine Zelle geht er ihm aufwarten.«

Das rührte an mein Herz. Mein armer Freund, und der gute Manning!

»Die anderen sind auch nich’ mehr hier. Is’ ja auch nichts mehr zu besorgen, jetzt, wo Mr. Merritt nich’ mehr wiederkommt.« Er verstummte. Offenbar aber ließen mich seine Worte so betroffen dreinschauen, daß er schnell weitersprach. »Manning hat alle gebeten zu bleiben und zu warten, aber keiner hat auf ihn gehört. Erst hat einer Nein gesagt, und dann noch einer, und am Schluß wollten alle lieber heute als morgen gehen. Manning hat ihnen den Lohn ausbezahlt. Dann hat er mich gebeten, ob ich nicht wenigstens ein Auge auf das Haus haben kann. Na, hab’ ich mich halt bereiterklärt. Es kommen auch immer wieder komische Gestalten her und fragen lauter Sachen und wollen das Haus anschauen. Aber ich lass’ keinen rein. Deshalb war ich auch erst so mißtrauisch, wie Sie geläutet haben. Aber ich hab’ gesehen, daß Sie ein vornehmer Herr sind, und Manning kennen Sie ja auch, das weiß ich jetzt. Trotzdem kann ich Sie nich’ hier wohnen lassen. Ich kann nich’ für einen vornehmen Herrn wie Sie sorgen.«

Hilflos verdrehte er seine Hände ineinander.

»Nur die Ruhe«, sagte ich, »ich gehöre einer Londoner Sozietät an – dem Doon. Da werde ich unterkommen. Geben Sie im Doon Bescheid, falls hier Nachrichten für mich ankommen sollten oder wenn Sie Hilfe brauchen. Am Ende des Strand, kurz vor Charing Cross, da liegt das Clubhaus. Ansonsten werde ich mich um Mr. Merritts Angelegenheit kümmern. Es wird schon alles gut werden.«

Ich lächelte ihn aufmunternd an.

Doch sein Gesicht, als er langsam die Haustür zwischen uns schloß, zeigte nur wieder denselben düsteren, zweifelnden Ausdruck wie zu Beginn.

Zehn Uhr morgens

Ich sandte den Wagen mit meinem Gepäck fort, zum Doon, und ging zu Fuß meines eigenen Wegs. Die Adresse, zu der ich meine Schritte als nächstes lenken wollte, lag nicht allzu weit. Außerdem schaute ich nach einem Friseur aus.

Wird der Leser mich eitel nennen? Ich finde: Auf ein manierliches Äußeres zu achten, ist die natürlichste Sache der Welt. Selbst die Tiere tun das, die doch so tief unter uns stehen sollen. Und ich sah sogar davon ab, meine Kleidung zu wechseln! Hierzu hätte ich mich zum Club begeben, mich mit meinem Fuhrwerk durch den morgendlichen Stau in den Straßen mühen und sodann darauf warten müssen, daß ein Bediensteter sich meiner Reisekoffer annahm und einen Rock aufbürstete und dämpfte… Nicht, daß ich das nicht gern getan hätte. Doch erschein die Zeit zu kostbar angesichts des Geschicks, das meinem Freund drohte. Ich beschränkte mich also auf das mindeste: Mein Haar richten, mich rasieren und ein wenig frisch machen lassen.

Und schließlich: Wer etwas über die örtlichen Sensationen erfahren will, der setze sich auf den Stuhl eines Friseurs!

Ich verrate nicht zuviel, wenn ich sage, daß es ein Friseurbesuch war, der mir den entscheidenden Hinweis zur Lösung des mich in der Folge umtreibenden kriminalistischen Rätsels liefern sollte. Doch dies geschah erst späterhin, ein anderes Mal. Jetzt kann noch keine Rede davon sein. Ein paar Kleinigkeiten erfuhr ich immerhin auch hier, denn wie alle Friseure rund um den ganzen großen Globus war der meine bestens über die neuesten Neuigkeiten unterrichtet und zögerte nicht, sie wortreich vor seinem Kunden auszubreiten.

Mit großspurigen goldenen Lettern ragte das Schild von Brownes’s Fine Art of the Hair über den Gehsteig des Piccadilly, und weil mir schien, daß ich den Namen dieses Haarkünstlers schon einmal in einem Modemagazin gelesen hatte, hielt ich auf meinem Weg inne. Ich betrat den Laden und wurde sofort von einer Gestalt willkommen geheißen, die sich als der Inhaber persönlich vorstellte. Er komplimentierte mich auf einen freien Platz.

Auf hohen Regalen überall im Raum wurden auf hölzernen Köpfen Perücken aller Arten präsentiert: aufwendige Gebilde, um die Kunst des Geschäftsführers unter Beweis zu stellen. Auch er selbst trug eines dieser phantastischen Ungetüme auf seinem Haupt, eine turmhohe Kreation aus in- und auswendig gedrehten Wülsten und Locken, welche stark nach Lavendel und Zitrus duftete. Sie war von rötlichem Ton – jenem Rot, dem man auf unseren Inseln so häufig begegnet, daß es als ein nationales Kennzeichen gilt. Vielleicht wollte ihr Träger auf diese Weise seine Englishness und seinen Stand als vertrauenswürdiger Geschäftsmann unterstreichen. Indes die dunkle Farbe seiner Augen und der etwas gedehnte Ausklang mancher seiner Worte, so vollendet sie gesetzt waren, verrieten mir, daß in Meister Brownes doch ein Maestro Bruni steckte. Zwischen zwei Fingern hielt er geziert eine schmucke lange Vogelfeder. Mit dieser wedelte er hier und da Stäubchen fort, vor allem aber dirigierte er seine Untergebenen, indem er die Feder aus dem Handgelenk nach ihnen schwenkte wie ein Primarius seinen Fiedelbogen gegen ein Orchester. Dabei wippte er auf den Fußspitzen. Sonst bewegte er sich kaum, hielt Rückgrat und Nacken drollig steif, wohl um den Sitz seines roten Kopfputzes nicht zu gefährden.

Von alledem sah ich zunächst einmal nicht mehr viel. Auf Meister Brownes’ Geheiß wurden meine Augen beträufelt und mein Gesicht erst mit warmen Tüchern belegt, dann wieder mit kühlen. Ich ergab mich den kundigen Händen, die meine Locken auskämmten, meine Haut massierten und mich einseiften.

»Exzellenz besitzen volles Haar«, ließ mein Figaro sich vernehmen, »aber es bedarf der Pflege. Nun ein wenig Auffrisieren, etwas Puder? Gewiß! Exzellenz sind auf der Durchreise?«

Ich mummelte eine Verneinung.

»Dann haben Exzellenz Geschäfte am Ort? Die Stadt ist zur Zeit voller Herrschaften von außerhalb. Man merkt es gleich: Ich habe noch mehr zu tun, als es dank meines guten Rufes ohnehin schon der Fall ist. Exzellenz haben Glück, daß zufällig gerade etwas frei ist. Da ist die neue Handelsmesse zu Westminster, die Parade zum Kronjubiläum, und dann haben wir noch die öffentliche Hinrichtung in wenigen Tagen…«

Er mußte an einer unwillkürlichen Regung bemerkt haben, daß seine letzten Worte meine Aufmerksamkeit erweckten. Geschickt verfolgte er das Thema weiter:

»Etwas so Häßliches liegt zweifellos außerhalb der Interessen eines Gentlemans, wie Sie es sind. Aber eine Hinrichtung kommt heutzutage nun mal nicht mehr alle Naselang vor, und man kann nicht leugnen, daß sie viele Leute anlockt. Ein richtiges Spektakel. Etliche kommen sogar von weit her, um das mitzuerleben. Erst gestern hatte ich zwei Herren bei mir – gerade da, wo Exzellenz jetzt sitzen –, einen aus Southampton, einen aus Exeter, die sind beide eigens für das Schauspiel nach London gekommen. Zum großen Finale, sozusagen. Die Bretterbühne, der letzte Gang. Und dann: Zack! Nicht so reißen, Dummkopf! Du tust seiner Exzellenz weh. Fang mit dem anderen Kamm an, erst danach nimmst du den feinen!«

Er war einen Moment damit beschäftigt, seinen Untergebenen herunterzuputzen. Dann wandte er sich wieder mir zu.

»Wie meinen? Zu Newgate ist es, am nächsten Freitag. Wir wollen hoffen, daß sie den Kerl nicht noch in letzter Minute begnadigen! Das Publikum mag nicht um sein Vergnügen gebracht werden. Jetzt nicht sprechen, Exzellenz! Sonst schmiert er Ihnen Seife in den Mund, dieser Tollpatsch, der die Stirn hat, einmal ein Barbier werden zu wollen. Ja, von dir spreche ich, Bursche! Hast du für den Gentleman die neue Mandelseife genommen? Ja? Ach. Na, dann ist es ja gut!«

In verschwörerischem Tonfall fuhr er fort:

»Exzellenz werden es kaum glauben: Da, wo die beiden Herren saßen und wo Sie jetzt sitzen, da hat auch das Opfer gesessen! Das Opfer des Mörders, der jetzt gehängt wird. Auf Ihrem Stuhl. Ich habe schon überlegt, ob ich das nicht draußen auf meine Tafel schreiben soll. Es könnte eine gute Werbung für mein Geschäft sein: George Brownes, der Barbier des bekannten Sir… Sein Name fällt mir gerade nicht ein! Andererseits wären vielleicht empfindsamere Gemüter abgeschreckt von der Vorstellung, auf demselben Stuhl zu sitzen wie ein Herr, der kurz darauf erdolcht wurde… Vorsicht doch mit dem Messer, du Trottel! Es ist sehr scharf. Verzeihung, Exzellenz! Nun, ich habe mich dann dagegen entschieden. Ganz offen gestanden: Ein echter Stammkunde war er auch nicht, der Sir, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Aber einige Male durfte ich ihn doch bedienen. Genug, um ihn wiederzuerkennen. Ein sehr vornehmer Herr – ein Buchverleger. Offenbar hatte er sein Office hier in der Gegend, oder vielleicht auch seine Wohnung. Ein Mann von Welt, das sah man gleich. Sehr auf sein Äußeres bedacht. Daß er so ein Ende nehmen mußte – in einem öffentlichen Reisewagen, wie grauenvoll! Man kann kein solches Gefährt mehr besteigen, ohne daran zu denken. Nicht, daß unsereins viel reist. Aber wenn man es sich nur vorstellt… Die Enge, der Angriff, dem man nicht ausweichen kann. Das viele Blut. So ein Papiermesser gibt eine wahrhaft verteufelte Waffe!«

»Es war ein Papiermesser?« gelang es mir einzuwerfen, da die Rasur glücklich vollendet war. Ich wurde nun gänzlich gesäubert, meine Wangen mit Duftwasser betupft.

Meister Brownes malte mit seiner Vogelfeder einen bestätigenden Akzent in die Luft. »Die Waffe eines Büchermannes«, erklärte er. »Der Mörder ist gleichfalls ein Verleger. Er hat ihn gehaßt, den Sir… Offenbar eine alte Fehde. Er soll ihn regelrecht aufgeschlitzt haben. Mit so einem Schotten ist nicht zu spaßen! Ein Schotte in seinem Rachedurst ist wie ein wildes Tier.«

»Woher wollen Sie wissen, daß er ein Schotte ist?« fragte ich.

»So habe ich es gehört«, antwortete er, »ein einziger Streich, von ganz unten bis rauf zur Brust. Nur ein Schotte ist zu so etwas fähig, stimmt es nicht?«

Ich dachte bei mir, daß man so ein hitziges Temperament hierzulande eher den Italienern zuschrieb. Doch ich sagte nichts.

Er ließ mir einen Spiegel hinhalten. »Fertig, Exzellenz!«

»Sie sind ein Menschenkenner«, murmelte ich.

Ein geschmeicheltes Lächeln spielte um Meister Brownes’ Mundwinkel.

Mein eigenes Gesicht, das mir reinlich aus dem Spiegel entgegenblickte, lächelte nicht.

Elf Uhr morgens

Mein Ziel war das Haus von Mr. Richard Weatherall, seines Zeichens Doktor der Medizin und Gatte von Johns Schwester Anne. Als einziger männlicher Verwandter mußten alle Geschicke in bezug auf Johns Verteidigung in seinen Händen ruhen.

Vom Friseurgeschäft aus hatte ich einen Laufburschen mit einem kurzen Billett vorausschicken können. Richard Weatherall war ein Mann von Welt, und auch für den besten Freund seines Schwagers ziemte es sich, einen Besuch anzukündigen.

Ich kannte Richard nicht besonders gut, war ihm jedoch, wenn ich in London weilte, natürlich hin und wieder begegnet. Ich wußte um seine Tatkraft, seinen scharfen Verstand, schätzte seine praktische Vernunft und seinen Sinn für Humor. Als Arzt besaß er einen ausgezeichneten Ruf, und sein Lebensstil belegte seine Erfolge. Er bewohnte ein großzügiges, modernes Heim in Dover Street und unterhielt Praxisräume in Conduit Street. Er besaß ein Landhäuschen am Rande von Richmond, eine halbe Loge in der Drury Lane sowie einen eigenen Zweispänner, den höchstselbst zu lenken er sich nicht nehmen ließ. Zu den anderen respektgebietenden Fertigkeiten, über die er gebot und die er bei passender Gelegenheit gern zur Schau stellte, gehörten neben dem Kutschieren auch Reiten, Fechten, Cricket und das Singen patriotischer Lieder, wobei er seinen kraftvollen Bariton selbst auf der Gitarre zu begleiten pflegte. Vor allem aber besaß er einen ehrfurchtheischenden Backenbart. Das Haar brandete auf beiden Seiten über seinem Kragen empor und überflutete die Partie von den Mundwinkeln bis zu den Ohren mit dichtem Gekräusel. Überhaupt war er eine imposante Erscheinung, wirkte für seine fünfzig Jahre und seinem grauen Haar zum Trotz – er präsentierte sich in seinem Haus ohne Perücke, seine obere Schädelpartie prangte schon blank und kahl – bemerkenswert vital. Physische Schwäche, und auch diese kaum in wesentlichem Maße, zeigte einzig die Brille an, die er trug: Ihre Gläser waren nicht bloß geschliffen, sondern auch grünlich getönt. Wie es schien, reagierten seine Augen besonders empfindlich auf helles Licht. Diese grünen Gläser waren vielleicht aber auch nur eine Art Schmuck, denn ich hatte Richard schon ohne seine Sehhilfe auf der Nase sich mühelos bewegen und einmal sogar lesen gesehen. Daher argwöhnte ich, er habe festgestellt, daß dieses Accessoire ihm Distanz und etwas würdevoll Eigentümliches verlieh – es war seinem Ansehen als Arzt und Weltmann zuträglich.

Er gehörte etlichen wichtigen Gremien an, unterhielt Beziehungen in einflußreiche Kreise und war wohl schon mehrfach für einen Titel vorgeschlagen worden – bislang ohne Erfolg. Ich hatte sagen hören, hätte er etwas weniger auf seine eigene Geltung wert gelegt, wäre er wohl schon längst in den Adelsstand befördert worden, und wenn er sich den Kranken und Bedürftigen noch bedingungsloser gewidmet und noch härter und vor allem still, im alltäglichen Dienst, gearbeitet hätte, statt einen Teil seiner Kraft auf die Zurschaustellung seiner Leistungen zu verwenden, so hätte er verdient gehabt, ein wahrer Wohltäter der Menschheit genannt zu werden.

John ließ gleichwohl nichts auf ihn kommen. Sein Schwager ging ihm über alles. Doch war er ihm auch besonders verpflichtet aus Gründen, die hier bald zur Sprache kommen werden.

Wie sich zeigte, hatte ich richtig spekuliert, Richard freitags zu dieser Stunde in seinem Privathaus anzutreffen. Ich erinnerte mich, daß er seine Dienste zum Wohl der öffentlichen Gesundheit in St. George’s Hospital sowie im Bedlam immer am Wochenbeginn versah, und seine persönlichen Patienten aus der guten Gesellschaft empfing er gewöhnlich erst zu einer späteren Tageszeit.

Ich wurde in den Salon geführt und hatte eine Weile zu warten. Endlich öffnete sich die Tür und die große, schwere Gestalt Richards kam mit lebhaftem Schritt auf mich zu.

»Mein lieber Alexander!« Er drückte mir kraftvoll und mit ernstem Gesicht die Hände. »So hat mein Brief Sie doch erreicht.«

Ich erwiderte, ich hätte keinen Brief erhalten.

»Ich habe Ihnen nach Berlin geschrieben«, erklärte er. »Es war die letzte Adresse, die wir von ihnen besaßen.«

»Weder von Ihnen, noch von jemand anderem.«

»Wie haben Sie es dann erfahren?« fragte er, zurecht voraussetzend, mein Besuch gelte der Affäre um seinen Schwager.

»Aus den Zeitungen.«

»Um Gottes Willen!«

»Sei’s drum. Ich bin hier.«

Er musterte meinen Rock. »Sie sind eben erst in London angekommen?«

»Mein allererster Weg führt zu Ihnen!«

Richards Blick glitt beiläufig über meine Frisur und mein Kinn. Er sagte aber nichts als: »Setzen wir uns!«

»Die Lage ist ernst«, begann er, nachdem er die grünen Brillengläser ein wenig auf seiner Nase zurückgerückt hatte – eine Geste, die an ihm nicht Zaudern, sondern vielmehr Selbstsicherheit zum Ausdruck brachte. »Das wissen Sie, Alexander. Das Urteil ist gesprochen. Der Strick ist so gut wie geknüpft!«

»Jetzt bin ich ja da«, entgegnete ich, durch die Dramatik seiner Worte zum Widerspruch gereizt. »Ich werde den Knoten zerschlagen.«

»Sie?«

»Wer denn sonst, jetzt noch?«

»Sie haben vielleicht Ideen!« Er sah weniger erbost als verblüfft aus.

»Mein Entschluß ist gefaßt«, sagte ich. »Er war gefaßt, schon bevor ich London erreichte.«

»Gegen eine einstimmige Jury, einen Richterspruch von höchstem Gewicht? Entschuldigen Sie schon, aber das ist doch ein bißchen tollkühn. Ich kenne Sie, ich habe Ihre Bücher gelesen, Alexander. Über Ihre Ballonfahrt über den Bosporus. Ihr Scharmützel mit dem Räuber Rinuccio. Alle Achtung, und so weiter, aber das hier ist doch etwas anderes! Und Sie können sicher sein: Alles, was möglich ist, haben wir getan.«

»Wirklich alles?«

»Ich habe den besten Anwalt engagiert, den man bekommen kann.«

»Ich habe seinen Namen gelesen. Willard O’Keagan – ist das der, der den vermeintlichen Attentäter auf den amerikanischen Gesandten vertreten hat? Er muß noch ziemlich jung sein.«

»Ein aufstrebender Sohn der grünen Insel«, brummte Richard. »Ein Hitzkopf, aber mit messerscharfer Deduktion und brillanter Rede. Die amerikanische Affäre war nur eines seiner Glanzstücke, wenn auch naturgemäß dasjenige, welches am meisten Aufmerksamkeit erregt hat. Er ist einer der begehrtesten Verteidiger, die man derzeit in London findet. Und Sie können mir glauben, daß er seine Honorare dementsprechend veranschlagt. Aber selbst er konnte unseren Prozeß nicht herumreißen. Was wollen Sie denn tun?«

»Ich werde Johns Unschuld beweisen.«

Er schüttelte den Kopf. »Worauf jetzt alles ankommt, das ist das Gnadengesuch. Ich bin guter Hoffnung, daß es Erfolg haben wird. Schließlich handelt es sich bei John nicht um irgendeinen Straßenräuber. Und daß er die Fahrt bereits mit dem Vorsatz angetreten hätte, Sir Henry zu ermorden, auf diese Deutung wollte sich nicht einmal die Anklage versteifen. Außerdem habe ich mit ein paar Leuten gesprochen und einige Briefe geschrieben.«

»Sie verfügen über Beziehungen«, bemerkte ich.

»Es wird ihm den Galgen ersparen«, sagte Richard grimmig. »Aber ob es wirklich besser ist, den Rest seines Lebens im Straflager zu verbringen, weiß ich nicht.«

»Damit wäre Zeit gewonnen. Kommt Zeit, kommt Rat!«

Er winkte ab. »Die Indizien sind erdrückend. Sie haben die Zeitungen gelesen, haben Sie gesagt. Haben Sie auch die Times gelesen?«

»Ich habe alle gelesen. Alle, die ich bekommen konnte.«

»Dann wissen Sie doch Bescheid.«

»Ich weiß das, was man lesen kann«, sagte ich. »Und ich weiß auch, was eine Zeitung ist. Ein Zeitungsartikel enthält nie die ganze Wahrheit. Der Sachverhalt wird unter einem bestimmten Blickwinkel dargestellt. Selbst, wenn der Artikel völlig sachlich ist, kann er nur einen Ausschnitt fassen. Ich will aber alles wissen!«

»Glauben Sie mir nur!« Richard wirkte nun müde. »Ich war selbst bei der Verhandlung dabei.«

»Eben«, sagte ich. »Ich nicht. Ich brauche ein vollständiges Bild. Ich muß die genauen Vorkommnisse kennen. Ein Detail kann entscheidend sein.«

»Ich könnte natürlich versuchen, Ihnen einen genauen Bericht zu geben… «

»Ich muß über die beteiligten Kräfte Bescheid wissen, über die Personen mit all ihren Eigenheiten und darüber, wie sie zueinander stehen. Ich muß jedes der Worte, das sie gesprochen haben, hören, als stände ich neben ihnen.«

Er betastete nachdenklich den grauen Haarbusch auf seiner Wange. »Dann sollten Sie die Protokolle lesen. Die Mitschriften der Verhandlung.«

»Geht das?«

»O’Keagan verfügt natürlich über eine Kopie. Ich denke, er wird sie Ihnen zur Verfügung stellen. Ich schreibe ihm ein paar Zeilen.«

»Und natürlich muß ich zuallererst John sprechen.«

»Das wird nicht ganz so einfach sein. Aber wir werden es schon hinbekommen.«

»Ich danke Ihnen, Richard.«

»Ich verstehe trotzdem nicht, worauf Sie hinauswollen. Wonach suchen Sie?«

»Es gibt immer Fehler.«

»Sie denken, die Jury habe sich geirrt. Oder sei der Sache nicht gründlich genug nachgegangen.«

»Das kommt schließlich alle Nase lang vor.«

»Ich kann wirklich nicht sagen, daß diese Sache im Handstreich entschieden worden wäre. Nein, das Gericht hat ganz den Regeln entsprechend gehandelt. Johns Unschuld kann nicht bewiesen werden.«

»Sir Henry hat viele Feinde gehabt, nach allem, was ich weiß.«

Richard hob eine Braue. »Der Mann war die Pest, wenn Sie mich fragen. Sein Tod ist wahrlich kein Verlust. Ein rundherum unerfreulicher Zeitgenosse.«

Ich mußte lächeln. »Ich dächte, Sie hätten ein zumindest professionelles Interesse an menschlichen Abgründen.«

»Meine Tätigkeit«, sagte er, »ist den Leidenden gewidmet. Den Krankheiten des Körpers und der Seele. Abirrungen des Geistes. Sir Henry Mulbisher war völlig gesund. Und ein Schädling am Leib der Gemeinschaft. Einer, der selber Leid verursacht.«

»Das klingt, als hätten Sie eine persönliche Wut auf ihn.«

»Ich? Ich habe ihn gar nicht gekannt. Und ich bin froh darüber. Ich habe nur viel über ihn gehört, und nicht erst in den letzten Monaten. Von John natürlich, schon vor dieser ganzen Geschichte. Aber auch von anderen. Ein guter Bekannter von mir ist im selben Club wie Sir Henry. Er hat mir erzählt, daß er sich dort wie der Großmogul aufgeführt, alle Bediensteten schändlich behandelt und gegen die anderen Clubmitglieder intrigiert hat. Na, und noch so diese oder jene Geschichte.«

»Welcher Club ist das?«

»Der Minervan

»Ah, in der St. James Street, nicht wahr? Gleich da vorne. Ziemlich elitäre Angelegenheit.«

»Viel alter Adel, aber inzwischen drängt immer mehr neues Geld hinein, sagt mein Bekannter. Er beweint die guten alten Zeiten. Hält nichts von diesen Emporkömmlingen, die alles an sich reißen. Einer von denen war für ihn Sir Henry.«

»Das Haus in Brentham«, sagte ich, »hat Sir H. sich bauen lassen, nicht wahr? John hat mir viel darüber erzählt und geschrieben, eine Zeitlang. Es hat ihn entsetzlich aufgeregt.«

Richard nickte. »Er hielt die ganze Sache für einen bewußten Affront. Ich war nie sicher, ob es sich vielleicht nicht doch nur um einen besonders unglücklichen Zufall gehandelt hat. Der Ort ist sehr schön gelegen, ganz wunderbar für ein erholsames Domizil auf dem Land.«

»Ein bißchen weit von London entfernt. Warum sollte der Zufall ihn ausgerechnet dorthin geführt haben? Und warum hat er sein Haus dann ausgerechnet mitten in Johns Aussicht gesetzt – ein häßliches Monstrum, sagte John immer.«

»Sie haben es nie gesehen?«

»Nein, ich bin überhaupt nie in Brentham gewesen. Ich kenne es nur aus Johns Berichten. Er hat immer viel von dem alten Anwesen gesprochen, und in den wärmsten Worten. Es gehörte seiner Familie seit langen Jahren. Er hat dort seine Kindheit und Jugend verbracht. Er war dort sehr glücklich.«

»Ich selbst bin auch nur zweimal dagewesen«, sagte Richard. »Einmal, um mit John über meine Verlobungspläne zu sprechen. Da stand Sir Henrys Haus noch nicht. Und dann noch einmal zusammen mit Anne. Zu jener Zeit hatten die Arbeiten bereits begonnen. Der neue Bau wuchs geradewegs auf der anderen Talseite in die Höhe. John war außer sich. Danach fuhr er nur noch selten nach Brentham. Die Gegenwart Sir Henrys hat ihm den Ort verleidet. Er fürchtete wohl auch, ihm auf dem Weg zu begegnen, womöglich dieselbe Kutsche teilen zu müssen. Soviel ich weiß, ist das sogar schon einmal geschehen, oder es war doch knapp davor. Ich spreche von der Zeit vor der verhängnisvollen Fahrt diesen März. Meistens fuhr John nur noch dann nach Brentham, wenn es einen zwingenden Grund gab.«

»Gab es denn dieses Mal einen solchen Grund?« erkundigte ich mich.

»Er hatte Nachricht, seine alte Amme liege im Sterben. Es war sein dringlicher Wunsch, sie noch einmal zu sehen.«

»Und er hatte tatsächlich das vermaledeite Pech, unterwegs auf Sir H. zu treffen…«

»Pech ist ein ziemlich dürftiges Wort für das, was meinem Schwager – Ihrem Freund – droht.« Er sah mich mit einem schwer zu deutenden Ausdruck an, der mich irritierte.

»Nun, wir werden ihn schon herausbekommen«, sagte ich.

»Wir können ihm den Tod ersparen, aber nicht harte Strafen.«

»Frei wird er sein, frei wie ein Fisch im Wasser!«

»Ich wollte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen.«

»Er kann es nicht getan haben«, rief ich. »Das wissen Sie so gut wie ich.«

An dieser Stelle stockte unser Gespräch. Es war nur ein kurze Unterbrechung – ein Schweigen, das ein wenig zu lange dauerte. Richards grüne Augengläser fixierten mich.

Mir lag die Frage schon auf der Zunge, ob er etwa nicht an Johns Unschuld glaube. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür.

»Alex, Lieber!«

Es war Anne.

Ich hatte sie eine kleine Ewigkeit nicht mehr gesehen, und doch erschien sie mir völlig unverändert. Im Grunde hatte sie sich seit Kindertagen kaum gewandelt. Sie war noch ein junges Mädchen gewesen, als ich ihr zu Beginn von Johns und meinen Studienjahren zum ersten Mal begegnet war, und noch immer glichen ihre Züge meiner Erinnerung an jene Zeit. Ihr Gesicht, rund und auffällig flach, wirkte kindlich und gemahnte zugleich, der makellosen Glätte zum Trotz, an eine weise alte Frau. Ihre Haare waren von einem fast weißen Blond, ihre Zähne klein, ihr ganzer Körper schien nie gänzlich erwachsen. Sie bewegte sich in einer träumerischen Langsamkeit, auch jetzt, als sie mir ihre zierliche Hand reichte. Sie trug ein schlichtes hellblaues Kleid und hatte ihr Haar zu großen Zöpfen geflochten und aufgesteckt.

»Ich mußte mich erst ein wenig zurechtmachen. Richard sagte mir, daß Sie da sind. Ich freue mich so.«

Während sie das sagte, sah sie mich mit dem Blick an, den ich so gut an ihr kannte und dessen Bild ich mir wohl immer und überall würde heraufbeschwören können. Ihre sehr klaren Augen waren weit geöffnet, die Lippen lächelten sanft, und doch stand ihre Miene dabei so still, daß sie einen ganz leeren Ausdruck annahm – so, als sei die Trägerin nicht recht gegenwärtig.

»Wie schön, Sie zu sehen, Anne.«

»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben einen schönen Aufenthalt. Was führt Sie nach London?«

Ihre Frage verunsicherte mich. Ich wußte keine rechte Antwort.

Sie fuhr fort, und während sie sprach, überkam mich eine Wehmut, von der ich im selben Moment spürte, daß ich mich schon den ganzen Morgen seit meinem Entschluß zum Besuch dieses Hauses vor ihr gefürchtet hatte:

»John würde sich auch sehr freuen«, sagte sie. »Er wird bedauern, daß er Ihren Besuch verpaßt hat.«

Richard trat behutsam neben seine Frau. »John ist nicht hier, mein Kleines.«

»Er wird uns sicher bald wieder besuchen«, erwiderte Anne liebenswürdig.

»Ich habe es dir doch schon erklärt.« Richard berührte ihren Oberarm. Er wirkte jetzt hilflos.