Das Buch

Der Schock sitzt tief, als die 24-jährige italienische Studentin Angela erfährt, dass sie das ersehnte Stipendium für das Auslandssemester als Italienisch- und Deutschlehrerin nicht für Berlin, sondern »nur« für München bekommt. München, von dem jeder Italiener weiß, dass die Bewohner ihre Stadt völlig zu Unrecht für die nördlichste Italiens halten und die ganze Zeit in seltsamen Kleidern wie aus Omas Mottenkiste und Lederhosen mit halben Strümpfen um die behaarten Waden herumlaufen.

Trotzdem wagt Angela sich für ein Jahr aus dem Schoß der italienischen grande famiglia in die Arme einer Münchner Männer-WG. Mit ihrem italienischen Temperament mischt sie die Herren mächtig auf – und am Ende winkt die große Liebe …

Die Autorin

Angela Troni, geboren 1970, lebt als freie Lektorin und Autorin in München. Sie hat bereits mehrere Sachbücher verfasst und Anthologien herausgegeben. Dies ist ihr erster Roman der Halbitalienerin, deren Familie aus Rimini stammt.

Mehr über die Autorin erfahren Sie unter www.angelatroni.de

Von der Autorin sind in unserem Hause bereits erschienen:

Gebrauchsanweisung für Männer und Frauen
Ich hab schon Schlimmeres erlebt

Angela Troni

Risotto mit Otto

Ein italienisches Jahr in München

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

3. Auflage April 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011

Umschlaggestaltung und Gestaltung des Vor-
und Nachsatzes: Sabine Wimmer, Berlin

Titelillustration: © Jakob Werth

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

 

ISBN 978-3-8437-0056-6

Per il babbo più buono del mondo

Prolog

»Vado al massimo«

»Porca madonna e tutti santi!«, entfuhr es mir, nachdem ich den Brief mit dem hellgrünen Umschlag aufgerissen hatte und mit klopfendem Herzen die Zeilen überflog, um an drei Wörtern hängenzubleiben, die ein Unbehagen in mir auslösten, als hätte mich der Carabiniere in der Via Dante wieder mal beim Vespafahren ohne Helm erwischt.

Völlig verschwitzt schleppte ich mich die Stufen bis zu unserer Wohnung im sechsten Stock hoch, verdammte den seit Wochen kaputten Aufzug und versuchte, die Tür aufzuschließen, die wie immer klemmte. Mit einem gezielten Tritt überredete ich sie dazu, endlich nachzugeben, und ging in den Flur.

»Monaco di Baviera – München, Bayern«, stand da in fettgedruckten Lettern, und ich konnte nicht verhindern, dass mir ein weiterer Fluch über die wie immer dunkelrot geschminkten Lippen kam. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und fuhr mir mit dem Ringfinger unter den Augen entlang, um die bröckelnde Wimperntusche wegzureiben. Ich musste mir wirklich dringend eine neue kaufen, aber momentan hatte ich andere Sorgen.

Dann ging ich in die Küche, in der sich von meiner Geburtstagsparty gestern Abend Essensreste, Geschirr, Flaschen und Kippen stapelten, und ließ mich auf den gedrechselten Küchenstuhl sinken, den ich mit mamma neulich erst auf dem Flohmarkt in Rimini ergattert hatte. Das alte Holz stöhnte, als würde es mit mir fühlen.

Da hätten sie mich auch gleich nach Sibirien ins Arbeitslager schicken können, jammerte ich stumm vor mich hin. Was haben die sich nur dabei gedacht? Was hab ich bloß verbrochen? Ob ich Paola neulich doch hätte die Wahrheit sagen und gestehen sollen, dass ich ihr die Baci di Dama weggegessen hatte? Oder hat es etwa damit zu tun, dass ich mamma die zwanzig Euro, die ich mir letzte Woche heimlich aus ihrem Portemonnaie »geliehen« habe, nie zurückgeben wollte? Wenn ich das geahnt hätte! Den Preis war mir der Spaß dann doch nicht wert.

Mit dem Brief in der Hand saß ich da, starrte wie gebannt auf die Zeilen, und je häufiger ich den Satz »Ihrem Antrag auf ein einjähriges Auslandsstudium in Deutschland wurde stattgegeben. Bitte setzen Sie sich bis zum 15. 09. 2010 mit der Ludwig-Maximilians-Universität in München in Verbindung« las, desto kälter wurde mir. Dabei waren draußen mindestens fünfzig Grad im Schatten, und hier drinnen war es, trotz der zugezogenen Fensterläden, kaum kühler. Aber das sag mal einem unter Schock stehenden Körper.

Hätte ich doch bloß nicht auf babbo, wie ich meinen Vater liebevoll nannte, gehört und mein Schicksal dieser kleinen privaten Förderorganisation anvertraut. Ursprünglich hatte ich wie alle meine Kommilitonen, die ins Ausland gingen, am Erasmus-Programm teilnehmen wollen, doch mein ach so kluger und grundsätzlich alles besser wissender Vater meldete mich bei der Fondazione Francesco D’Assisi an. Weil er dort jemanden kannte, der jemanden kannte, der jemanden … Egal! Auf die Fondazione war jedenfalls auch kein Verlass mehr, genau wie auf die italienische Opposition, das Wetter und die Lottozahlen. Dabei hatte ich irgendwo mal gelesen, der selbstlose und weise Mönch Franz von Assisi habe einen großherzigen Charakter. Nun ja, nach seinem Tod schien das ganz offensichtlich nicht mehr zu gelten – oder vielleicht war die Großherzigkeit nach mittlerweile achthundert Jahren endgültig verjährt?

Ich stützte die Ellbogen auf den Küchentisch und rieb mir die pochenden Schläfen, doch leider wollte der Kopfschmerz nicht nachlassen. Er war eher stärker geworden.

München – ich wusste nicht viel über diese Stadt, in der meine beste Freundin Valeria als Fünfzehnjährige mal zum Schüleraustausch gewesen war, nur dass sie in Bayern lag und dass diese Bayern ein recht seltsames Volk sein mussten. Immerhin behaupteten sie, München sei die nördlichste Stadt Italiens, was mir per se höchst verdächtig erschien. Hatten die denn keinen Nationalstolz? Die festa della birra, das Oktoberfest, das Mekka der Biertrinker, von dem alle immer ganz begeistert erzählten, schien zwar tatsächlich ein Knaller zu sein, aber warum mussten die Leute sich dazu verkleiden? Feierte man in Deutschland im September Fasching? Nicht dass ich wüsste … Ich hatte immer mal wieder Fotos vom Münchner Oktoberfest gesehen und konnte es einfach nicht fassen. Die Mädels in den seltsamen Kleidern, die aussahen wie aus Omas Mottenkiste, ließ ich mir ja vielleicht noch gefallen, und so mancher deutsche Mann hatte in seiner Lederhose echt einen knackigen Hintern. Aber was sollten diese oben und unten abgeschnittenen groben Wollstrümpfe, die da auf halber Höhe an den Waden hingen? Und wieso mussten sie Bier aus Eimern trinken, zumal in industriellen Mengen? Hatten diese Menschen denn gar keine Kultur?

Beim Gedanken an die riesigen Bierkrüge bekam ich Durst und stand auf, um nach einer Flasche Wasser zu suchen. Überall entdeckte ich angebrochene Plastikflaschen von der Party, aber ich brauchte eine frische. Abgestandenes Wasser löst bei mir Allergien aus. Mehrere.

Was sollte ich in diesem »Millionendorf«, wie die Münchner ihre Stadt laut meiner Freundin Valeria nannten? Noch dazu mutterseelenallein? Auf einmal bekam ich Angst vor meiner eigenen Courage, schließlich war ich noch nie länger als zehn Tage von meiner Familie getrennt. Nicht mal Urlaub hatte ich ohne meine Eltern und meine beiden Schwestern, die Zwillinge Laura und Paola, gemacht, und ehrlich gesagt konnte ich mir auch nicht richtig vorstellen, wie es ohne sie sein würde. So ganz ohne Familie. Dabei war es zugleich mein sehnlichster Wunsch, endlich selbständig zu werden und auf eigenen Beinen zu stehen.

Ich hatte extra Berlin als Wunschstadt angegeben, weil dort Onkel Fabio und Tante Ivana mit Daniela und Pietro lebten. Alles war nämlich schon so gut wie abgemacht: Ich hätte bei ihnen im Haus ein kleines Appartement mit eigenem Eingang bekommen, meine Cousine hätte mir die Stadt und die besten Kneipen gezeigt, und ihr Bruder Pietro, den ich schon als kleines Mädchen vergöttert hatte, hätte mir sicher ein paar seiner coolen Freunde vorgestellt. Ein Stückchen Heimat hätte ich damit in der Fremde auch gehabt, und überhaupt: Es wäre perfekt gewesen. Offenbar zu perfekt.

Na ja, Hamburg hatte ich ebenfalls genannt, als einzig akzeptable Alternative, da Papas Cousine Elena dort wohnte, die mich mit ihrem deutschen Mann unter ihre Fittiche genommen hätte. In die dritte Zeile hatte ich München in die dafür vorgesehenen Kästchen geschrieben und darüber in Druckbuchstaben »BITTE NICHT« gekritzelt. – War das jetzt die Folge davon? Wurde man, sobald man in dieses hyperkorrekte Deutschland wollte, etwa sofort mit der Höchststrafe belegt, sofern man Formulare nicht korrekt ausfüllte? Das fing ja gut an …

Ich ließ den Blick über die verkrusteten Spaghettireste auf den Tellern wandern und blieb an dem selbstgemalten, gerahmten Cartoon auf der Anrichte hängen, den Valeria, die chaotischste, aber genialste Grafikerin, die ich kannte, mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Darauf war eine völlig ramponierte Sechzigjährige in Rock und Bluse mit abstehenden Haaren und Löchern in den Strümpfen zu sehen, die offensichtlich eine wilde Nacht hinter sich hatte. Darunter stand in Großbuchstaben: WENN DAS LEBEN DIR ZITRONEN ANBIETET, DANN BESORG TEQUILA UND SALZ UND RUF MICH AN. Darunter hatte meine beste Freundin mit Kuli ihre Handynummer und einen Smiley gekritzelt.

Das war typisch Vale. Sie hatte zwar einen etwas seltsamen Geschmack, was ihre schwarzen Biker-Klamotten und die superkurzen rot gefärbten Haare anging, aber sie war eine Seele von Mensch und immer für mich da, wenn ich sie brauchte.

Daher fackelte ich keine Sekunde, kramte mein Telefon aus der blaugrün gemusterten Filztasche, die noch immer über meiner Schulter hing, und drückte die Wahlwiederholungstaste. Da wir sowieso eine Standleitung hatten, war klar, dass ich ihre Nummer als Letztes gewählt hatte. Sie würde mich verstehen, sie wusste, was das bedeutete: M-Ü-N-C-H-E-N. Ungeduldig wartete ich, es tutete … und tutete … und tutete.

Gefühlte drei Stunden später, ich hätte inzwischen die komplette Küche aufräumen, die Wohnung neu streichen und den kaputten Aufzug reparieren können, ertönte die mir vertraute, wenn auch verschlafene Stimme meiner Retterin in letzter Not.

»Pronto

»Ciao, Vale, ich bin’s. Stell dir vor …« Weiter kam ich nicht.

»Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?«, maulte sie am anderen Ende der Leitung.

Ich sah förmlich vor mir, wie Valeria sich am späten Vormittag neben Giorgio, ihrem aktuellen Lieblings-Kuschelkissen, im Bett umdrehte und dabei mit den Augen rollte. Ihre Mutter duldete so etwas, meine Eltern dagegen würden mir den Kopf abreißen, wenn ich ein männliches Wesen über Nacht bei uns einschleusen würde – noch dazu jede Woche ein anderes. Valeria und mich trennte nicht nur dieses eine Detail, dafür einte uns umso mehr, zum Beispiel unsere Abneigung gegen München. Seit meine Freundin dort zum Schüleraustausch gewesen war, verachtete sie diese Stadt, in der sie mehr als ein unschönes Erlebnis hatte erdulden müssen. Ich durfte gar nicht daran denken, da wurde mir schon wieder ganz schlecht. Das konnte unmöglich allein der Kater sein, den ich von gestern hatte.

»Ja«, erwiderte ich leicht verschnupft, »Viertel vor zwölf, aber das hier ist ein Notfall!« Ich sprang vom Küchenstuhl auf und fing an, im Stechschritt durch die Wohnung zu laufen.

»Und deshalb rufst du mich mitten in der Nacht an?«

»Ein Not-fall«, wiederholte ich dramatisch und überlegte, ob ich einfach auflegen sollte. Tatkräftige Unterstützung war von Vale heute offensichtlich nicht zu erwarten.

»Was ist? Sind deine Eltern doch früher zurückgekommen?«, fragte sie und gähnte laut.

»Nein, schlimmer.«

»Du hast dir einen Fingernagel abgebrochen?«

Der dämliche Witz brachte meinen Puls zum Rasen. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl, konzentrierte mich, um mein Reptiliengehirn zu aktivieren, atmete brav meine Wut weg und sagte erst mal nichts.

»Bist du noch da?«, drang es leise durch den Hörer, gefolgt von einem weiteren Gähnen.

»Nein!«, blaffte ich und legte tatsächlich auf, bevor ich heulend am Küchentisch zusammenbrach.

Sofort klingelte mein Telefon Sturm, doch ich ging nicht ran. Sollte Vale ruhig in ihrem schlechten Gewissen schmoren, das hatte sie nun davon. Nur leider war mir damit auch nicht geholfen. Buddhistisch versuchte ich, mein Schicksal anzunehmen, was mir nicht so recht gelingen wollte, und tröstete mich mit dem Gedanken, dass Buddha sicher auch mal klein angefangen hatte.

Letztlich blieb mir nichts anderes übrig, als in dieses München zu gehen, schließlich wollte ich unbedingt nach Germania, da ich für mein Studium als Italienisch- und Deutschlehrerin für die scuola superiore nichts Besseres tun konnte, als zwei Semester in dem Land zu verbringen, dessen Sprache ich meinen Schülern vermitteln wollte. Und weitere zwölf Monate zu verlieren, um mich dann nächstes Jahr doch wie alle anderen für das Erasmus-Programm zu bewerben, das sah ich auch nicht ein. Angesichts der Tatsache, dass man in Italien unzählige concorsi absolvieren muss, um über einen dieser Wettbewerbe in den Schuldienst eintreten zu können, und man sich oft jahrelang von einer befristeten Stelle zur nächsten hangeln darf, wollte ich so schnell wie möglich meinen Abschluss machen. Sonst konnte es passieren, dass ich kurz vor der Rente stand, bis ich endlich mal einen festen Job bekam. Auf babbos Vitamin B konnte ich mich jedenfalls nicht verlassen, das hatte die Aktion mit der Fondazione Francesco D’Assisi mal wieder deutlich gezeigt.

Je länger ich dasaß, desto mehr wandelte sich meine Wut auf Vale in Wut auf meinen Vater. Wieso musste er immer alles bestimmen? Er behandelte mich nach wie vor wie ein Kleinkind, das nicht bis drei zählen konnte. Ständig hieß es: »Wir wollen nur das Beste für dich«, aber hatte mich mal jemand gefragt, ob das auch tatsächlich gut für mich war? Mehr als einmal war ich ein bisschen neidisch auf meine beste Freundin gewesen, die allein mit ihrer Mutter lebte und entsprechend viele Freiheiten hatte. Vales Vater hatte sich schon vor Jahren mit einer französischen Touristin aus dem Staub gemacht, und ihre mamma arbeitete in der Fabrik, um den Lebensunterhalt für die beiden zu verdienen. Wegen der ständig wechselnden Schichten war sie so gut wie nie zu Hause, und entsprechend selbständig lebte meine Freundin.

Meine beiden jüngeren Schwestern und ich dagegen wuchsen behüteter auf als die bestbewachten Prinzessinnen, und sobald sich mir ein junger Mann auf Freiersfüßen auch nur von fern zu nähern wagte, alarmierte meine Mutter die Burgwache, die in Person meines Vaters zeigefingerschwingend und mit drakonischen Strafen drohend ihres Amtes waltete. Wenn es nicht um Jungs ging, war mein babbo jedoch der beste babbo der ganzen Welt, denn er konnte mir so gut wie keinen Wunsch abschlagen, und im Laufe der Jahre hatte ich ganz genau gelernt, mit welcher Strategie ich ihn am ehesten um den Finger wickeln konnte. Eigentlich konnte ich alles von ihm haben, wenn ich ihm nur genügend schmeichelte und Honig um den Bart strich – na ja, fast alles. Denn in einigen wenigen Punkten blieb er nun mal hart. Wenn es ums Ausgehen, um Jungs oder meine berufliche Zukunft ging, verstand der capofamiglia in seiner Rolle als Familienoberhaupt leider keinen Spaß, und ich litt sehr darunter, dass meine Freundinnen, vor allem Vale, so viel mehr durften als ich.

Apropos dürfen: Nach München würde mein Vater mich sowieso nicht lassen, da er dort niemanden kannte, dem er die Oberaufsicht über mich übertragen konnte. Damit war mein Traum vom Auslandsaufenthalt gestorben, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte. Ich war drauf und dran, mich meinem Frust hinzugeben und in einem See, ach, in einem Ozean aus Selbstmitleid zu versinken, da warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr.

Erschrocken sprang ich auf und verschob den Weltuntergang auf später. Oje, schon halb eins, ich musste endlich anfangen aufzuräumen. Um fünf wollten meine Eltern mit den Zwillingen vom Wochenendbesuch bei Tante Giusi und Onkel Maurizio aus Cesena zurückkommen. Ich hatte es nach langem Hin und Her geschafft, ihnen einzureden, dass ich für meinen Geburtstag die Wohnung für mich bräuchte, um eine anständige Party zu schmeißen. Da wären die Zwillinge, meine zwar süßen, aber oft nervigen, da sich ständig in den Haaren liegenden vierzehnjährigen Schwestern so fehl am Platz gewesen wie ein Metzger auf dem Jahrestreffen des Vegetarierverbandes.

Ich ließ Wasser in die Spüle einlaufen und fing an, die Essensreste, Kippen und Servietten in den großen silbernen Mülleimer zu werfen. Die Party war ein voller Erfolg gewesen, wir hatten die halbe Nacht durchgetanzt, und meine selbstkreierten Gin-Cocktails waren der Renner gewesen. Wir hatten sogar in der kleinen Bar um die Ecke noch Nachschub holen müssen, so gut war der Drink angekommen. Die letzten Gäste waren erst im Morgengrauen gegangen, und von dem vielen Alkohol und dem Schlafmangel brummte mir gewaltig der Schädel. Was soll’s, man lebt nur einmal, dachte ich und stellte mit Schwung die Teller ins Spülwasser, so dass einer prompt auseinanderbrach. Seinen Aufgaben muss man sich stellen. Ich würde es schon schaffen, auch ohne Daniela oder zia Elena, wie ich die Cousine meines Vaters nannte, obwohl sie gar nicht meine Tante war.

Nachdem ich die Scherben aus dem Spülwasser gefischt und so entsorgt hatte, dass mamma sie nicht entdecken würde, ging ich in mein Zimmer, um meine Lieblings-CD zu holen. Genussvoll schob ich sie in die Stereoanlage im Wohnzimmer, wählte Song Nummer vier und drehte den Lautstärkeregler voll auf. Als die ersten Takte von Vasco Rossis »Vado al Massimo« ertönten, ging es mir gleich besser. Der Song, mit dem mein Lieblingssänger das Festival di San Remo gewonnen hatte, den bedeutendsten Musikpreis Italiens, stammte aus dem Jahr 1982, als ich noch lange nicht geboren war, und sein Titel war mein Lebensmotto: Ich geb Vollgas.

Okay, ihr Bayern, zieht eure Lederhosen an und macht euch auf eine gehörige Portion italienisches Temperament gefasst, dachte ich und stürzte mich in die Arbeit.

1.

»Vita spericolata«

»Babbo, kannst du nicht schneller fahren? Ich verpasse noch meinen Zug!«

Nervös starrte ich von der Rückbank unseres uralten, bis unters Dach vollgepackten dunkelgrünen Fiat Punto durch die Windschutzscheibe auf den dichten Verkehr, während meine Stimme kurz davor war, sich zu überschlagen. Wieso war hier denn um die Uhrzeit noch so viel los? Wollten die etwa alle – wie wir – die sieben Euro und zehn Cent für die Autobahn sparen und hatten die Bundesstraße genommen? Wir hatten Mitte September, es war weder Urlaubsverkehr oder Wochenende noch stand irgendein Großereignis an, das gerechtfertigt hätte, dass auf der Statale Adriatica von Riccione nach Bologna alle im zweiten Gang dahinzuckelten.

Ich warf einen Blick auf die Uhr meines Handys und stöhnte, denn wir waren gerade mal knapp hinter Cesena und hatten noch mehr als die Hälfte der hundertfünfundzwanzig Kilometer bis Bologna vor uns. Normalerweise war die Strecke in eineinviertel Stunden locker zu schaffen – selbst wenn mein Vater am Steuer saß, der sich, ganz unitalienisch, an jede noch so absurde Geschwindigkeitsbegrenzung hielt.

»Kurz vor zehn! Das schaffen wir nie! Porca …« Ich sah förmlich vor mir, wie wir um 23.05 Uhr und siebzehn Sekunden zu fünft, so schnell es uns mein Marschgepäck erlaubte, auf den Bahnsteig stürmten und dem Nachtzug aus Roma Termini in Richtung München-Hauptbahnhof hinterherhechelten. Ohne ihn zu erreichen, versteht sich.

»Entspann dich, figliola mia«, erwiderte mein Vater mit der für ihn typischen Gelassenheit, die so gar nicht meinem Temperament entsprach und mich erst recht in Rage brachte. »Geflucht wird in meinem Wagen nicht. Ich tu schon, was ich kann.« Er fuhr sich mehrmals durch die dichten grauen Haare und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.

»Wir kommen sicher noch rechtzeitig am Bahnhof an«, versuchte meine Mutter mich zu beruhigen. Sie hatte sich zu uns drei Mädchen, die wir auf der Rückbank zwischen meinen riesigen Koffern eingequetscht saßen, umgedreht und lächelte mich aufmunternd an.

Meine beiden Schwestern schlummerten selig aneinandergekuschelt und bekamen von dem ganzen Drama nichts mit, während mein Puls mit der Stärke eines Presslufthammers pochte und ich, um ihn zu beruhigen, an den Fingernägeln kaute.

»Von wegen!«, rief ich aufgebracht. »Bis um elf schaffen wir es nie bis zur stazione centrale, wenn das hier so weitergeht. Ich hab euch gleich gesagt, wir nehmen besser die Autobahn. Aber nein, der da vorne …«

»Red nicht so von deinem Vater!«, ermahnte mich mamma, und ich merkte genau: Wenn ich jetzt nicht langsam einen Gang zurückschaltete, drohte ein Temperamentsausbruch, der sich gewaschen hatte. Als sie sich mit Schwung zu mir umdrehte, geriet ihr kinnlanger, akkurat geföhnter Pagenkopf gefährlich durcheinander, und ihre pechschwarzen Augen bekamen einen bedrohlichen Schimmer. »Wir tun doch schon alles für dich. Sei froh, dass wir dich überhaupt fahren. Mit all dem Gepäck hättest du nie alleine in den Nachtzug umsteigen können.«

»Meiner Angelina bella trage ich die Koffer bis ans Ende der Welt«, ließ sich mein Vater vernehmen, nicht ohne eine kleine Nuance Spott in der Stimme.

Ich ließ mich davon nicht beirren, sondern lief ungeachtet meiner vor der Explosion stehenden Mutter zur Höchstform auf. »Alles nur, weil wir unbedingt noch bei zia Marisa vorbeifahren mussten. Von der hätte ich mich auch am Telefon verabschieden können. Die zwanzig Euro, die sie mir zugesteckt hat, hätte sie getrost behalten können. Davon kann ich mir in München sicher nicht mal ’ne Pizza leisten. Das ist die teuerste Stadt Deutschlands, in die ich da fahre. Was glaubt die eigentlich …«

»Deine Tante hat es nur gut gemeint. Du weißt genau, wie krank sie ist. Vielleicht siehst du sie nie wieder.« Meine Mutter passte sich beim Gedanken an das drohende Ableben ihrer ältesten Schwester meiner schrillen Tonlage an, und die roten Flecken auf ihren Wangen kündeten zuverlässig von ihrer prekären Gemütslage.

»Basta adesso«, schimpfte mein Vater unvermittelt los, ganz entgegen seinem sanften Charakter.

Ich hob erstaunt die Augenbrauen. Sollte meine Abreise diesen Stoiker par excellence etwa zu einer emotionalen Reaktion hingerissen haben?

»Ich drehe gleich um, wenn ihr so weitermacht, und dann bleibst du hier. Das ist sowieso eine totale Schnapsidee, in dieses München zu gehen, wo wir keinen Menschen kennen. Ich war von Anfang an dagegen, aber mich fragt ja nie einer.« Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad, während er vor sich hin wetterte.

»Accidenti, Aldo!«, rief meine Mutter. »Pass doch auf, jetzt wärst du beinahe auf den Vordermann aufgefahren!«

Mein Vater trat hart auf die Bremse, und Laura hob für einen Moment verschlafen den Kopf, nur um gleich wieder wegzunicken.

Der Vorwurf meines Vaters traf mich ebenso hart, immerhin hatte ich – zwar widerwillig, aber was soll’s – die strengen Auflagen meiner Eltern akzeptiert, unter denen sie mir das Auslandsjahr in der »bayerischen Landeshauptstadt«, wie es auf der offiziellen Homepage so schön hieß, zähneknirschend gestatteten. Abgesehen davon fand ich, dass ich mit meinen vierundzwanzig Jahren allmählich alt genug war, um mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Mein Vater war da jedoch anderer Meinung. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er meinen Cousin Pietro als Aufpasser von Berlin nach München beordert, damit mir ja niemand etwas Böses tat. Als ob ich nicht langsam mal alleine auf mich aufpassen könnte.

Unsere wahrlich große, weitverzweigte Familie war in alle Welt verstreut, und wir hatten sogar Verwandte in Kalifornien, nur in München kannten wir tatsächlich keine Menschenseele. Das bereitete meinem babbo große Sorgen, da er seine »bella bimba«, wie er mich immer noch nannte, als wäre ich das süße zwölfjähre Mädchen von damals, nicht in die Fänge der kartoffelstampfenden Barbaren jenseits der Alpen entlassen wollte. Abendelang hatten wir diskutiert, überlegt, gerungen. Hatte mein Vater auf seinem kategorischen »Nein!« bestanden. Hatte meine Mutter mit Engelszungen auf ihn eingeredet. Hatte ich Millimeter um Millimeter um ein Stückchen libertá gekämpft – und gesiegt. Die Freiheit rief, und ich war mehr als bereit, dem Ruf zu folgen, auch wenn er mich nach München und nicht nach Berlin führte.

Am Ende wollten meine Eltern mich tatsächlich ziehen lassen, schweren Herzens und unter einer Bedingung: Ich sollte bei Signor Colluti wohnen, einem Schulfreund vom Chef meines Vaters, der vor über dreißig Jahren nach Deutschland ausgewandert war. Er hatte eine Münchnerin geheiratet, war inzwischen jedoch verwitwet und konnte eine Gesellschafterin gut gebrauchen. Was ich mir konkret darunter vorzustellen hatte, war mir zwar ein Rätsel, aber ich hätte alles getan, um den Eisenketten meines überbesorgten Vaters zu entkommen. Sogar die Angst vor meiner eigenen Courage überwunden. Die Seriosität des fremden Herrn hatte meine Eltern schließlich überzeugt, ebenso wie der günstige Mietzins natürlich: meine werte Gesellschaft plus hundertfünfzig Euro gegen ein Bett, einen Schrank und einen ausrangierten Schreibtisch. Babbos Chef und Signor Colluti waren sich jedenfalls sehr schnell handelseinig geworden, und mein Vater hatte seinem Boss das heilige Versprechen abgerungen, dass seiner »Kleinen« nichts passiere. Anschließend hatte er den Landsmann, mit dem er in den letzten Wochen gefühlte hundert Telefonate geführt hatte, noch eindringlich gebeten, ein gestrenges Auge auf seine wertvolle Tochter zu haben. Was dieser selbstverständlich zugesichert hatte.

»Ha, wusst ich’s doch, ein Unfall!«, rief babbo und holte mich aus meinen Gedanken zurück. »Gleich fließt der Verkehr wieder«, sagte er zufrieden und warf mir im Rückspiegel einen vielsagenden Blick zu.

Ich wusste genau, was er damit ausdrücken wollte: Ich hatte mich mal wieder völlig umsonst aufgeregt. Pah, dachte ich nur, ich bin eben impulsiv.

»Na also«, blies mamma ins selbe Horn, ehe ich ihm eine passende Antwort geben konnte. »Siehst du, alles wird gut, und du erreichst deinen Zug auf jeden Fall.«

»Ja, ja«, sagte ich nur und betrachtete die vorbeiziehenden Oleanderbüsche, die in der Mitte der Autobahn um die Wette blühten.

Wie es wohl in München aussah? Ich hatte zwar ein bisschen im Internet gesurft und war sehr beeindruckt von den prächtigen Bauten in der Innenstadt, allen voran von dem neugotischen Rathaus mit seinen vielen Türmchen und Spitzen, das aussah wie aus Disneyland geklaut. Auch das Siegestor, der Dom und die vielen Kirchen und alten Gebäude gefielen mir, und auf Google Earth hatte die Stadt vor allem sehr grün gewirkt. Dieser Englische Garten schien unendlich groß zu sein, dagegen war selbst der Parco della Resistenza in Riccione ein Witz, und den fanden wir schon riesig.

Hoffentlich sind die Leute dort nett und nicht so verstockt, wie man es den Deutschen, vor allem den Bayern, gerne nachsagt. Viel Ahnung von dem, was mich erwartete, hatte ich ehrlich gesagt nicht, da die »Kartoffeln«, wie wir die Teutonen nach ihrem bevorzugten Grundnahrungsmittel nannten, schon lange nicht mehr an der italienischen Adria Urlaub machten. Die goldenen Zeiten der sechziger und siebziger Jahre, als die Deutschen in ihren Isettas und VW-Käfern über die Alpen gekrochen und in wahren Massen bei uns eingefallen waren, waren lange vorbei.

Zio Gaetano, der ältere Bruder meines Vaters und ein eingefleischter Junggeselle, wurde nicht müde, von den hübschen deutschen Urlauberinnen vergangener Tage zu schwärmen. »›Bella bionda‹«, haben wir ihnen hinterhergerufen«, verriet er dem versammelten Nachwuchs bei jedem Familientreffen seine ganz persönlichen Flirttricks, »und schon hatten wir sie an der Angel. Hier ein Kompliment, da ein Lächeln, dazu ein Blick oder eine zufällige Berührung, und die signorine tedesche waren wie Wachs in meinen Händen. Die haben ja förmlich nach ein bisschen Zuneigung gedürstet, so ausgehungert, wie sie an der Seite ihrer dickbäuchigen, stoffeligen Ehemänner waren. Die Ärmsten mussten wir einfach verführen, damit sie auch mal was Schönes erlebten.«

Bei besagten Familienzusammenkünften bedauerte er jedes Mal zutiefst, dass sein einziger Bruder es nicht zu männlichen Nachkommen gebracht hatte, denn dann hätte er sein gesammeltes wertvolles Wissen an die nächste Generation weitergeben können. Dabei hätte er sogar zu schwierigen Themen wie etwa »Wie halte ich vier Frauen gleichzeitig bei der Stange, ohne dass sie voneinander erfahren, auch wenn sie alle im selben Hotel wohnen« oder »Wie komplimentiere ich selbst die sprödeste deutsche Jungfer in mein Bett« etwas zu sagen gehabt.

Beim Gedanken an zio Gaetano, der noch heute mit seinen zweiundsiebzig Jahren, gut fünfzig Kilo Übergewicht und mehr als schütterem Haupthaar vor Selbstbewusstsein strotzte, musste ich grinsen. Nach wie vor ließ er keinen Flirt unversucht und warf sich ebenso galant wie charmant in Pose, sobald ein weibliches Wesen in der Nähe war. Vorzugsweise versuchte er sein Glück bei Zwanzigjährigen, versteht sich. Schließlich wusste er, was gut war, und hatte obendrein Geschmack. An meiner besten Freundin Valeria hatte er geradezu einen Narren gefressen, und wann immer sie zu mir kam, rief sie vorher an und fragte, ob die Luft rein sei oder ob der altersschwache Gigolo wieder bei uns herumlungere.

Eigentlich könnte ich Vale noch eine SMS schreiben, dachte ich und zog mein Handy hervor. Schnell tippte ich ein paar Worte, obwohl wir uns schon siebenundvierzigmal voneinander verabschiedet hatten – in den letzten drei Tagen. Die Male davor zählte ich gar nicht erst mit. Die Trennung von ihr fiel mir mit am schwersten, schließlich hingen wir quasi vierundzwanzig Stunden täglich zusammen, wussten alles voneinander und taten so gut wie keinen Schritt ohne einander. Ehrlich gesagt vermisste ich sie jetzt schon. »Mi manchi«, tippte ich daher und setzte noch ein »TVTB – ich hab dich sehr lieb« dahinter. Die Antwort kam, kaum dass ich auf »Senden« gedrückt hatte.

Von dem Klingelton der eintreffenden SMS wurde Paola wach. Verschlafen rieb sie sich die Augen und fragte: »Sind wir endlich da?«

»Wieso?«, fragte ich zurück. »Geht etwa wieder gleich was daneben?«

Damit zog ich sie auf, seit sie vier war. Damals hatten wir auf der Fahrt von Riccione nach Ferrara bestimmt zehnmal anhalten müssen, mamma war mit ihr zur Toilette gerannt, und jedes Mal hatte sie dann nicht »gekonnt«. Am Ende hatte sie im Auto in die Hose gemacht. Der demütigende Vorfall verfolgte Paola bis heute, und ich als liebevolle Schwester nutzte – genau wie Laura – jede Gelegenheit, um sie fürsorglich daran zu erinnern. Damit ja nicht wieder was danebenging.

»Bäh!«

Sie beugte sich vor, um mir die Zunge rauszustrecken, und weckte dabei Laura. Sofort fingen die beiden an zu streiten, wie eigentlich immer, seit sie auf der Welt waren. Früher hatten sie sich die Bauklötze und Barbiepuppen um die Ohren gehauen, heute stritten sie um ihre Klamotten und Jungs. Jetzt ging es darum, wer wen warum aufgeweckt hatte. Lautstark warfen sie sich Gemeinheiten an den Kopf und gestikulierten dabei wild, bis mamma sie zur Raison rief.

»Ragazze«, sagte sie und machte eine eindeutige Handbewegung, um das Palaver zu beenden, wobei die vielen goldenen Armbänder an ihrem Handgelenk klirrten, »jetzt reißt euch mal zusammen. Schließlich werdet ihr eure Schwester ein Jahr lang nicht sehen. Wir sind jeden Moment da.«

Ich hatte gar nicht richtig hingehört, doch bei dem letzten Satz fuhr ich hoch und spähte wieder durch die Windschutzscheibe. Tatsächlich, wenige Meter vor uns erhob sich der hell angestrahlte gelbe Sandsteinbau des Hauptbahnhofs von Bologna. Ein kritischer Blick auf eine der Uhren, die seitlich an dem Gebäude hingen, ließ mich erleichtert aufatmen: Viertel vor elf. Alles in bester Ordnung. Ich konnte mir sogar noch eine Vogue kaufen, bevor ich in den Zug stieg.

Zehn Minuten später war mein Gepäck in dem engen, leicht muffigen Abteil verstaut. Angeekelt rümpfte ich beim Anblick der Klaustrophobie auslösenden Zelle die Nase und fragte mich lieber nicht, wie viele schwitzende Menschen vor mir schon auf den sichtlich beanspruchten Sitzen gesessen hatten. Nun gut, letztlich hieß das nur, dass meine Instinkte perfekt funktionierten. Bekanntlich fördert Verliebtheit ja die Fortpflanzung, Angst mobilisiert den Fluchtreflex, und Ekel verhindert Vergiftungen. Mein Körper sorgte also nur vor.

Eigentlich hatte babbo mir einen Platz im Schlafwagen buchen wollen, doch leider war schon alles belegt gewesen, selbst im Liegewagen, wo man für ganze acht Stunden seines Lebens mit fünf anderen Personen auf drei Quadratmetern zusammengepfercht wurde. Wohl oder übel musste ich daher mit einem Abteil vorliebnehmen, in dem noch genügend Plätze verfügbar waren. Als ich mich umsah, wusste ich auch sofort, warum: Das Tropenholzimitat an den Wänden war verkratzt, die kleine Leselampe an der Gepäckablage funktionierte nicht, und die Flecken auf dem Teppichboden sprachen eine deutliche Sprache: igitt! Ich beschloss, die ganze Fahrt über nichts zu trinken, damit ich ja nicht auf die Toilette musste, und verfluchte, ganz undankbare Tochter, die ich nun mal war, meinen geizigen Vater, der mir statt eines Fluges – meinetwegen auch Economy – nur ein Bahnticket zweiter Klasse gesponsert hatte.

Ich stellte mich in die Tür des uralten Waggons, in dem ich die Nacht verbringen sollte, und hatte Bauchschmerzen vor Aufregung. Ehrlich gesagt hatte ich auf einmal mehr Angst, ein Jahr in dem mir plötzlich kalt und abweisend erscheinenden Deutschland zu verbringen, als ich mir je selbst eingestehen würde, aber natürlich versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. »Vado al massimo«, sprach ich mir mit Vasco Rossis Worten Mut zu und lächelte tapfer. Schließlich wollte ich unter keinen Umständen eine so peinliche Vorstellung liefern wie die Zwillinge. Laura und Paola standen mit verquollenen Augen vor mir auf dem Bahnsteig und heulten wie Sophia Loren erst neulich vor laufender Kamera, nachdem sie die Doku über ihr Leben gesehen hatte.

Unterdessen steckte mamma, die in ihrem dunkelblauen Kostüm mal wieder aussah wie aus dem Ei gepellt, mir ein Essenspaket nach dem anderen zu. »Hier, den hat zia Giusi mir für dich mitgegeben«, sagte sie und hielt mir ein riesiges Stück Parmesan unter die Nase.

»Glaubst du, in Deutschland herrscht eine Hungersnot?«, fragte ich sie und versuchte, den Käse in die prall gefüllte Tasche mit der verführerisch duftenden Wildschweinsalami zu quetschen. Ich stellte sie zur Seite, zu den anderen Tüten, aus denen mehrere Großpackungen Frühstückskekse, Nudeln, Thunfischdosen, eingelegte Artischocken, Baci di Dama und eine Flasche Olivenöl herauslugten.

»Man weiß nie. Diese Deutschen sollen ja Wurst und Käse zum Frühstück essen. Unglaublich, so was nennen die allen Ernstes Esskultur!« Meine Mutter schüttelte sich und deutete auf die grüne Flasche mit dem Öl. »Das ist das gute, von nonna Maria. Sie hat mir extra was von dem handgepressten olio für dich mitgegeben. Verwende es sparsam, so was Feines gibt es in München ganz bestimmt nicht.«

»Danke, ich werde gut drauf aufpassen«, sagte ich gerührt und wischte mir nun doch eine Träne aus dem Augenwinkel.

Meine heißgeliebte Oma hätte ich am liebsten in den Koffer gepackt und mitgenommen, und zwar nicht nur weil sie die besten Tortellini pasticiati aller Zeiten und eine Lasagne machte, die zum Niederknien war. Meine nonnina, die bei uns unterm Dach wohnte, war einfach ein Schatz und immer für mich da, wenn ich sie brauchte. Keiner konnte so gut zuhören wie sie, und wenn sie von früher erzählte, dann hing ich jedes Mal wie gebannt an ihren Lippen und konnte nicht genug bekommen.

Inzwischen war es eine Minute nach elf, und die Lautsprecheransage am Bahnsteig ließ verlauten, dass der Zug nach Monaco di Baviera über Verona, Innsbruck, Jenbach, Wörgl, Kufstein und Rosenheim in wenigen Minuten abfahrbereit sei. Babbo war wohl noch immer auf Parkplatzsuche, denn er war weit und breit nicht zu sehen. Anstatt den Punto wie jeder anständige Italiener einfach mitten vor dem Bahnhof im absoluten Halteverbot stehen zu lassen, hatte er darauf bestanden, den Wagen ordnungsgemäß auf einem richtigen Parkplatz abzustellen, und war noch mal um den Block gefahren. Wahrscheinlich wurde er fündig, wenn mein Zug in den Bahnhof von München einrollte.

»Ruf an, sobald du angekommen bist, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist«, sagte mamma. »Hörst du?«, fügte sie hinzu.

»Ja klar, mach ich«, versicherte ich und stieg noch mal aus. Zum Abschied zwickte ich Paola in den Oberarm. »Hör endlich auf zu heulen. Die Wimperntusche war teuer«, foppte ich sie. Dabei hätte ich inzwischen selbst am liebsten losgeflennt. Wie immer war ich dann besonders garstig, um von mir abzulenken, doch mein Schutzpanzer aus Sarkasmus fing bedrohlich an zu spannen.

Wir umarmten und küssten uns, und für einen Moment überlegte ich, ob ich mein Gepäck alleine auf die Reise schicken sollte. Signor Colluti konnte dann in München statt mich meine Koffer und Tüten in Empfang nehmen. Er würde sich bestimmt über die Leckereien freuen, und meine Klamotten konnte er gewinnbringend verkaufen. Schließlich waren es ausschließlich Markensachen: Gucci, Armani, D&G, Prada – ich wusste eben, worauf es im Leben ankam.

Aber als der Schaffner neben mich trat und mich aufforderte einzusteigen, zögerte ich keine Sekunde und erklomm die hohen Stufen. Gerade als sich die Türen schlossen, kam babbo auf den Bahnsteig gestürmt, eine Stange Baci Perugina in der Hand, meine Lieblingspralinen. Am meisten mochte ich die ganze Haselnuss, die im Innern steckte, und freute mich jedes Mal auf den transparenten Zettel mit dem weisen Spruch, in den die Praline eingewickelt war.

»Halt!«, rief er völlig außer Atem und sprintete neben dem anfahrenden Zug her. »Meine Tochter!«

Ich streckte den Arm aus dem Fenster, so weit ich konnte, und erwischte die Packung, bevor der Zug richtig an Fahrt gewann und meine Eltern und die winkenden Zwillinge immer kleiner wurden. Die beiden gertenschlanken Gören überragten unsere Mutter bereits um mehrere Zentimeter, und auch babbo wirkte auf einmal erstaunlich klein neben ihnen. Mamma warf mir im Stakkato Handküsse zu und bedeutete mir erneut mit einer Geste, sie ja anzurufen, sobald ich angekommen war. Ich nickte und winkte und nickte und winkte und nickte und winkte, bis der Zug die Stadtgrenze längst hinter sich gelassen hatte und die Dunkelheit die vorbeiziehenden Bäume und Büsche verschluckte.

Irgendwann riss ich mich los und ging ins Abteil zurück, in dem nun eine Blondine mit Pferdeschwanz, modischen engen Jeans und lila Chucks im Schneidersitz dasaß und im Takt eines Songs wippte, den sie mit einem altmodischen Walkman hörte. Sie war etwa so alt wie ich und las völlig versunken in einem Buch. Als ich die Schiebetür aufzog, blickte sie auf und zog sich die Kopfhörer von den Ohren.

»He, wanderst du aus?«, fragte sie und deutete auf mein Gepäck, das über sämtliche Sitze verteilt war.

»Guter Witz«, antwortete ich und versuchte, die Tüten aufeinanderzustapeln, um wenigstens eine schmale Ecke zum Sitzen zu haben. Dann ließ ich mich in das speckige Polster fallen, wobei ich darauf achtete, dass meine zarte Haut möglichst nicht mit dem verseuchten Stoff in Berührung kam, und erzählte ihr von meinem bevorstehenden Auslandssemester in der bayerischen Metropole.

Beate, die in Bologna einen Schulfreund besucht hatte, kam aus Passau, studierte ebenfalls in München, Byzantinische Kunstgeschichte und Neogräzistik, und abgesehen davon, dass mir absolut schleierhaft war, wie man sich dafür interessieren konnte, war sie mir auf Anhieb total sympathisch. Wir fingen fünf Kilometer hinter Bologna an zu quatschen und hörten erst wieder auf, als der Lautsprecher über unseren Köpfen knarzte und die Durchsage kam, dass wir in wenigen Minuten München erreichen würden.

Ich hatte mich, außer mit Vale, selten auf Anhieb so gut mit jemandem verstanden, und nach knapp acht Stunden Fahrt wussten wir fast alles voneinander. Beate hatte mir von ihrem langjährigen Freund erzählt, der sie vor kurzem erst wegen einer anderen verlassen hatte, und ich hatte ihr gebeichtet, dass ich – auch dank meines Vaters, seines Zeichens Schießhundestaffelführer – noch nie eine längere Beziehung gehabt hatte. Nicht auszudenken, was bei uns zu Hause los gewesen wäre, wenn babbo auch nur geahnt hätte, dass mich das nicht davon abgehalten hatte, mit dem einen oder anderen Typen, der mir gefiel, all das auszuprobieren, von dem er nicht mal zu träumen wagte. Selbst in seinen kühnsten Alpträumen nicht.

Die quirlige Studentin, die genauso gerne und schnell redete wie ich, lachte nur, als ich ihr von meinen Erlebnissen am Strand und auf den Rücksitzen diverser Autos erzählte, und lud mich spontan zu sich nach Hause auf einen Kaffee ein. Sie lebte mit zwei Mitbewohnern in einer WG im Süden von München, und wir machten aus, dass ich sie bald mal besuchen kam.

Die Wohnung von Signor Colluti lag in Neuhausen, ganz in der Nähe des Nymphenburger Schlosses, einer eher gehobenen Wohngegend mit zum Teil parkähnlichen Gärten, wie Beate mir erklärte. Nun denn, ich war gespannt.

Kurz bevor wir in den Kopfbahnhof von München einfuhren, meldete mein Handy eine eingehende SMS. Ich riss mich von dem Anblick der hohen Bürogebäude rechts und links der Bahnlinie los und holte mein Telefon hervor, um neugierig auf das Display zu blicken. Na klar: Valeria, wer sonst? »Hals- und Beinbruch im Polizeistaat Bayern. Lass dich ja bei nichts erwischen! Baci Vale«, las ich.

»Okay, werd mich dran halten«, simste ich grinsend zurück. Dann wandte ich mich an Beate. »Gibst du mir bitte noch deine Telefonnummer? Dann kann ich sie gleich einspeichern. Ich würde mich wirklich freuen, wenn wir uns bald mal bei dir oder auf einen Cocktail in der Stadt treffen könnten.«

»Na klar«, meinte sie nur. »Du kriegst von mir eine Eins-a-Stadtführung inklusive Kneipentour. Keine Sorge, München ist echt nicht schlecht. Ein bisschen teuer für Studenten, aber wenn man die richtigen Ecken kennt, dann macht’s großen Spaß hier. Im Sommer fühlt man sich glatt wie im Urlaub, alles findet draußen statt, in den Biergärten und Cafés, und es gibt so viele tolle Open-Air-Veranstaltungen, dass man gar nicht weiß, wo man zuerst hingehen soll. Du musst unbedingt mal mitkommen zum Sommertheater in den Englischen Garten, das ist total klasse.«

Ihre Begeisterung war ansteckend, und ich hatte auf einmal ein richtig gutes Gefühl. Der Zug hatte inzwischen angehalten, und Beate half mir mit meinem Gepäck, bis ich sämtliche Koffer, Taschen, Tüten und Fresspakete sicher auf meine beiden Arme verteilt hatte. Wir umarmten uns zum Abschied, und das gute Gefühl verfestigte sich. Wenn bloß jeder zehnte Mensch in diesem München auch nur annähernd so nett war wie meine Reisebegleiterin, dann konnte gar nichts schiefgehen.

»Ciao«, rief sie mir noch mal über die Schulter zu, da war sie auch schon in der Menge verschwunden.

Ich lief einfach mit dem Strom der anderen Reisenden mit, die zielstrebig auf die große Ankunftshalle zusteuerten. Staunend blickte ich mich auf dem breiten, extrem sauberen Bahnsteig um. Hier lag ja nicht mal ein Kaugummipapier oder eine Zigarettenkippe herum, alles wirkte wie aus dem Bilderbuch. Und erst die vielen Bäckereien, Kioske, Supermärkte und anderen Läden, die ich am Ende des Bahnsteigs in der großen Halle des Kopfbahnhofs erspähte. Haben die den Bahnhof aus Versehen in eine Shoppingmall reingebaut?, fragte ich mich. In Bologna an der stazione centrale gab es eine Bar, einen Zeitungskiosk und die Schalterhalle, mehr nicht. Während ich darüber nachdachte, wieso die Menschen in Deutschland auf die Idee kamen, auf einem Bahnhof shoppen zu gehen – ich konnte mir nichts Uncooleres vorstellen –, wäre ich fast über den Trolley eines älteren Herrn gestolpert, der in gemächlichem Tempo vor mir herging.

Apropos älterer Herr: Ich begann, nach meinem Herbergsvater Ausschau zu halten, und reckte den Hals, um über die Köpfe der vor mir laufenden Menschen hinweg etwas zu erkennen. Am Ende des Bahnsteigs stand nur leider kein älterer Herr, sondern lediglich ein Mann mit seiner Tochter und einem Strauß roter Rosen in der Hand, zwei Frauen in gelben T-Shirts mit dem Aufdruck »Die Bonner Mädels auf Tour« und ein alles andere als vertrauenerweckend wirkender junger Typ mit einem braunen Karton in der Hand. Als ich näher kam und erkannte, was darauf stand, sog ich die Luft scharf ein.

»Mamma mia!«, flüsterte ich nur, während mir der Schreck in alle Glieder fuhr. »Das soll Signor Colluti sein? Nie im Leben.«

Etwa zehn Meter vor mir stand ein großer, durchtrainierter Mann Anfang dreißig, der aussah wie ein Mafioso aus dem Bilderbuch: lange, mit Gel zurückgekämmte Haare, beigefarbener, vermutlich maßgeschneiderter Anzug und eine verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase. Auf dem Karton in seiner Hand stand in krakeliger Schrift: »Signorina Angela Troni«. Das musste ein Missverständnis sein, immerhin hatte mir babbo extra ein Foto von Signor Colluti gezeigt, damit ich ihn auch ja erkannte. Und die beiden passten nicht zusammen. Definitiv nicht.

Wieso war der alte Herr nicht selbst zum Bahnhof gekommen? War er etwa krank? Dann hätte er doch meine Eltern benachrichtigen müssen. Wer war dieser Typ? Das alles erschien mir reichlich merkwürdig. Und irgendwie auch furchteinflößend.

Reflexartig rieb ich mir über die Augen. Doch, doch, ich hatte die Kontaktlinsen drin. Ganz sicher. Und ich hatte ausnahmsweise auch nicht die linke mit der rechten Linse verwechselt, was hin und wieder vorkommt und mir ein wenig die Sicht vernebelt, da ich nicht auf beiden Augen gleich schlecht sehe. Die Sachlage war eindeutig: Entweder Signor Colluti hatte eine Verjüngungskur mit angegliederter Blitzkarriere bei der Mafia hinter sich, oder hier war etwas gehörig schiefgelaufen.

Da hatte ich vierundzwanzig lange Jahre mitten in Italien gelebt, ohne ein einziges Mal mit einem Angehörigen dieses gemeingefährlichen Vereins auch nur entfernt in Berührung zu kommen, und jetzt so was. Kaum betrat ich deutschen Boden, wartete die Mafia auf mich. Ich schluckte.

Inzwischen war ich ihm aufgefallen, vermutlich weil ich mit meinem gesamten Gepäck, das mich umgab wie die Ausläufer des Indus, mitten im Weg stehen geblieben war und wie gebannt in seine Richtung starrte. Meine Schultern schmerzten fürchterlich, und ich spürte förmlich die Striemen, wo mir die Tragegurte eben noch in die Haut geschnitten hatten. Mamma hatte mir noch gesagt, ich solle den Rucksack nehmen, aber das war mir zu uncool gewesen. Das hatte ich nun davon, doch das war momentan nun wahrlich nicht meine größte Sorge.

Mit hochgezogener linker Augenbraue wandte sich der unheimliche Geselle mir zu und versuchte, mit mir Blickkontakt aufzunehmen, was mit der verspiegelten Sonnenbrille nicht ganz leicht war. Dennoch spürte ich instinktiv, dass er mich meinte, daher wandte ich mich schnell ab und tat, als wäre ich ganz furchtbar mit meinem Gepäck beschäftigt.

»He, was ist?«, fragte mein Gewissen. »Willst du etwa an ihm vorbeilaufen?«

»Genau das ist der Plan. Sieh dir den Typen doch mal an!«, erwiderte ich und legte, ohne noch mal nach links und rechts zu schauen, einen gehörigen Zahn zu. Ich konnte unmöglich mit diesem Typen mitgehen. Mit einem waschechten Mafioso. Außerdem kannte ich den Kerl gar nicht. Wenn mein Vater davon erfuhr, würde er mit Anlauf in den Punto springen und nach München rasen – diesmal sogar über die Autobahn und ohne jede Rücksicht auf Geschwindigkeitsbegrenzungen. Und wenn es ein paar hundert Euro Maut kostete.

Ich überlegte kurz, ob ich meine Eltern anrufen sollte, allerdings war es gerade mal eine Minute nach halb sieben, und wenn babbo eines hasst, dann früh aufzustehen. Was ich übrigens von ihm geerbt habe. Als Buchhalter in einer Agentur für Sportwetten muss er erst um halb zehn im Büro sein, weshalb er so gut wie nie vor acht Uhr aufsteht und mamma die morgendliche Erstversorgung der Familie überlässt. Außer in Notfällen. Das hier ist ein Notfall, überlegte ich und versuchte, im Laufen mein Handy aus meiner Mandarina-Duck-Handtasche zu ziehen. Schon mehr als einmal hatte ich mich über diesen kapitalen Fehlkauf geärgert, denn die Tasche war zwar todschick, aber auch total unpraktisch, da sie mit einem Reißverschluss und einem Druckknopf zu verschließen war und die breite Lasche jedes Mal in den viel zu kurzen Henkeln hängenblieb. Egal, das Teil war sündhaft teuer und machte was her.