Alain Claude Sulzer

Annas Maske

Novelle

Suhrkamp

Für Hilde und Hanna

I

Stuttgart, den 4ten Juli 1910

Meine liebste Mama, ich bin erschüttert, ich muß Dir schreiben. Die Tränen netzen das Papier und das, was die Tinte Dir von der schrecklichen Tat, die sich hier zugetragen hat, berichten muß. Mir ist so weh ums Herz! Denn etwas ist bei uns geschehen, wofür ich mir zu einem nicht geringen Teil die Schuld zuschreibe, denn hätte ich anders gehandelt, so wäre es vielleicht nicht geschehen. Hätte ich die Tür doch niemals geöffnet, das Verbrechen wäre durch diese Tür nicht eingetreten.

Ein Wagen hielt vor dem Haus Schubartstraße Nr. 8, wo sich eine beträchtliche Anzahl von Neugierigen versammelt hatte. Man gedachte hier jener Frau, deren gewaltsames Ende seit dem Vorabend in aller Munde war. Der Tod der Sängerin besaß offenbar nicht weniger Anziehungskraft als ihre Auftritte in der Hofoper. Unter den Fenstern, hinter denen sich die Tragödie abgespielt hatte, verharrten nun alle in unruhiger, stummer Anteilnahme. Die Gegenwart eines Schutzmanns, den man damit beauftragt hatte, Ruhe und Ordnung zu gewährleisten, war zwar überflüssig, doch störte sie nicht.

Dem Wagen entstieg zuerst der Bildhauer Walther Weitbrecht, den man spät, aber noch nicht zu spät, mit der Abnahme der Totenmaske beauftragt hatte. Die Zeit, so hatte Weitbrecht kurz davor zu seinem jungen Assistenten gesagt, der dies nicht zum ersten Mal zu hören bekam, arbeite stets gegen sie, und um so unerbittlicher, je schlechter die klimatischen Bedingungen seien. Und diese waren jetzt im Juni besonders ungünstig. Die Hinterbliebenen seien aber leider fast alle der Meinung, ihre Arbeit lasse sich besser verrichten, wenn die Leiche bereits steif sei. Eine irrige Annahme, die die vordringlichste Pflicht des Abnehmers, dem unaufhaltsamen Verfall zuvorzukommen, empfindlich erschwere. Inzwischen waren mehr als 24 Stunden vergangen.

Unser Objekt läuft uns leichter davon, wenn es tot ist, als wenn es noch lebt; und je später wir kommen, desto geschwinder ist es. Hat der Prozeß der Verwesung einmal eingesetzt, dann adieu du schöne Leiche. Man rief ihn fast immer zu spät. Entsprechend entstellt waren die Abbilder, die man erhielt. Mit wenigen Ausnahmen. Er freue sich auf Anna Sutter, hatte Weitbrecht im Wagen gesagt, wenn er ihre Bekanntschaft auch lieber unter für die Dame vorteilhafteren Umständen gemacht hätte. Aber das Leben läßt uns keine Wahl.

Als sich der Kutscher erbot, ihnen beim Transport der mitgeführten Kiste behilflich zu sein, die sie mit vereinten Kräften aus dem Wagen gehoben hatten und nun in den ersten Stock transportieren wollten, lehnte Weitbrecht ungnädig ab.

Die beiden Männer, deren Auftrag offenbar bekannt war und die demgemäß mit gewichtigen Mienen auftraten, verschwanden im Haus. Sie begaben sich in den ersten Stock, wo sie von Pauline, Annas Zofe, erwartet wurden, die zu diesem Zeitpunkt allein bei der Toten weilte. Ihre Augen waren vom vielen Weinen gerötet. Anna Sutters Schwester, die in Brunnen (im Kanton Schwyz) lebte und an die man gleich nach dem Unglück depeschiert hatte, war bereits am nächsten Tag in Stuttgart eingetroffen, doch da ihre Anwesenheit bei der Abnahme der Totenmaske laut Weitbrecht nicht erforderlich war, hatte sie sich für einige Stunden ins Hotel zurückgezogen. Sie betrat die Wohnung erst wieder, als Weitbrecht und sein junger Assistent ihre Arbeit längst beendet hatten. Einige leichte Fissuren und Verfärbungen auf der Haut der Toten, die an das Handwerk des Bildhauers hätten erinnern können, waren von einem Maskenbildner der Königlichen Hofoper mit viel Geschick überschminkt worden.

Die zehnjährige Tochter der Verstorbenen, die sich – wie auch die Zofe – zum Zeitpunkt des Dramas in der Wohnung aufgehalten hatte, war bei dem Kammersänger Peter Müller untergebracht worden.

Den im Geburtsregister der Stadt Wil eingetragenen, am 11.November 1902 illegitim in München geborenen Knaben mit Namen Felix Gustav erwähnt die »Schwäbische Kronik«, die ansonsten ausführlich über das dramatische Geschehen informierte, nicht; vielleicht aus Rücksicht gegenüber der Toten, vielleicht aber auch, weil sie einfach keine Kenntnis von seiner Existenz besaß. Er lebte seit seiner Geburt von der Mutter getrennt als Pflegekind bei einer befreundeten Familie in München.

Die Aufgabe der »Kopfabschneider«, wie man die Vertreter dieses Berufsstands in Wien einst nannte, bestand darin, ein Abbild des Toten zu geben, das den Betrachter an den Lebenden erinnerte, mit dem der Tote in Wirklichkeit eine meist nur noch sehr entfernte Ähnlichkeit besaß. Angestrebt wurde ein letztes Porträt, ein Bild endgültiger Sammlung. Getanes und Gedachtes, Erlebtes und Gefühltes zu einem Ideal verschmolzen, zu einem Vorbild erstarrt. Das Gipsgesicht würde vereinen, was und worüber je in jenem Kopf gedacht worden war. Das Gesicht war natürlich farblos. Kolorierungen, wie man sie aus anderen Kulturen kennt, sind unzulässig. Ein abgenommenes Gesicht muß für die Ewigkeit in Stein gehauen sein. Nicht widerspiegeln sollte sich, wenn irgend möglich, der durchlittene Todeskampf. Eine Brille ist auf einem Totenantlitz nicht gestattet. Im Tod sind alle gleich und also alle blind. Unheimlich an einer Totenmaske ist, daß sie außerhalb jeder gewohnten Vergänglichkeit verharrt. Ihr bleibt die Grimasse des Tages erspart, schreibt ein Kenner.

Weitbrecht und Kroll, sein junger Assistent, betraten das Sterbezimmer. Irgend jemand, Arzt oder Zofe, hatte die Augenlider der Toten zugedrückt und ihr Kinn hochgebunden. Ihr Kopf war unverletzt geblieben, denn sie war durch zwei Schüsse in die Brust getötet worden.

Anna Sutter lag, bis unters Kinn zugedeckt, auf dem Bett in ihrem Schlafzimmer, die Hände auf dem Bauch gefaltet, zwischen den Fingern eine kleine Rose von sonderbarer Färbung, ganz ohne Zweifel ein Exemplar der seltenen Variegata di Bologna, wie Weitbrecht, ein Rosenkenner, erstaunt feststellte. Auch er hatte die Sängerin in der Rolle der Carmen gesehen, die sie seit zehn Jahren immer wieder und mit nicht nachlassendem Erfolg verkörpert hatte. Auch er erinnerte sich an die schnelle, zuckende Handbewegung, mit der sie Don José, dem glücklosen Liebhaber, jene Blume zugeworfen hatte, die für den weiteren Verlauf seines Lebens eine geradezu sinnbildliche Bedeutung haben sollte; kaum weniger schnell als die rote Rose war auch die Liebe der Zigeunerin verkümmert und verblüht. Mochte sich die Rose, um die sich ihre erstorbenen Glieder jetzt für immer geschlossen hatten, durch ihre Seltenheit und ihren Duft noch so sehr von jener unterscheiden, die sie auf der Bühne in ihren Händen gehalten hatte, so wirkte diese doch kaum weniger frivol als jene, die, wie Weitbrecht vermutete, wohl aus Seide gewesen war.

Die Leichenstarre war längst eingetreten und würde sich frühestens gegen Nachmittag wieder lösen. Wäre die Leiche noch weich, so Weitbrecht, könnte er leichter an ihr arbeiten. Die Leute, die glauben, von einem weichen Gesicht lasse sich nur schwerlich ein Abdruck nehmen, haben keine Ahnung. Das Gegenteil trifft zu. Vor der völligen Erstarrung sind Leichen gefügige Wesen, sagte er. Erst dann, wenn der Rigor mortis eingetreten ist, meist spätestens sechs Stunden nach dem Tod, beginnen sie in ihr unbewegtes Inneres zu starren.

Auf den ersten Blick deutete nichts auf die dramatischen Ereignisse des vergangenen Tages hin. Wäre die Tote nicht gewesen, hätte man glauben können, hier werde gerade ein Umzug vorbereitet. Die Teppiche, Sessel und Stühle hatte man entfernt, was dem Zimmer ein kahles, der Situation auf theatralische Weise aber angemessenes Aussehen verlieh. Es war, als sei auch aus den Wänden, an denen lediglich ein großer Schrank und eine Kommode standen, alles Leben gewichen.

Der Blick des jungen Assistenten fiel zufällig auf eine Verdichtung dunkler Punkte oberhalb der hellgrauen Paneele: Es handelte sich dabei zweifellos um Blut, das gegen die Wand gespritzt und getrocknet war und sich entweder nicht vollständig hatte entfernen lassen oder von der Zofe übersehen worden war. Blut von wem? Von ihr, von ihm oder von beiden?

Nachdem Weitbrecht die Decke über der Toten zurückgeschlagen hatte, machten sich die beiden Männer an die Arbeit. Im Gegensatz zur Wirkung, die Anna Sutter von der Bühne herab gewiß nicht nur auf ihn gehabt hatte, schien ihm ihr Körper jetzt, in ihren eigenen Räumen, auf diesem Bett, in ihrem Sterbezimmer gänzlich zurückgenommen, fast schmächtig. Als Weitbrecht das Wort an seinen jungen Assistenten richtete, wandte dieser seinen Blick endlich von der Wand.

Er schien von dem Anblick der berühmten Sängerin beeindruckt zu sein. Hatte er sie jemals auf der Bühne gesehen? Weitbrecht hat ihn weder jetzt noch später danach gefragt.

Weitbrecht bat die Zofe, die unter der Tür stand und auf Orders wartete, einen Eimer Wasser und ein Tuch zu bringen.

Stuttgart, den 4ten Juli 1910

Hätte ich die Tür niemals geöffnet, so wäre das Verbrechen durch diese Tür nicht eingetreten, und mein liebes Sutterle lebte noch. Ich wollte Dir schon alle die Tage schreiben, denn ich fürchte, Du hast schon auf anderem Wege von dem furchtbaren Unglück vernommen, das sich hier unter meinen Augen ereignet hat und von dem die ganze Stadt seit Tagen spricht. Wenn nicht, dann um so besser.

Wenn ich Dir bisher nicht schrieb, so deshalb, weil ich kaum wußte, wo mir der Kopf stand, und weil ich, wie mir der Doktor sagte, ganz unter dem Eindruck des Geschehens stand und stehe. Ich war erschüttert und bin es immer noch und voll wirrer Gedanken. Das machte es mir kaum möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Jetzt, wo mein Sutterle – ich hoffe in seligem Frieden – ruht, scheint mir dies allmählich wieder möglich. Doch bis es soweit war, mußte noch einiges geschehen, und vieles mußte von meiner Seite erledigt und dem Polizisten erzählt werden, einem sehr netten Mann. Es wurden so viele Fragen gestellt, und ich konnte sie doch nicht alle beantworten. Ich tat es so gut ich konnte, ohne schlecht über die Tote zu sprechen. Ich wäre jetzt so gern in Deiner Nähe, doch ist das leider nicht möglich, denn ich muß mich nun wohl oder übel nach einer neuen Stelle umsehen. Ob es sich findet, daß ich eine zweite solche Herrschaft finde, wie Anna Sutter eine war, das ist sehr fraglich. Ich vermisse sie so, doch nun zur Sache.

Man hatte die Tote, die ein einfaches, gestärktes Nachthemd aus Leinen trug, bislang weder frisiert noch geschminkt. Ihrem Äußeren war nach ihrem Tod keine weitere Gewalt mehr angetan worden, wenn man einmal davon absah, daß man ihre Hände gefaltet hatte. Auf die Frage, ob Angehörige anwesend seien, schüttelte die Zofe den Kopf. Die Schwester sei unterwegs in Geschäften oder in ihrem Hotel. Sie wurde angewiesen, überraschenden Besuchern, ob Verwandten oder Vertrauten, den Zutritt zum Sterbezimmer zu verweigern, solange sie mit der Gesichtsabnahme beschäftigt seien. Die Zofe, die keine Ahnung hatte, welchen furchterregenden Anblick eine Leiche bietet, von der gerade eine Maske abgenommen wird, nickte, und Weitbrecht hegte keinen Zweifel, daß auf das Mädchen Verlaß war.

Weitbrecht bat seinen jungen Assistenten, die Binde zu entfernen, die das Herunterklappen des Kinns verhindern sollte. Er tat es. Es hielt.

Weitbrecht bat seinen Assistenten des weiteren, ein Fenster zu öffnen, aber keinesfalls hinaus- oder gar hinunterzuschauen. Die neugierige Menge sollte keinerlei Hinweise erhalten, in welchem Zimmer sie arbeiteten, denn von solchen Hinweisen würden die Leute unweigerlich auf den Tatort schließen. Die Pietät gebiete Verschwiegenheit.

Auf den Einwand des jungen Assistenten, es sei doch stark anzunehmen, daß die Leute da unten ohnehin längst wüßten, in welchem Zimmer sich das Drama abgespielt habe, erfolgte ein scharfes Zischen. Obwohl es mit Gewißheit nicht von der Leiche rührte, zuckte der Assistent merklich zusammen und verstummte. Er näherte sich dem Fenster mit größter Vorsicht und zeigte sich der aufmerksam wartenden Menge nicht.

Die Zofe brachte zwei große Krüge voll Wasser, stellte sie neben den Ofen und erklärte mit gesenkter Stimme, sie habe keinen Eimer gefunden, sie wisse nicht, wo die Eimer hingekommen seien. Weitbrecht schien in Gedanken versunken. Der junge Assistent bedankte sich. Sie wiederholte, sie wisse wirklich nicht, wo die Eimer hingekommen seien. Ein Zischen. Sie erschrak heftig. Sie schien äußerst verwirrt, als fasse sie noch immer nicht, was hier geschehen war. Und sie wiederholte: Die Eimer sind wie vom Erdboden verschluckt.

Weitbrecht, der ihr Kommen offenbar doch bemerkt hatte, erlaubte ihr, sich zu entfernen, bat sie aber darum, in Rufweite zu bleiben; wahrscheinlich werde man sie noch brauchen.

Nachdem die Zofe das Zimmer verlassen hatte, um hinter der Tür auf weitere Anweisungen zu warten, rückten Weitbrecht und sein junger Assistent das schwere Bett von der Wand in die Mitte des Zimmers, so daß sie die Leiche bequem umrunden konnten. Auf ein Zeichen des stark schwitzenden Weitbrecht hob sein junger Assistent, wie man es ihm beigebracht hatte, den Kopf der Toten hoch, entfernte das Kissen und legte das Tuch darunter, das die Zofe über einen der Krüge gelegt hatte. Ihr Kopf wog schwer. Vorsichtig legte ihn der junge Mann auf das Kissen zurück. Auf ein weiteres Zeichen Weitbrechts strich er mit einem breiten Kamm das volle schwarze, vermutlich gefärbte Haar der Toten glatt nach hinten.

Auf Anordnung Weitbrechts hob der Assistent den Kopf der Toten erneut hoch: Weitbrecht band nun ihr Haar mit einem eigens dafür zugeschnittenen Stück Stoff – das der junge Assistent dem mitgeführten Koffer entnommen hatte –, hinter ihrem Kopf zu einem Knoten zusammen. Weitbrecht achtete darauf, daß das Haupt in der Gleichgewichtsachse lag, so daß Quetschungen und Verschiebungen der schlaffen Muskeln und Haut vermieden wurden. Die Augenlider und Lippen drückte er mit der rechten Hand leicht zu, das Kinn hielt er mit der linken Hand fest.

Die unbehaarte Haut, zumal die einer Frau, enthält soviel Fett, daß sie weder mit Öl noch mit Modellierton überpinselt werden muß; die Gefahr, daß der Gips auf der Haut haften bleibt, ist also äußerst gering. Was nicht zur Maske gehört, der untere Teil des Halses etwa, die Stellen hinter den Ohren etc., wird mit hauchdünnem Papier umlegt.

Dann wird eine große Schale Gips angemacht und die Flüssigkeit ganz dünn, nur wenige Millimeter dick, über das Gesicht gelöffelt.

Dann wird ein Faden von der Stirnmitte über den Nasenrücken zum Mund und bis zum Kinn gelegt.

Dann wird weiterer, stärkerer Gips von breiiger Konsistenz angemacht und auf die erste Schicht aufgetragen (wie eine Kappe).

Bevor diese bindet, wird der Faden gezogen, wodurch sich das Ganze in zwei Hälften teilt. Nach Erhärtung der Kappe wird die zweigeteilte Form gesprengt und vorsichtig vom Kopf gelöst. Das ist der schwierigste Teil der Arbeit.

Die abgenommenen Hälften werden sofort wieder zusammengepaßt und verklammert, das Negativ gereinigt und wieder mit Gips ausgegossen. Und schon haben wir das Positiv, die fertige Maske. Man rühre nicht mehr daran, denn so ist sie gut.

Sie war eine fremdartige und wilde Schönheit, eine Erscheinung, über die man zunächst staunte und die man nicht vergessen konnte. Vor allem in ihren Augen lag ein zugleich wollüstiger und unbezähmbarer Ausdruck, der mir bei keinem anderen Menschen je begegnet ist. Zigeunerauge, Wolfsauge nennt der Spanier einen Menschen, der eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe besitzt. Sollten Sie keine Zeit haben, in den zoologischen Garten zu gehen, um in die Augen eines Wolfs zu sehen, so beobachten Sie Ihre Katze, wenn diese einem Spatz auflauert.

II