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Über die Autorin

Noor van Haaften, Jahrgang 1948, ist bekannt durch ihre zahlreichen Buchveröffentlichungen und Vortragsreisen. Die Niederländerin war in der christlichen Studentenarbeit in Österreich sowie als Moderatorin und Regisseurin beim niederländischen R/TV Sender EO tätig. Sie lebt in den Niederlanden.

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Inhalt

Vorwort

1. Ein Hochzeitsmahl für Obdachlose

2. Das Wasserballett

3. Wenn das Hören schlechter wird

4. Gibt’s hier auch ’nen Vater?

5. Anruf in der Nacht

6. Einundzwanzig Diakonissen im Boxring

7. Tim

8. Die Tausendfüßlerin

9. Es wird ein Junge vermisst

10. Begegnung in England

11. Willem

12. Pyeongchang 2018

13. Die hellblauen Schuhe

14. Oma Anzhela

15. Aus der Luft gegriffen

16. Zum Leben und zur Blüte berufen

17. Nur weitermachen!

18. Holger

19. Die Studentenkonferenz

20. Mit mir kannst du rechnen …?

21. Eva

22. Das Krafttraining

23. China

24. Gott dienen

25. Mutige Senioren

26. Zum Schweigen gebracht

27. Kleines Leben im Garten

Anmerkungen

Vorwort

In diesem Buch finden Sie eine Sammlung von siebenundzwanzig kurzen Geschichten, die ich über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren gesammelt habe. Sie sind eine Mischung aus Selbsterlebtem und Wahrgenommenem, ergänzt um vier Geschichten, die früher schon veröffentlicht wurden. Einige Geschichten kamen außerdem zustande nach dem Lesen einer Nachricht in der Zeitung oder in anderen Medien.

Ich schreibe dieses Vorwort in meinem Garten, wo immer viel zu erleben ist, wenn man sich aufmerksam umschaut. Das hat mich zum Beispiel zu den Geschichten »Zum Leben und zur Blüte berufen« und »Kleines Leben im Garten« inspiriert. »Holger« beschreibt kostbare Momente mit einem guten Freund, der demenzkrank war. In »Nur weitermachen!« werden ein weltberühmter Pianist und sein Publikum total überrascht, als ein kleiner Junge direkt vor Anfang des Konzerts auf das Podium klettert und mit zwei Fingern auf dem Flügel zu spielen beginnt. Ein besonderer Auftritt jüngeren Datums ist der von »Einundzwanzig Diakonissen im Boxring«. In »China« erleben Sie unvergessliche Kindheitserinnerungen sowie intensive Stunden an der Niederländischen Westküste.

Die Geschichten in diesem Buch sind abwechselnd humorvoll und ergreifend. Sie bringen ein Lachen hervor, manchmal aber auch Tränen. Und sie machen nachdenklich.

Ich wünsche Ihnen gute Lesestunden!

Noor van Haaften, Januar 2019

1. Ein Hochzeitsmahl für Obdachlose

Vor einigen Jahren brachte der Fernsehsender KTLA in Los Angeles eine auffallende Geschichte: In Kalifornien sollte eine Hochzeit stattfinden. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, als der Bräutigam sechs Tage vor dem großen Tag ankündigte, die Beziehung mit seiner 27-jährigen Braut beenden zu wollen.

Seine Entscheidung brachte nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern in große Verlegenheit. Die Hochzeit war längst bekannt gegeben worden, das Brautkleid (und vieles mehr) war bestellt, die Gäste waren eingeladen. In einem äußerst vornehmen Hotel war ein Festessen für 120 Personen vorgesehen. Die Kosten für die Hochzeit betrugen umgerechnet etwa 25 000 €.

Einiges konnte noch abgesagt werden; das Brautkleid, das Hochzeitsessen, die Blumen und die geplante Hochzeitsreise nach Belize, einem Land am Karibischen Meer, konnte man aber nicht mehr stornieren.

Wir wissen, dass guter Rat teuer ist. In diesem Fall war er sehr teuer, denn es ging um ein kostspieliges Unternehmen, das den Betroffenen nicht nur Kummer, sondern auch viel Kopfzerbrechen bereitete. Das größte praktische Problem war wohl das feine Hochzeitsmahl im Hotel. Zu feiern gab es nichts mehr, den Gästen war abgesagt worden. Wohin nun mit dem vielen Essen?

In allem Elend kam der Moment, in dem den Brauteltern ein Licht aufging: Zum Festessen sollte man Leute einladen, für die ein so königliches Mahl in einem solchen wunderbaren Ambiente ein absoluter Traum sein würde. Es sollte ein Bankett sein für Obdachlose und andere Menschen am Rande der Gesellschaft.

Die Idee war prächtig und mag viele überrascht haben. Neu war sie aber nicht. Als Jesus auf dieser Erde lebte, erzählte er ein Gleichnis, in dem ähnliche Probleme auftraten wie in Sacramento. Auch hier ging es um eine Hochzeit, der Bräutigam war der Sohn eines Königs. Er sagte seine Hochzeit zwar nicht ab, dennoch drohte eine Katastrophe.

Als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren (eine Hochzeit konnte in jener Kultur gut eine Woche dauern!), wurden die Gäste informiert, dass das Fest nun beginnen würde. In dem Moment geschah das Unvorhergesehene: Die Gäste blieben weg, weil sie anderes zu tun hatten. Der eine war auf seinem Acker beschäftigt, ein anderer musste sich um seinen Betrieb kümmern. Kurz gesagt: Den Geladenen war alles andere wichtiger als die Feier, auf der sie erwartet wurden.

Für ihren Gastgeber war diese Gleichgültigkeit und Ablehnung selbstverständlich eine große Provokation. Dennoch warf er nicht das Handtuch, sondern traf rigorose Maßnahmen: er beauftragte seinen Knecht, sich auf den Weg zu machen und alle Leute einzuladen, die er finden konnte. Der Knecht hatte einfach dafür zu sorgen, dass der Saal voll wurde.

In Kalifornien ging man ebenfalls in die Stadt und lud Obdachlose zum Festessen ins Hotel ein. Es kamen fast hundert Personen – darunter ältere Menschen, Alleinstehende und ganze Familien. Sie nahmen Platz an fein gedeckten runden Tischen und gingen so oft, wie sie nur wollten, zum Buffet, wo sie ihre Teller bis zum Rand mit Köstlichkeiten füllten.

Es war für sie alle wie ein Traum. Und für die Familie der Braut ein Erlebnis, das sie nie vergessen werden. »In aller Not erfuhren wir Freude, aus dem Schlimmen kam Gutes«, sagte die Mutter.

Am Tag nach dem Festmahl fuhren Mutter und Tochter auf Hochzeitsreise. Die Blumen gingen an ein Pflegeheim.

Das Reich der Himmel gleicht einem König,

der für seinen Sohn das Hochzeitsfest veranstaltete.

Und er sandte seine Knechte aus,

um die Geladenen zur Hochzeit zu rufen;

aber sie wollten nicht kommen.

Matthäus 22,2–3

2. Das Wasserballett

Am Samstag habe ich zum ersten Mal einen Rohr- bruch im eigenen Haus erlebt. Als ich gegen 18 Uhr aus dem Garten in die Küche kam, hörte ich ein bedrohliches Geräusch, das mich an die Krimmler Wasserfälle in Österreich erinnerte. Nun, in Österreich war ich nicht, ein Wasserfall war aber da, und zwar drang er mit Gewalt durch die Spalten der Tür des Zählerschranks, hinter dem sich das Wasserrohr befindet. Der Flur, das WC und ein Teil des Wohnzimmers waren schon überschwemmt. In meinem geräumigen Keller stand das Wasser über zehn Zentimeter hoch.

Ich stand einen Moment fassungslos im Gang, dann rannte ich zum Schrank, öffnete die Tür und wurde gleich von Wasserfluten überschüttet. Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich zusammenriss und den Haupthahn der Wasserleitung zudrehte. Als ich das vollbracht hatte, stand mir im Spiegel im Flur eine völlig durchnässte Figur gegenüber, die ich kaum als mich selbst erkannte. Ich gratulierte uns: Wir hatten Großes vollbracht.

Nun waren weitere Schritte dran, und so rief ich zuerst einen Nachbarn an, dann die Firma, die verantwortlich ist für die Wasserversorgung, dann eine Freundin. Der Nachbar kam und sah sich die Katastrophe an. Er seufzte, sprach mir sein Beileid aus, wünschte mir alles Gute und ging heim. Die Wasserwerke versprachen, ihren Notdienst zu benachrichtigen. Die Freundin machte sich gleich auf den Weg zu mir.

Im Haus sammelte ich Scheuerlappen und Handtücher zusammen, aus der Garage holte ich Gummistiefel, Eimer und Besen. Dann machte ich mir einen starken Kaffee, was in verheerenden Situationen immer unheimlich trostreich ist. Ich brauchte tatsächlich Trost. Und Kraft, denn das Chaos war überwältigend.

Bald darauf startete ein Wasserballett. Die gefällige Freundin kam, blickte in den Keller, zog ihre Schuhe aus, ging die Treppe hinab, rutschte vor lauter Aufregung auf den letzten Stufen aus und glitschte direkt ins Wasser. Sie verbrachte den Rest des Tages in einem Nachthemd, weil keine Kleidung in ihrer Größe bei mir vorhanden war.

Warum ich selbst meine nasse Kleidung anbehielt, weiß ich bis heute nicht. Rückblickend vermute ich, dass ich vielleicht doch etwas aus der Fassung geraten war. Außerdem sah ich so, ganz durchnässt, richtig abenteuerlich aus. Als hätte ich eine Wasserschlacht überstanden oder mich mit knapper Not aus einem wilden Strom befreit. Diese Gedanken munterten mich richtig auf: Ich war eine Heldin, ich hatte mich über Wasser gehalten, ich war mit allen Wassern gewaschen.

Der Mann von der Wasserversorgung kam und installierte eine Pumpe im Keller. Es folgte eine lange Nacht, in der das Wasser hochgepumpt wurde, während ich draußen im Dunkeln verbissen gegen die Wasserfluten kämpfte, die nach außen quollen, aber fest entschlossen waren, direkt wieder ins Haus zurückzuströmen. Meine Pflanzen im Garten werden positiv überrascht gewesen sein von der üppigen Versorgung in diesen nächtlichen Stunden.

Die unglückliche Freundin, die Opfer des Aquaplaning auf der Kellertreppe gewesen war, machte bei allem tapfer mit. Sie hatte ihre schmerzenden Gelenke mit Salbe eingerieben und Schmerztabletten genommen.

Am Sonntag kamen nach dem Gottesdienst weitere Hilfstruppen angestürmt. Gemeinsam haben wir dann durchnässte Vorhänge, Schachteln voller Dinge, die ich längst hätte aufräumen sollen, Bergschuhe und alles, was sonst im Keller unter Wasser geraten war, hochgeschleppt und zum Trocknen in den Garten gestellt. Andere Sachen haben wir in der Garage in Sicherheit gebracht und das, was rettungslos verloren war, zur Entsorgung bereitgestellt. Danach hat im Haus das große Putzfest begonnen.

Wir haben miteinander tolle Stunden erlebt und viel gelacht. Verschwitzt und schmutzig haben wir einander »Friends forever!« zugesagt. Ein zwölfjähriges Mädchen hat im Garten Legoteile und sonstiges Spielzeug, das sich im Keller befunden hatte, abgetrocknet, während ihre Mutter uns mit Brot und Getränken versorgt hat. Eine junge Frau aus meiner Gemeinde, die spontan vorbeikam, weil sie Seelsorge brauchte, hat in dem ganzen Trubel geweint und ist dann erleichtert wieder nach Hause gegangen. Später am Nachmittag sind noch mehr Freunde aufgetaucht und haben Leckeres mitgebracht. Anders gesagt: Über allem Elend ist die Sonne aufgegangen.

Heute ist Montag. Es ist der Tag des Muskelkaters, der Schadensmeldung bei der Versicherung und der nötigen Reparaturen. In den Telefonkabeln hat es einen Kurzschluss gegeben, auch das Internet ist außer Betrieb. Die ersten Monteure waren schon da, ich warte auf die nächste Truppe.

Die hilfsbereitete Freundin ist unterwegs zum Physiotherapeuten. Es haben sich beeindruckende blaue Schwellungen auf ihren Armen gebildet und mit ihrer Schulter ist auch etwas nicht in Ordnung, sie kann nicht mehr aufrecht gehen. Beim Abschied hat sie aber tapfer »Friends forever!« gesagt. Wenn es ihr nach der Physiobehandlung nicht besser geht, lade ich sie ein, sich einige Tage bei mir zu Hause zu erholen. Dann werde ich eine Flasche selbst gemachten Obstsaft (oder auch Wein) aus dem trockenen Keller holen und mit ihr anstoßen.

Ein Freund ist jemand, der weiß,

dass man ihn gerade braucht.

Oscar Wilde

(irischer Lyriker, Dramatiker und Bühnenautor, 1854–1900)