Cover

Veröffentlichungen des
Arbeitsschwerpunktes Salzburger Musikgeschichte
Band 5

„Those were the days“ …

Salzburgs populäre Musikkulturen der 1950er und 1960er Jahre

Bericht einer Tagung des Arbeitsschwerpunktes Salzburger
Musikgeschichte an der Universität Mozarteum Salzburg,
13. bis 15. November 2015

herausgegeben von
Thomas Hochradner und Sarah Haslinger

redigiert von
Katharina Steinhauser

Image

Image

Image

Inhalt

Vorwort des Herausgebers und der Herausgeberin

Susanne Rolinek

Die ‚goldenen‘ Fünfzigerjahre. Nachkriegsgesellschaft und neuer Kulturkampf

Ewald Hiebl

Blicke über den Tellerrand – eine Salzburger Gesellschaftsgeschichte der 1960er Jahre

Manuel Suchanek

Let’s tune together und lass uns spielen bis die Wände wackeln! Zu den Anfängen von Rock und Pop in Salzburg – die 1950er und 1960er Jahre

Hannes Stiegler

Spielstätten des Jazz, der Tanz- und Rockmusik in Salzburg von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre

Wolfgang Pillinger

From „Yesterdays“ to „Yesterday“ – Der Wandel einer regionalen Popularmusikszene zwischen 1945 und den 1960er Jahren am Beispiel Salzburgs

Rudi Renger

Medienberichterstattung zur populären Musikkultur. Beat, Pop, Rock und Jazz zwischen 1960 und 1975 im Spiegel Salzburger Lokalzeitungen

Nadine Kallert

Walzerschritt und Rock’n’Roll: Tanzschulgeschichte der 1950er und 1960er Jahre in Salzburg

Wolfgang Dreier-Andres

„Let’s Dance“ – populäre Musik- und Tanzkultur auf dem Land am Beispiel des Lammertals der 1960er und 1970er Jahre

Gottfried Medicus

Zur Volkstanzbewegung in den 1950er und 1960er Jahren

Thomas Hochradner / Katharina Steinhauser

„Nie hätte ich mir gedacht …“. Zur Volksmusik der 1950er und 1960er Jahre in Salzburg

Sarah Haslinger

„Salzburg, du Stadt meiner Träume“. Zur Schlagerszene im Salzburg der 1950er und 1960er Jahre

Nils Grosch / Carolin Stahrenberg

Populäres Musiktheater innerhalb institutioneller Strukturen: Das Salzburger Landestheater und programmatische Kontinuitäten der Nachkriegszeit

Rainer J. Schwob

Kunst contra Unterhaltung: Der Salzburger Fernsehopernpreis 1959–1989

Trackliste der beigelegten CD

Der Arbeitsschwerpunkt Salzburger Musikgeschichte am Department für Musikwissenschaft der Universität Mozarteum

Vorwort des Herausgebers und der Herausgeberin

„Those were the days“, ein Lied, das 1968 durch Mary Hopkin popularisiert wurde – die übrigens damit einen Talente-Wettbewerb gewann –, ein Lied, das Paul McCartney als meistverkaufte nicht von den Beatles eingespielte Single für das Beatles-Label Apple Records produzierte, das weit über fünfzig Mal gecovert wurde, dessen Wurzeln aber zurückreichen bis ins vorrevolutionäre Russland, wo es den Titel „Entlang der langen Straße“ trug, ein Lied, das Nostalgie in sich birgt und doch Gegenwart wachruft – ein Lied, wie geschaffen als Motto eines Symposions, mit dem sich der Arbeitsschwerpunkt Salzburger Musikgeschichte am Department für Musikwissenschaft der Universität Mozarteum Salzburg erstmals ins 20. Jahrhundert vorwagte.

Den 1950er und 1960er Jahren – zwei Jahrzehnten, zu denen die Erinnerung bereits zu verblassen beginnt, aber noch festgehalten werden kann – war dieses Symposion gewidmet, und es sollte nicht von Festspielen, Kompositionen für den Konzertsaal und Künstlerinnen und Künstlern der sogenannt klassischen Musik die Rede sein, sondern von populären Musikkulturen, wie sie in der Nachkriegszeit einesteils aufatmeten, andernteils auflebten, von Jazz, Rock, Tanzmusik, Schlagern, der sogenannten ‚leichten Muse‘ und der Volksmusik. Sei es, dass sie von der amerikanischen Besatzungsmacht propagiert wurden oder ein Vorleben besaßen, das von den politischen Entwicklungen der Ersten Republik, des Ständestaates und der Zeit des Nationalsozialismus nicht unberührt geblieben war, sei es, dass sie als modern bis verwerflich galten oder aber als traditionell bis überkommen: Das Zusammenspiel dieser Musikkulturen sorgte jedenfalls für ein buntes Panorama kultureller Aktivität unter der damaligen Generation.

Die Referate des Symposions liegen nunmehr in schriftlicher Form vor und schließen sich in einem Tagungsband ebenso dicht zusammen wie zuvor im gedanklichen Austausch der Referentinnen und Referenten. Manches darüber war durch Publikationen bereits gut erschlossen worden – allen voran ist hier das Buch We Rocked Salzburg von Hannes Stiegler zu nennen –, hier galt es noch mehr in die Tiefe zu gehen; anderes war Terra incognita und wurde im Vorfeld des Symposions durch vier Werkverträge zur Erfassung der Jugend-, Schlager- und Volksmusikszene sowie Tanzschulgeschichte näher erkundet und nachfolgend für Referate während des Symposions aufbereitet. Im Verbund mit weiteren Vorträgen zeigte sich sodann, wie viele Kontakte zwischen den populären Musikkulturen der Nachkriegszeit bestanden haben – aus dem Nebeneinander verschiedener Strömungen, ja fast kultureller Ideologien, filterte sich ein Netzwerk der Lebensgestaltung in der Freizeit heraus.

Eröffnet wird der Sammelband von zwei überblickenden historischen Beiträgen, die sich mit den soziokulturellen und politischen Gegebenheiten des betreffenden Zeitraums beschäftigen. Während Susanne Rolinek aufzeigt, dass die Fünfzigerjahre in Salzburg im Hinblick auf die Alltags- und Festkultur gar nicht so ‚golden‘ waren wie im Nachhinein oft verklärt, widmet sich Ewald Hiebl den zahlreichen einschneidenden – großteils positiven – gesellschaftsgeschichtlichen Veränderungen der 1960er Jahre, die auch in Salzburg ihre Ausprägungen fanden.

Manuel Suchaneks Untersuchung der Salzburger Rock- und Popmusik dieser Zeit leitet einen zweiten thematischen Block ein und veranschaulicht eine lebendige, gut miteinander vernetzte Szene, deren Protagonistinnen und Protagonisten sich sowohl aus dem Profi- als auch aus dem Amateurbereich zusammensetzten. Dass diesen ungeahnte Auftrittsmöglichkeiten geboten wurden, wird deutlich in dem Beitrag von Hannes Stiegler, der einen umfassenden Überblick über die Spielstätten in Stadt und unmittelbarem Umland gibt – die bis heute nie mehr so zahlreich waren wie in den 1950er und 1960er Jahren.

Die für das Ende dieser ‚Ära‘ verantwortliche Umstellung vieler Lokale von Live- auf ‚Konservenmusik‘ ab Mitte der 1960er Jahre ist nur einer der Paradigmenwechsel, die Wolfgang Pillinger anschließend in seinem Beitrag über einschneidende Zäsuren der regionalen Popularmusikszene dokumentiert. Rudi Renger beschäftigt sich alsdann mit der Medienberichterstattung zur populären Musikkultur, analysiert Salzburger Lokalzeitungen und lässt anhand der lediglich marginal gehaltenen Notizen zu popmusikalischen Events, die in großem Gegensatz zu den zahlreichen Musikkritiken über ‚Ernste Musik‘ stehen, auf den geringeren Stellenwert der Unterhaltungsmusik im Musikjournalismus rückschließen.

Wenngleich der Tanz als Teil der Ausgehkultur der 1950er und 1960er Jahre bis dahin bereits mehrfach gestreift worden ist, widmet ihm Nadine Kallert einen eigenen Beitrag und spürt der Geschichte der Salzburger Tanzschulen nach, die trotz ihrer – etwa im Hinblick auf die nur zögerlich eingeführten Modetänze – traditionellen Ausrichtung den freiheitssuchenden Jugendlichen während der obligatorischen Tanzkurse zumindest kurzzeitig die Möglichkeit zum ‚Ausbruch‘ aus den konservativen Elternhäusern boten. Dass sich die neu aufgekommene populäre Musikszene der 1950er und 1960er Jahre nicht nur auf die Stadt Salzburg konzentrierte, sondern auch Einzug in entlegenere Gebiete des Bundeslandes fand, exemplifiziert Wolfgang Dreier-Andres anhand der regen Ausgeh- und Tanzkultur des Lammertals, deren Ausprägungen sowie Gründen für Entstehung und Verschwinden um die Mitte der 1970er Jahre er nachgeht. Einen anderen Blick auf den Tanz, jenen aus der Perspektive des Brauchtums, wirft Gottfried Medicus, der dem Volkstanz dieser beiden Jahrzehnte eine zunehmende Institutionalisierung – beginnend mit der Einführung des Fackeltanzes zur Festspieleröffnung 1952 – nachweist.

Auch abseits von Jazz, Pop und Rock zeichnet die Salzburger Popularmusikszene der beiden betreffenden Jahrzehnte ein ähnliches Bild von Aufschwung, Vernetzung und Neuanfang. Thomas Hochradner und Katharina Steinhauser befassen sich mit der Volksmusik der 1950er und 1960er Jahre – einem Genre, das von Tradition und Brauchtum ebenso wie von aufkommendem Tourismus und neuen musikalischen Einflüssen geprägt war. Im Gegensatz dazu erlebte der Schlager in diesen beiden Jahrzehnten wie im gesamten deutschsprachigen Raum auch in Salzburg seine erste Blütezeit. Sarah Haslinger dokumentiert eine Szene, die sich in Rezeption, Distribution und – in geringerem (doch beachtenswertem) Ausmaß – Produktion durchaus aktiv zeigte und mehr oder weniger bedeutende Künstlerinnen und Künstler hervorbrachte.

Abschließend widmen sich zwei Beiträge der Popularmusik der 1950er und 1960er Jahre innerhalb eines institutionalisierten Musikbetriebs und als Produkt des Mediums Fernsehen sowie deren Bedeutung zwischen Kunstanspruch und Publikumsinteresse. Während Nils Grosch und Carolin Stahrenberg sich mit der Rolle des populären Musiktheaters in der nachkriegszeitlichen Spielplangestaltung des Salzburger Landestheaters auseinandersetzen, beschreibt Rainer Schwob mit dem Salzburger Fernsehopernpreis eine fast einzigartige Einrichtung, deren Zielvorstellung sich über die Einschaltquoten schlussendlich nicht bestätigte.

Unser herzlichster Dank gilt Hannes Stiegler, aus dessen reichem Wissen wir in der Vorbereitung des Symposions stets schöpfen durften, und Wolfgang Pillinger, der uns nicht nur mit seiner Erfahrung beistand, sondern für uns auch in bewundernswerter Tatkraft im Rahmen des Symposions das erträumte Konzert „Come together“ im Jazzit zur Realität werden ließ. Die Stage Band bildeten Tom Reif (git), Klaus Kircher (b), Andy Grabner (dr) und Bruno Juen (keys), mit ihnen, teils auch solistisch, musizierten Adi Jüstel (p/keys), Heli Punzenberger (git/voc), Hannes Stiegler (voc), der über 80-jährige Ernst Strasser (reeds) und Günther Wagnleitner (p). Den Reigen dieser einmaligen nostalgischen Nacht schlossen Auftritte der Bands Dark Shadows und The Three of Us, des SATO (Salzburger Tanzorchester) und von Honzaks Jazz Labor.

Darüber hinaus belebten das Symposion „Those were the days“ auch eine nostalgische Volksmusikstunde, die von Studierenden der Universität Mozarteum Salzburg aus der Lehrveranstaltung von Andreas Eßl und dem Salzach-Dirndl-Dreigesang (drei Studierende der Musikpädagogik: Andrea Schwarz, Verena Schwarz und Christina Fischbacher) gestaltet wurde, sowie eine Podiumsdiskussion unter der Leitung von Manfred Kammerer. Darin tauschten sich Adi Jüstel, Clemens Panagl, Wolfgang Pillinger und Hannes Stiegler untereinander und auch mit dem Publikum rege aus und es wurde deutlich, wie viele Varianten des Geschehenen existieren, wenn individuelle Erinnerungen kollektiv zusammenfließen.

All diese begleitenden Veranstaltungen konnten freilich nicht schriftlich dokumentiert werden; doch gibt eine diesem Band beigefügte CD Höreindrücke von populärer Musik aus dem Salzburg der 1950er und 1960er Jahre wieder. Sie spannen einen Bogen von Volksmusik, Tanzmusik und Schlager zu Rockmusik, überraschen in ihrer Reichhaltigkeit und lassen erkennen, dass der Besuch der Beatles in Salzburg und Obertauern im März 1965 zwar ein Kulminationspunkt damaligen Kulturdiskurses, doch mitnichten eine ‚Eintagsfliege‘ war. Ein Rückblick, der sich auf ‚das‘ Ereignis der Pop-Geschichte in Salzburg konzentrierte, würde eine Vielzahl von musikalischen Aktivitäten überdecken, die über die Nachkriegsjahrzehnte hinweg vor allem die Tanzlust der Salzburgerinnen und Salzburger bedienten. Denn Tanzen zählte nicht nur zur Etikette der Gesellschaft, sondern stellte in seinen verschiedensten Ausprägungen auch eine verbreitete, wenn nicht die beliebteste Freizeitgestaltung für Jung und Alt dar, war es doch damals eine Vielen willkommene Option auf Bewegung – noch hatte die Breitensport-Bewegung nicht Fuß gefasst.

Dieses Buch möge dagegen insbesondere den ‚Lesesport‘ anregen! Sein Zustandekommen verdankt sich vielfacher Unterstützung seitens der Universität Mozarteum Salzburg, von Stadt und Land Salzburg sowie durch zahlreiche helfende private Initiativen. Eine große Zahl von Gewährsleuten stand uns mit wertvollen Auskünften zur Seite. Herzlich danken wir unserer Kollegin Julia Hinterberger für ihren Einsatz in der Vorbereitung des Symposions und unserer studentischen Mitarbeiterin Katharina Steinhauser für die redaktionelle Mitbetreuung des vorliegenden Sammelbandes, ebenso dem Team des Hollitzer Verlags für die sorgsame Betreuung auch dieser Publikation.

Thomas Hochradner und Sarah Haslinger

Susanne Rolinek

Die ‚goldenen‘ Fünfzigerjahre. Nachkriegsgesellschaft und neuer Kulturkampf

Die als ,golden‘ bezeichneten Fünfzigerjahre1 waren in Salzburg von unterschiedlichen welt-, bundes- und lokalpolitischen sowie sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst. Als ,golden‘ galten die Jahre ab Ende der 1940er bis Ende der 1950er Jahre aufgrund des Wirtschaftsaufschwunges und der besseren Lebensbedingungen in der US-Zone Österreichs – im Vergleich zur sowjetischen, aber auch zur französischen und britischen Zone – sowie aufgrund der Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft zur Konsumgesellschaft, die sich auch in den 1960er Jahren fortsetzte.2

Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen der Nachkriegszeit

Die unmittelbare Nachkriegszeit war geprägt von Entnazifizierung, Demokratisierung, politischer Neuorientierung, Fragen des täglichen Überlebens und der gesellschaftlichen Reintegration von Kriegsheimkehrern sowie neuen Rollenverteilungen von Männern und Frauen.

Der politische Konsens war brüchig, denn letztendlich hatte man sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt: das Bekenntnis zum demokratischen Wiederaufbau. Auf politischer Ebene dominierten drei Parteien: Die Österreichische Volkspartei (ÖVP), die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) und zunächst, unmittelbar nach der Befreiung, die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) als dritte Partei – diese verlor jedoch ab 1947, vor allem aber nach dem kommunistischen Oktoberstreik 1950 (österreichischer Generalstreik als Reaktion auf ein als ungerecht empfundenes Lohn-Preis-Abkommen) an Bedeutung, da eine Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher eine sowjetische Machtübernahme befürchtete und nur mehr ein kleiner Teil die KPÖ unterstützte.3 Das Jahr 1934 und der Bürgerkrieg hatten ebenfalls ihre Spuren hinterlassen, doch ÖVP und SPÖ bemühten sich um eine konstruktive Zusammenarbeit, um eine Eskalation wie zu Zeiten des ,Austrofaschismus‘ zu vermeiden, aber auch, um ein Erstarken der KPÖ zu verhindern.4 Das deutschnationale Lager begann sich ebenfalls wieder zu konstituieren, wenn auch die Möglichkeit zur legalen Gründung einer Partei erst einige Jahre später gegeben war. Im März 1949 gründeten in Salzburg die beiden Journalisten Herbert Kraus und Viktor Reimann den Verband der Unabhängigen (VdU) – auch Wahlpartei der Unabhängigen (WdU) – als Vorgängerpartei der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Salzburg galt beim VdU als Hoffnungsgebiet, da hier das deutschnationale Lager traditionell sehr stark war. Der VdU diente als Sammelbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder, Heimkehrer, ,Volksdeutsche‘ und auch für nationalliberale Kräfte.5

Die ,Entnazifizierung‘ war nach der Befreiung vorrangiges Ziel der Alliierten, nicht der Österreicher gewesen. Das Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz), in dem die Registrierung der Nationalsozialisten festgelegt war, sowie das Kriegsverbrechergesetz und das Wirtschaftssäuberungsgesetz dienten als gesetzliche Grundlagen, zudem gab es den durch die US-Truppen bestimmten automatischen Arrest für ehemalige NSDAP- Angehörige. Die Registrierung von ehemaligen Angehörigen der NSDAP und ihrer Verbände sowie NS-Organisationen erfolgte in den folgenden Monaten meist in den jeweiligen Gemeinden, wobei es zu zahlreichen Falschmeldungen kam.6 Im Zuge der Entnazifizierung war eine Rekatholisierung ehemaliger Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten zu beobachten. Bereits im Herbst 1945 hatte ein Gendarm im Land Salzburg die Wiederannäherung an die katholische Kirche bemerkt: „Am meisten wird die Kirche nunmehr von Nationalsozialisten aufgesucht; früher war Hitler ihr Herrgott, und nachdem dieser nicht mehr lebt, so suchen sie wieder beim alten Gottvater ihren Vorteil herauszufinden.“7

Im Zuge des Kalten Krieges konzentrierten sich die Interessen der US-Armee zunehmend auf die Abwehr des Kommunismus und nicht mehr auf die Entnazifizierung; österreichische Politik und Verwaltung wiederum wollten ehemalige NSDAP-Angehörige in die Gesellschaft integrieren und sie als Mitglieder oder Wählerinnen und Wähler für die Großparteien ÖVP und SPÖ gewinnen. Es kam zu einem Wettlauf um die Stimmen der ‚Ehemaligen‘, zahlreiche Politiker dienten als Entlastungszeugen für ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten.8 Nach dem Inkrafttreten des Nationalsozialistengesetzes im Februar 1947 unterschied man zwischen ,Belasteten‘ und ,Minderbelasteten‘, was unterschiedliche Sühnemaßnahmen und Einschränkungen zur Folge hatte. Ehemalige Nationalsozialisten versuchten, sich von Bekannten Unbedenklichkeitszeugnisse ausstellen zu lassen und Zeugen anzuführen, die sie entlasten konnten. Oft genügte ein ,anständiges Verhalten‘ oder eine ,österreichische Einstellung‘ – dehnbare Begriffe.9 Im April 1948 erfolgte die sogenannte ,Minderbelastetenamnestie‘ – knapp 500.000 Personen waren nun wieder wahlberechtigt.10

Den Nationalrats- und Landtagswahlen im Oktober 1949 ging ein emotionaler und heftiger Wahlkampf voraus. Die Salzburger ÖVP verlor bei der Landtagswahl die absolute Mehrheit und erreichte knapp 44 %, die SPÖ knapp 34 % und die VdU (WdU) überraschte mit knapp 19 %. Die KPÖ verfehlte den Einzug in den Landtag. Der Salzburger Landeshauptmann Josef Rehrl trat nach der Niederlage der ÖVP zurück, Josef Klaus folgte und leitete eine Phase der politischen Stabilisierung ein, auch wenn er als Angehöriger der ,Heimkehrer-Generation‘ ein anderes Bewusstsein repräsentierte als jene Politikerinnen und Politiker, die unmittelbar nach der Befreiung am politischen Wiederaufbau beteiligt waren und zum Teil KZ- oder Hafterfahrungen gemacht hatten.11 Grundlage der von Klaus forcierten politischen Stabilisierung war einerseits die Etablierung einer Konsenspolitik von ÖVP und SPÖ – die unter dem Stichwort ,Salzburger Klima‘ zusammengefasste Absicherung der Einfluss- und Machtbereiche sowie die engen (auch personellen) Verbindungen zwischen Politik, Kultur, Wirtschaft und den Interessensvertretungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber – und andererseits der wirtschaftliche Aufschwung. Die Betonung des Wiederaufbaus und des wirtschaftlichen Erfolges diente der Ablenkung von politischen und gesellschaftlichen Nachwehen der NS-Zeit. Es kann wohl als Ironie der Geschichte bezeichnet werden, dass gerade die ehemaligen ,Feinde‘ und ,Besatzer‘ mit dem in den USA konzipierten ‚Marshallplan‘ beziehungsweise European Recovery Program (ERP) ab 1948 den Wiederaufbau und Wirtschaftsaufschwung in Salzburg förderten. Dadurch entstand eine starke West-Identität gegenüber der von sowjetischen Truppen besetzten Zone im Osten. Der ,goldene Westen‘ wurde von den Bewohnerinnen und Bewohnern anderer Gebiete in Österreich beneidet.

Mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft von 1952/5312 sollte Zufriedenheit in der Bevölkerung und damit Stabilität von Gesellschaft und Demokratie gefördert werden. Dieses wurde in Salzburg umgesetzt und führte zu einem überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Erfolg im Zentralraum (Stadt Salzburg, Flachgau, Tennengau), wo kleine bis mittelgroße gewerbliche und industrielle Betriebe entstanden und es zu einer Angleichung der städtischen und ländlichen Milieus beziehungsweise einer Durchmischung dieser kam. In den alpinen Regionen erfolgte die Modernisierung nur punktuell durch den zunehmenden Tourismus und durch Großprojekte wie den Bau des Tauernkraftwerkes Kaprun (siehe unten). Ende der 1950er Jahre setzte die Entwicklung zur Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft voll ein, der Abzug der US-Truppen hatte den wirtschaftlichen Aufschwung nicht geschmälert, wenn auch kurzzeitig eine leichte Erhöhung der Arbeitslosenzahl festzustellen war.13

Trotz des wirtschaftlichen Aufschwunges herrschte in den 1950er Jahren in Salzburg große Wohnungsnot. Kein anderes österreichisches Bundesland erfuhr durch die NS-Zeit und die Nachkriegsereignisse so grundlegende Veränderungen der Bevölkerungszahlen. Salzburg hatte zwischen 1934 und 1951 mit mehr als 33 % den höchsten Zuwachs an neuen Einwohnerinnen und Einwohnern in Österreich.14 Das hatte Einfluss auf die soziologische Zusammensetzung der Gesellschaft sowie auf die wirtschaftliche Entwicklung. Rund 100.000 Verschleppte und Flüchtlinge befanden sich nach dem Ende der NS-Diktatur im Land Salzburg. Einerseits stand die Rückführung dieser Menschen im Vordergrund, andererseits die Eingliederung jener, die nicht zurück konnten oder wollten. Es waren vor allem sogenannte ,Volksdeutsche‘, die in Salzburg blieben und sich hier ein neues Leben aufbauten.15

Beispiele für einen neuen Kulturkampf

Ungeachtet der Stabilisierung der Demokratie, der Konsenspolitik und des wirtschaftlichen Aufschwunges fand ein neuer Kulturkampf statt, der seine Wurzeln in der Zwischenkriegszeit, dem Nationalsozialismus, dem Kalten Krieg und der US-Verwaltung hatte. Anhand einiger Beispiele zum neuen Kulturkampf sollen – mit dem Fokus auf Salzburg – verschiedene Themenbereiche in diesem Beitrag dargestellt werden.

Beispiel 1: Die ,Glasenbacher‘ und die Frage der Entnazifizierung

Die sogenannten ,Glasenbacher‘ (im Salzburger Camp Marcus W. Orr internierte ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten) wurden über Salzburg hinaus bestimmendes Element in der Nachkriegsgesellschaft und trugen oftmals das NS-Gedankengut weiter – sei es in öffentlichen Ämtern, in der Bildungs- und Medienlandschaft oder in der Politik. Als Beispiele sind hier unter anderem der ehemalige NS-Unterstaatssekretär und SS-Obergruppenführer Anton Reinthaller, der zwei Jahre in Glasenbach inhaftiert war und 1956 die FPÖ als Nachfolgeorganisation der VdU gründete, oder Anton Wintersteiger, ehemaliger illegaler Salzburger Gauleiter von 1936 bis 1938 und danach hochrangiger NS-Funktionär, der nach 1945 als Glasenbacher durch die Intervention von Landeshauptmann Josef Rehrl mit einer milden Haftstrafe davonkam und schließlich eine Führungsposition in der Salzburger AG für Elektrizitätswirtschaft (SAFE) übernahm, zu nennen.16 Ebenso zu nennen ist Walter Leitner, der bereits vor 1938 illegaler NS-Jungvolkführer und ab 1938 laut eigener Aussage „führender hochrangiger HJ-Führer“17 gewesen war und schließlich 1946 im Camp Marcus W. Orr landete. 1951 wurde Leitner amnestiert, ab 1954 fungierte er als Landesrat in der Salzburger Landesregierung, zudem arbeitete er bei der Dienststelle für Heimatpflege mit.18

Image

Abb. 1: „In Deinem Lager ist Österreich!“, verfasst von Hans-Hadmar Meyer. Glasenbacher Kalender, der eine chronologische Aufzählung relevanter Ereignisse des Internierten und selbst verfasste Karikaturen beinhaltet, die deutlich vom NS-Gedankengut beeinflusst wurden; Universitätsbibliothek Salzburg

Wie war es zu dieser verschobenen Realitätswahrnehmung und der erfolgreichen Rehabilitierung gekommen? Es lag an der Perspektive, ob jemand Österreich beziehungsweise Salzburg als befreit, besiegt oder besetzt sah.19 Viele waren einfach nur froh, dass der Krieg zu Ende war; für Inhaftierte, Verfolgte und Regimegegnerinnen und -gegner stand die Freude über die Befreiung im Vordergrund. Für andere dominierte die persönliche Enttäuschung über den Zerfall ,ihrer‘ nationalsozialistischen Welt – immerhin galten rund 20 % der Erwachsenen in Salzburg als Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten. Auch Soldaten und HJ-ler erlebten den Einmarsch der alliierten Truppen meist als persönliche Niederlage.20

Das an der Alpenstraße in der Stadt Salzburg gelegene Camp Marcus W. Orr beziehungsweise ,Glasenbach‘ war das größte österreichische Internierungslager für Nationalsozialistinnen (im Camp gab es eine eigene Abteilung für NS-Frauenfunktionärinnen wie zum Beispiel BDM-Führerinnen) und Nationalsozialisten (NS-Verbrecher wie KZ-Kommandanten oder KZ-Wachpersonal, Wehrmachtsangehörige mit höherer Funktion und NS-Funktionäre wie Ortsgruppenleiter, Schulleiter und Richter). Glasenbach wurde ab September 1945 als Internierungslager von der US-Armee geführt, vorher war es eine Wehrmachtsentlassungsstelle, in der kurzfristig ehemalige Soldaten auf ihre NS-Vergangenheit überprüft wurden und innerhalb weniger Tage ihre Entlassungspapiere erhielten.21

Die zum Teil durchaus großzügige Behandlung der Nationalsozialisten durch die US-Armee und die partielle Selbstverwaltung der Inhaftierten führten allerdings auch nach der Übernahme des Lagers durch die Alliierten eher zur Verfestigung alter Hierarchien und Ideologien als zu einem grundsätzlichen Umdenken.22 Die Leiter der einzelnen Abteilungen beziehungsweise ‚Compounds‘, wie sie von der US-Armee genannt wurden, waren oft ehemalige bedeutende NS-Funktionäre oder ehemalige hochrangige SS- oder SA-Führer, die von den Behörden als ,unbelehrbar‘ eingestuft wurden, jedoch als Abteilungsleiter die Kontrolle über die anderen Internierten hatten.23 Bereits zu Jahresende 1945/46 brachten Internierte ihre Überzeugung zum Ausdruck, als sie bei einer der zahlreichen Kulturveranstaltungen das Lied „Wenn alle untreu werden“ sangen und den Arm zum Hitlergruß hoben. Der ,Führergeburtstag‘ am 20. April wurde ebenfalls feierlich begangen.24 Bei einer Weihnachtsfeier sangen Internierte das „Horst-Wessel-Lied“ und „Deutschland, Deutschland, über alles“.25 Zaghafte Umerziehungsversuche der US-Armee führten meist zu einem negativen Echo, wie die Vorführung des Films Die Todesmühlen über die nationalsozialistischen Konzentrationslager, der von Internierten als „Lügenprodukt“ und „Propaganda“ bezeichnet wurde.26 Im Lager Glasenbach entstand eine verschworene Gemeinschaft ehemaliger Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten, die sich als Opfer sahen, ihre Überzeugung nicht verleugneten und auch nicht davor zurückschreckten, ihnen missliebige ,Abtrünnige‘ im Lager zu foltern und sogar zu ermorden.27 Die Internierten hatten eine eingeschränkte Realitätswahrnehmung und sahen sich als zu Unrecht Verfolgte – manche betrachteten sich sogar als KZ-Internierte.28

Prominente Helfer in Salzburg wie Erzbischof Andreas Rohracher, die Journalisten Herbert Kraus, Gustav Canaval und Viktor Reimann sowie Landeshauptmann Josef Rehrl und andere traten offen gegen die Entnazifizierung und Inhaftierung von Kriegsverbrechern auf, die Salzburger Nachrichten und die Berichte und Informationen unterstützten die Entnazifizierungsgegner publizistisch.29 Das von Erzbischof Andreas Rohracher in Salzburg gegründete Soziale Friedenswerk unterstützte offen ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten, auch NS-Verbrecher.30 Rohracher hielt sich mit seiner Meinung nicht zurück, er trat für die volle Vergebung ein. Man müsse den ehemaligen Nationalsozialisten Gerechtigkeit widerfahren lassen, meinte er. Der Erzbischof erteilte ihnen eine Absolution und entfernte sich damit auch von der katholischen Moraltheologie, die für die Sündenvergebung Schuldeinsicht und Bereitschaft zur Sühne einforderte. Damit war das Soziale Friedenswerk auch innerkirchlich sehr umstritten.31 In einer vor Geschichtslügen strotzenden Eingabe des Sozialen Friedenswerkes an den Ministerrat der Republik Österreich im Dezember 1952 forderte Rohracher die Einstellung der Kriegsverbrecherprozesse. Die Eingabe wurde von der Österreichischen Bundesregierung mit deutlichen Worten zurückgewiesen; Bundespräsident Körner reagierte in einem Schreiben an Bundeskanzler Figl empört über die in der Eingabe enthaltenen Geschichtslügen.32 Auf die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens gegen Rohracher im Sinne einer Wiederbetätigung wurde nur aufgrund der öffentlichen Stellung des Interpellanten verzichtet. Zu dieser Zeit war das Camp Marcus W. Orr bereits geschlossen. Nach Aufständen im Camp und Fluchtversuchen hatte die US-Armee im August 1947 Glasenbach an die österreichische Regierung übergeben und großteils aufgelassen. Bis Jänner 1948 war noch die War Crimes Enclosure vorhanden gewesen, danach verließen auch die letzten Häftlinge das Lager im Süden Salzburgs.33

Die ‚Glasenbacher‘ konnten weiterhin mit großer Unterstützung der Bevölkerung rechnen. In einer 1948 von der US-Armee durchgeführten Meinungsumfrage wurde ein „erheblich autoritär-faschistisches Potential“34 in Salzburg festgestellt. So stimmten in Salzburg bei der Antwort auf die Frage „Wenn Sie nur zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus entscheiden müßten, was würden Sie wählen?“ 43,2 % der Befragten für den Nationalsozialismus – in Wien waren es 35,6 % und in Linz nur 29,4 %. Noch 1956 sahen 63 % der Salzburgerinnen und Salzburger ihre Identität als deutsch, während es in Wien nur 24 % waren.35

Beispiel 2: Salzburger Protest gegen einen Film des Regisseurs Veit Harlan

In der Nachkriegsgesellschaft prallten unterschiedliche Formen der Erinnerung aufeinander, die auf der jeweiligen Definition von Täter oder Opfer basierten. Österreich berief sich auf die Opferthese, wonach das Land im Sinne der Moskauer Deklaration von 1943 erstes Opfer der Aggression Hitlers gewesen sei. Demnach konnten sich auch jene, die in der deutschen Wehrmacht gekämpft hatten oder – aus formalen Gründen, wie viele argumentierten – der NSDAP beigetreten waren, als Opfer fühlen. Diese Haltung führte zu einem fehlenden Bewusstsein gegenüber den wirklichen Opfern, die verfolgt, inhaftiert, gefoltert und ermordet worden waren.36

Der im politischen Alltag dominante Opfermythos zeigte sich auch im öffentlichen Leben der Dörfer. Krieger- beziehungsweise Veteranenvereine besaßen ein Monopol für das öffentliche Gedenken an Nationalsozialismus und Krieg. Es wurde nur jener gedacht, die ,für die Heimat‘ gekämpft hatten. Mit keinem Wort wurde mehr erwähnt, dass ,die Heimat‘ zwischen 1938 und 1945 ein Teil Großdeutschlands gewesen war, es Österreich nicht gegeben hatte und die deutsche Wehrmacht als Teil der NS-Diktatur einen rassistischen und verbrecherischen Krieg geführt hatte. Meist wurden zu den Kriegerdenkmälern für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs nur die Jahreszahlen 1939–45 hinzugefügt. Im Dorfalltag gab es kein oder kaum Gedenken an Verfolgte, an Menschen im Widerstand oder an zivile Opfer, die durch NS-Gewaltherrschaft und Krieg gestorben waren. Widerstandskämpferinnen und -kämpfer sowie Deserteure wurden hingegen als „Vaterlandsverräter“ und „Lumpen“ beschimpft.37

Opfer mussten um ihre Ansprüche kämpfen. Das sogenannte ‚Opferfürsorgegesetz‘, das im Juli 1945 beschlossen worden war, bezog zunächst nur österreichische Widerstandskämpferinnen und -kämpfer mit ein, aber nicht wegen ihrer Abstammung Verfolgte oder während der NS-Zeit Vertriebene. Erst zwei Jahre später konnten auch Juden, Sinti und Roma einen Antrag auf Opferfürsorge stellen, sie mussten allerdings die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und mindestens sechs Monate Konzentrationslager oder ein Jahr Gefängnishaft nachweisen können. Überlebende konnten nach der Befreiung oft nicht die für die Zuerkennung einer Entschädigung notwendigen Beweise vorlegen beziehungsweise wurden diese nicht anerkannt. Mit den in Österreich verabschiedeten ‚Nichtigkeitsgesetzen‘ wurden zudem alle Vermögensentziehungen bei verfolgten Personengruppen während der NS-Zeit für ungültig erklärt. In sieben Rückstellungsgesetzen, die für die Opfer jedoch undurchschaubar blieben, waren die Ansprüche festgelegt. Anträge auf Rückstellung des ehemaligen Eigentums wurden zum Teil zurückgewiesen, da die „Entziehung unter Zwang, Drohung oder Täuschung“ nicht glaubhaft belegt werden konnte.38

In diesem Zusammenhang sind auch die Proteste von NS-Opfern gegen die Aufführung eines Films des Regisseurs Veit Harlan im April 1951 in Salzburg zu sehen. Harlan war unter anderem Regisseur des antisemitischen NS-Propagandafilms Jud Süß und Vertrauter von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels gewesen. Goebbels hatte im September 1940 in sein Tagebuch notiert: „Harlan Film ‚Jud-Süß‘. Ein ganz großer, genialer Wurf. Ein antisemitischer Film, wie wir ihn uns nur wünschen können. Ich freue mich darüber.“39 Der Film wurde unter anderem in Schulen und auch an der Ostfront gezeigt, um die Deportation der jüdischen Bevölkerung zu rechtfertigen beziehungsweise zu forcieren. Nach dem Ende des NS-Regimes unterzog sich Harlan einem Entnazifizierungsverfahren, das in einem Freispruch endete, da ihm in einem Schwurgerichtsverfahren keine persönliche Mitschuld an der Deportation und Ermordung von Juden nachgewiesen werden konnte. Veit Harlan konnte nun wieder als Regisseur tätig sein, was zu Empörung bei Opferverbänden führte.40

Bereits vor den Protesten in Salzburg war es zu zahlreichen Demonstrationen in deutschen Städten gekommen, bei denen Demonstrantinnen und Demonstranten durch die Polizei verletzt worden waren.41 Die Protestwelle gegen Veit Harlan richtete sich gegen die öffentliche Ausblendung beziehungsweise Verleugnung von dessen NS-Vergangenheit und wurde meist von studentischen Bewegungen, KZ-Verbänden und jüdischen Organisationen getragen.42 Die Polizei sowie Gegendemonstrantinnen und -demonstranten in Salzburg prügelten die Demonstrierenden, die sich vor dem Elmo Kino versammelt hatten, blutig – unter den Angegriffenen waren auch KZ-Überlebende wie Simon Wiesenthal. Manche beschimpften die Demonstrierenden als „jüdische Schweine“.43 Der Kinobesitzer befand sich in einer unangenehmen Lage, war er doch während der NS-Zeit selbst verfolgt worden, musste aber nun aufgrund des sogenannten ‚Blockbuchungssystems‘ der Verleihfirmen den Film spielen – obwohl er dagegen protestiert hatte. Internationale mediale Reaktionen auf die Krawalle in Salzburg folgten. US-Hochkommissar Walter Donnelly wünschte von der österreichischen Regierung die Absetzung des Films. Auch Bundeskanzler, Ministerrat und Nationalrat mussten sich in der Folge mit dem Salzburger Kinoskandal befassen.44

Beispiel 3: Volkskultur und Heimatidylle versus ‚American Way of Life‘

Ungeachtet der zunehmenden Entagrarisierung der Gesellschaft in den 1950er Jahren dominierten bäuerlich-dörfliche Fest- und Alltagskulturen sowie Traditionen und entsprachen dem Wunsch nach einer politik- und konfliktfreien Idylle. Das große Salzburger Landesfest im Jahr 1953 mit rund 50.000 Zuseherinnen und Zusehern sowie circa 4500 Mitwirkenden setzte voll auf die Salzburger Volkskultur und eine „grandiose Heerschau“ aller Salzburger Dörfer und Märkte.45 Es war ein Versuch, die Salzburger Landesidentität zu stärken, da ein Österreichbewusstsein noch nicht voll ausgeprägt war.46 Die Bemühungen um Brauchtum und Volkskultur sowie deren touristische Vermarktung verstärkten sich. In den 1950er Jahren galt die Devise: zurück zum Ländlichen, um vom Politischen abzulenken. Der Brauchtumsverein Jung-Salzburg führte zum Beispiel im Juli 1950 Volkstanzabende im Festungsrestaurant in der Veranstaltungsreihe Lied, Tanz und Musik der Heimat als neue Fremdenverkehrsattraktion ein.47 Der Trachtenverein Alpinia startete Tourneen in Europa, um für die Salzburger Volkskultur zu werben.48 Das vermarktete Brauchtum stand im Gegensatz zur Tätigkeit jener Vereine, die sich nicht auf der Bühne präsentierten und mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen hatten. Die während der NS-Zeit als ‚artgemäß‘ angesehene und politisch instrumentalisierte Volkskultur der ‚Volksgemeinschaft‘, die bereits im Austrofaschismus, noch ohne ‚volksdeutsche‘ Vorzeichen, propagiert worden war – wobei der Begriff in Salzburg schon früh deutschnational geprägt war – wurde nach der NS-Diktatur nun als rein österreichische Aufgabe fortgesetzt. Brauchtumsgruppen und Volkskultur konnten auf die Unterstützung aller politischen Parteien sowie der katholischen Kirche zählen.49

Eines der wichtigsten Merkmale der Volkskultur, das Widerständige gegen die Obrigkeit, wurde bekämpft und gleichzeitig die Volkskultur nicht mehr als Massenkultur beziehungsweise populäre Kultur wahrgenommen.50 Es kam zu einem Streit um die Vorherrschaft in der Volkskultur – dieser Bereich wurde reduziert und auf traditionelle bäuerliche Feierlichkeiten beschränkt gesehen, ohne größere Weiterentwicklung und Veränderung zu ermöglichen; nur der Fackeltanz zur Festspieleröffnung wurde von der institutionalisierten Pflege neu eingeführt. Zwei ‚Heimatwerke‘ konkurrierten nach 1945: jenes des Landes (1949 in Dienststelle für Heimatpflege umbenannt), das offiziell unter der Leitung des SPÖ-Landeshauptmannstellvertreters und Landeskulturreferenten Franz Peyerl stand – wobei hier ehemalige NS-Funktionäre wie Kuno Brandauer und Walter Leitner kräftig mitmischten – sowie die Genossenschaft Heimatwerk, bei der Tobi Reiser sen. die Fäden zog.51 Der für Volkslied und Volksmusik unglaublich aktive und innovative Reiser war bereits vor dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 aktiver Nationalsozialist gewesen, während der NS-Zeit als ‚Volkstumspfleger‘ tätig und hatte unter anderem vom „volksfremden jüdischen Ballast“ gesprochen.52 Seine Schulungsarbeit in der Landesbauernschaft nutzte er auch zur Sammlung von Volksliedern und Instrumentalmusik. Er rief 1946 das Salzburger Adventsingen ins Leben, das in den 1950er Jahren immer populärer wurde, und deutete dabei das Heimatbrauchtum im Sinn der Nachkriegszeit: „Nur mit unserem Volkslied und der Volksmusik können wir am ehesten die Wunden heilen, die dieser Krieg angerichtet hat.“53 Die Volkskultur verweigerte lange Zeit eine kritische Aufarbeitung der eigenen Traditionen und gab sich unpolitisch, wenn auch ehemalige HJ-Führer, NS-Ideologen und NS-Brauchtumspflegerinnen und -pfleger nach 1945 wieder Funktionen übernahmen und außerdem Themen aus dem Umfeld des in Salzburg beheimateten „SS-Ahnenerbes“ mit dessen „Lehr- und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde“ unter der Leitung des SS-Mitglieds Richard Wolfram nachwirkten.54

Die Heimat wurde auch filmisch vermarktet. Zahlreiche Filme wie Das Jahr des Herrn nach der Vorlage von Karl Heinrich Waggerl (1939 Landesobmann der Reichsschrifttumskammer Salzburg)55 sollten Salzburger Volkskultur und Brauchtum populär machen. Andere Streifen wie Saison in Salzburg oder Salzburger Geschichten (nach der Vorlage von Erich Kästner) wurden ebenfalls in den 1950er Jahren in Salzburg gedreht und touristisch vermarktet.56 Der Höhepunkt dieser Bestrebungen in den 1950er Jahren war nachträglich betrachtet wohl die Verfilmung der Geschichte der Familie Trapp mit dem Titel Die Trapp-Familie (1956) und als Fortsetzung Die Trapp-Familie in Amerika (1958). Die beiden von einer Münchner Filmfirma und vom ehemaligen NS-Regisseur Wolfgang Liebeneiner produzierten Filme erregten nach ihrer Premiere auch in Hollywood Aufmerksamkeit, und dieser Erfolg führte zur Komposition des Musicals und 1965 schließlich zur Produktion des internationalen Filmhits Sound of Music, der bis heute Millionen Touristinnen und Touristen nach Salzburg führt.57

Gleichzeitig mit der filmischen und touristischen Vermarktung von ‚Heimat‘ und Landschaft als Ware nahm die Landflucht zu; abgelegene alpine Regionen blieben weiterhin vom Ausbau der Infrastruktur und der Modernisierung abgeschnitten und stark im traditionellen Alltag verhaftet, was gerade von der jungen Bevölkerung negativ gesehen wurde. Daher war die Tourismuswirtschaft in den 1950er Jahren ein wesentlicher Modernisierungsfaktor, vor allem für Frauen.

Doch nicht nur der Tourismus wirkte als Modernisierungsfaktor – auch die US-Armee brachte einen außergewöhnlichen Kultur- und Modernisierungsschub nach Salzburg. Der ‚American way of life‘ wurde vor allem von Jugendlichen angenommen – auch als Protest gegen die Elterngeneration, die durch den Nationalsozialismus und die Auflösung der Gesellschaftsstruktur irritiert und traumatisiert war. Politik und katholische Kirche befürchteten deshalb einen Sittenverfall. Die sogenannte „Schmutz-und-Schund-Kampagne“ (Mai 1950, Bundesgesetz über die Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen und den Schutz der Jugend gegen sittliche Gefährdung) richtete sich nicht nur gegen Sexhefte, sondern auch gegen Wild-West-Geschichten, Comics, Krimis oder moderne Kunst und Musik, die als pornografisch, jugendgefährdend, zersetzend und unnatürlich gesehen wurden.58 Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen begeisterten sich jedoch zunehmend für die fremde, aber faszinierende Kultur und Lebensweise: Coca-Cola, Jeans, Kaugummi, Comics, amerikanische Musik und unkonventionelle künstlerische Ausdrucksformen galten als Symbol für Freiheit und Unbeschwertheit. Der legere Lebensstil hatte nach den Erfahrungen des Ständestaates und der NS-Diktatur für die jungen Leute etwas sehr Anziehendes.59

Auch der von der US-Armee kontrollierte Sender Rot-Weiß-Rot trug zur Amerikanisierung der Salzburger Bevölkerung bei; erster Leiter und Programmdirektor war US-Major Hans Cohrssen. Die sogenannte ‚Information Services Branch‘ (ISB) kontrollierte Presse, Film, Radio, Theater und Musik, förderte aber auch eine ‚Re-Education‘ (Umerziehung) und Austauschprogramme sowie Jugendangebote. Die ISB war zunächst dem War Department unterstellt, ab 1950 dem US-Außenministerium. Sie schuf zudem Freizeit- und Bildungseinrichtungen und eröffnete sogenannte ‚Amerikahäuser‘, in denen amerikanische Kultur und Bildung vermittelt werden sollten sowie Informationen eingeholt werden konnten. Solche Amerikahäuser entstanden unter anderem in der Stadt Salzburg, in Hallein oder in Zell am See. Die Salzburger Bevölkerung konnte dort die Bibliothek benutzen, Kinofilme sehen, Konzerte und Theaterstücke besuchen oder Englischkurse absolvieren.60

Im Zuge der Amerikanisierung wurde ein weiterer Kulturkonflikt sichtbar: der sexuelle Neid und der Konsumgüterneid der einheimischen Männer auf Frauen, die Beziehungen mit US-Soldaten eingingen. Die Verbindungen der Frauen zu US-Soldaten reichten von ernsthaften Beziehungen mit anschließender Eheschließung über Affären bis hin zu Prostitution. Diese Frauen hatten Zugang zu Konsumgütern, die anderen verwehrt blieben. Rund zehn Prozent der in Salzburg zwischen 1945 und 1955 vollzogenen Eheschließungen fanden zwischen US-Soldaten und einheimischen Frauen statt.61 Knapp 1900 Kinder von US-Soldaten und einheimischen Frauen registrierten die Salzburger Behörden bis Mitte der 1950er Jahre, viele wurden unehelich geboren. Die Frauen hatten von ihren Familien und den Kindesvätern nur wenig Hilfe zu erwarten, viele Kinder landeten in Pflegeheimen oder -familien.62

Der Mentalitäts- und Wertewandel war dennoch nicht mehr aufzuhalten, lehnten sich doch viele Frauen gegen die jahrzehntelange Unterdrückung im Dorf- und Familienalltag sowie gegen die aus der katholischen Tradition und aus der NS-Zeit stammenden Normen auf. Sie wollten nicht mehr opferbereit, duldsam, arbeitsam, gehorsam und pflichtgetreu sein – schließlich hatten viele Frauen durch das kriegsbedingte Fehlen der Männer neue Aufgaben und oftmals die alleinige Verantwortung für die Familie und die berufliche sowie finanzielle Existenzsicherung übernehmen müssen. Rund 10.000 Männer aus Salzburg waren als Soldaten gestorben, Tausende kehrten physisch und psychisch beeinträchtigt zurück. Ein Großteil der zurückgekehrten Männer weigerte sich, die neue Rollenverteilung anzuerkennen beziehungsweise die Frauen bei der Hausarbeit und der Betreuung der Kinder zu unterstützen. Die Männer fühlten sich nun sowohl den US-Soldaten als auch den Frauen gegenüber unterlegen.63 Als Strafe für ihr Auflehnen gegen die traditionellen Normen wurden viele Frauen öffentlich an den Pranger gestellt oder wurde ihnen körperliche Gewalt angetan, zum Beispiel durch das Abschneiden der Haare oder durch Prügel. Die US-Soldaten waren ebenfalls im Visier einheimischer Burschen und junger Männer, Schlägereien waren an der Tagesordnung.64

Beispiel 4: Mythos Kaprun und Österreichidentität

Der aus US- beziehungsweise ERP-Mitteln finanzierte wirtschaftliche Aufschwung diente in der österreichischen Propaganda als Ablenkung von der NS-Vergangenheit und der Entnazifizierung sowie zur Stärkung der Österreichidentität, denn trotz der Stabilisierung der Demokratie und des wirtschaftlichen Aufschwunges war das Verhältnis der Salzburgerinnen und Salzburger zum Gesamtstaat Österreich zwiespältig. Es war von Misstrauen gegenüber Wien, den sowjetischen Truppen und der Bundespolitik geprägt, auch wenn die große Koalition auf Bundesebene von 1947 bis 1966 und die Sozialpartnerschaft eine österreichweite Stabilisierung der Verhältnisse herbeiführten. Das Salzburger Landesbewusstsein war stärker ausgeprägt als das Österreichbewusstsein.65

Die Fertigstellung des Kraftwerkes Kaprun galt nicht nur als Vorzeigeprojekt des wiedererstandenen Österreich, sondern diente im Kontext des Versuchs einer neuen Identitätsstiftung der ‚Vergemeinschaftung‘.66 Zudem wurde Kaprun zu einem eigenen Mythos, der über Salzburg und Österreich hinaus relevant war sowie als Werbung im Ausland eingesetzt werden konnte. Mit dem Bau des Kraftwerkes Kaprun war bereits 1938 begonnen worden67, es wurde ein Prestigeprojekt der Nationalsozialisten, bei dem Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zum Einsatz kamen. 1946 übergab die US-Militärregierung die Tauernkraftwerke in treuhändische österreichische Verwaltung, 1947 übernahm die neu gegründete ‚Tauernkraftwerke AG‘ (TKW) das Kraftwerksprojekt. Die US-Armee stellte großzügig ERP-Mittel zur Verfügung. Ehemalige Zwangsarbeiter, heimgekehrte Soldaten, als ‚belastet‘ eingestufte Nationalsozialisten, Kriminelle und auch jüdische Überlebende arbeiteten bis 1955 an der Fertigstellung des Kraftwerkes. Ein Gendarmeriebericht aus dem Jahr 1948 hielt fest, dass rund 80 % der Beschäftigten in Kaprun ehemalige Nationalsozialisten waren.68 Diese konnten sich nun durch ihre aktive Mithilfe beim Wiederaufbau rehabilitieren, ihre belastete Vergangenheit ‚abarbeiten‘ und zum Mythos ‚Kaprun‘ beitragen. Kaprun-Romane wie Die Männer von Kaprun oder Hoch über Kaprun und Kaprun-Filme wie Das Lied von Kaprun oder Weißes Gold blendeten NS-Zwangsarbeit aus und idealisierten den Kraftwerksbau als Krieg gegen die Natur, als Nebeneinander von Tradition und Fortschritt sowie die am Bau tätigen Männer (und einige wenige Frauen) als hart arbeitende Pioniere.69 Die Betonung des gemeinsamen Arbeitskampfes aller Beteiligten entsprach jedoch kaum der Realität – wenn auch nach außen hin politische oder soziale Gegensätze beschönigt wurden, denn alle sollten ‚Kameraden‘ sein, im Nachklang einer nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘.70 Wie der Radio- und Fernsehmoderator Sepp Forcher beschrieb, gab es dennoch eine streng hierarchische Arbeitsteilung, zudem fühlten sich die meisten Arbeiter nicht als Kämpfer oder Krieger gegen die Natur, sondern hofften vor allem, mit der harten Arbeit gutes Geld zu verdienen.71 1949 waren knapp 4000 Arbeiter in Kaprun beschäftigt, dazu kamen auch einige wenige Frauen in der Verwaltung und Planung.72 1951 bezeichnete der zuständige Minister Karl Waldbrunner Kaprun sogar als „Nationalheiligtum Österreichs“, was zu einer Entrüstung bei der römisch-katholischen Kirche in Österreich führte.73

Die Fertigstellung des Kraftwerkes Kaprun im Jahr 1955 fiel mit dem österreichischen Staatsvertrag und der damit verbundenen vollen staatlichen Souveränität sowie dem Abzug der US-Truppen zusammen. Kaprun wurde als Symbol des Wiederaufbaus und des Arbeitswillens im neu erstandenen Österreich schlechthin gefeiert und prägt das Österreichbewusstsein bis heute.74

Beispiel 5: Der Skandal um Bertolt Brecht und Gottfried von Einem

JedermannSalzburger Nachrichten7576