Rosemarie Marschner

Das Bücherzimmer

 

Roman

 

 

Ungekürzte Ausgabe
© 2004 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978-3-423-40174-6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21099-7

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Inhaltsübersicht

Die alte Dame

Ein Mädchen vom Lande

Der Abschied

Eine wohlhabende Familie

Bilder einer fremden Stadt

Das Bücherzimmer

Die Dinnerparty

Heimkehr

Unruhige Jahre

Zu vermieten

Vier Tage im Februar

Platzkonzert

Amalie

Ferdinand und Miranda

Der Griff nach dem Glück

St. Peter

Die Bank im Park

Dezember

Das falsche Leben

Das Riesenspielzeug

Die Flutwelle

Der Anschluss

Die Reise nach Shanghai

Brot und Eisen

Die Botschaft des Fortschritts

In des Vaters Hand

Marie Zweisam

Die alte Dame

Die alte Dame

Der junge Mann parkte sein Auto vor der pompösen Außentreppe der Villa und sprang hastig die Stufen zum Eingang empor. Dann besann er sich und verlangsamte seine Schritte. Es bestand kein Grund mehr, sich zu beeilen. Er wandte sich um und blickte hinunter auf den gepflegten, weitläufigen Park. Mächtige Bäume und Rhododendrengehölze, Kieswege und Blumenrabatten umgaben das Anwesen. Über den Rasen vor der Fensterfront flanierte ein fetter Fasan, als wäre dies alles sein ureigener Besitz.

Das Gebäude stammte aus der Jahrhundertwende, der vorvorigen, als neureiche Bürger anfingen, sich dem Adel gleich zu fühlen. In jüngerer Zeit hatte man das Haus aufwendig renoviert und es damit in die Gegenwart geholt. Bis auf ein paar erlesene Ausnahmen waren die vergilbten Tapeten, das knarrende Parkett und die alten Möbel durch weißgekalkte Wände, glänzende Granitböden und kühles Designermobiliar ersetzt worden. Wenn man nun die Freitreppe hinaufstieg wie eben jener junge Besucher, hallten die Schritte auf den glatten Steinstufen wie in einer Kirche, und das Sonnenlicht brach ungefiltert durch die hohen Fenster wie ein schimmernder Wasserfall. Alles makellos, geradlinig und klar. Wie geschaffen, dachte der junge Mann, wie geschaffen für die alte Dame mit den beherrschten Gesichtszügen, ihrer eleganten, ungebeugten Gestalt und dem energischen Tonfall, mit dem sie sich bis vor kurzem, trotz ihrer Jahre, in jeder Umgebung Gehör verschafft hatte.

Bis vor kurzem. Ein Gefühl von Unbehagen beschlich den jungen Mann, während er nun einen Schlüsselbund aus der Rocktasche zog. Ihren Schlüsselbund, den er so oft in ihrer Hand gesehen hatte. Es gehört sich nicht, dachte er, daß jetzt er ihn umklammert hielt, als hätte er ein Recht darauf, und daß nun er die Tür aufschloß, durch die er noch nie ungeladen getreten war. Bis vor kurzem.

 

Er war ihr Enkel, und er kam, weil sie ihn zu ihrem Erben bestimmt hatte.

»Wollen Sie sie noch einmal sehen?« hatte ihn der Polizeibeamte gefragt, der ihn telefonisch benachrichtigt und in sein Büro bestellt hatte. Der Enkel – Thomas – hatte abgelehnt. Aus irgendeinem Grund war er überzeugt, daß seine Großmutter unmittelbar hinter der Tür neben dem Schreibtisch des Beamten lag: aufgebahrt auf einem Behelfsbett und entstellt durch die Einwirkungen des gewaltsamen Todes, dem sie erlegen war. Keine Krankheit, wie man es bei ihrem hohen Alter erwartet hätte, oder ein sanftes Einschlafen und Nicht-mehr-Aufwachen. Nein, die alte Dame war dem Tod der Jungen zum Opfer gefallen. Dem Tod durch einen Unfall. Mitten im Leben. In der Nacht, in einem Meer von Nebel, hatte ein Sattelschlepper ihr Auto in voller Geschwindigkeit von hinten gerammt und es mit einem einzigen gnadenlosen Ruck in ein anderes, vor ihm fahrendes, gebohrt. »Nein!« wiederholte Thomas und kämpfte gegen ein Schluchzen, das ihm die Kehle zusammenschnürte. »Nein, ich möchte sie nicht mehr sehen.« Er erinnerte sich plötzlich daran, daß seine Großmutter es immer gehaßt hatte, eingeengt zu werden.

 

Er fühlte sich wie ein Dieb, als er nun von Zimmer zu Zimmer ging und seine Schritte auf dem Steinboden widerhallten. Die warme Morgensonne, die durch die gardinenlosen Scheiben drang, machte die Luft stickig und schwer. Thomas öffnete ein Fenster und atmete tief ein. Während er sich umsah, fiel ihm auf, daß alles an seinem Platz lag, als hätte die alte Dame damit gerechnet, daß er vielleicht bald diese Räume durchstreifen und es keine Diskretion mehr geben würde. Jeder Schrank würde geöffnet werden, jedes Schriftstück geprüft, jedes Geheimnis enthüllt. Mit musterhafter Ordnung hatte sie sich gegen die Vereinnahmung gewehrt. Thomas war sicher, daß er kein überflüssiges oder vernachlässigtes Kleidungsstück entdecken würde, keine Spuren unentschlossenen Verwahrens oder sentimentalen Gedenkens.

Thomas beschloß, sich auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken: die Dokumente sicherzustellen, die er für die Behörden benötigte und die vielleicht auch als Grundlage für einen Nachruf nützlich sein konnten. Bis zuletzt war die alte Dame in der Öffentlichkeit gestanden, hatte gelehrt und publiziert und war immer wieder auch persönlich in den Medien aufgetreten. Man schätzte ihre klare Analyse, die Unabhängigkeit ihres Denkens und ihren scharfen Witz, der ihrer Kritik alles Belehrende nahm. Thomas wußte nicht, ob seine Großmutter die Menschen geliebt hatte, ganz sicher aber hatte sie sich für sie interessiert und sie durchschaut. Ihr Urteil war ohne Bosheit gewesen, doch zumeist auch ohne Nachsicht.

 

Im Arbeitszimmer fand Thomas schließlich die Mappe mit den Dokumenten. Zu Hause würde er sie in Ruhe durchsehen. Doch als er sie aus dem Regal zog, fiel ein großer, weißer Umschlag zu Boden. Thomas hob ihn auf und suchte vergeblich nach einer Beschriftung. Nachdenklich wog er das Kuvert in der Hand. Dann setzte er sich in den hohen, lederbezogenen Drehsessel, der bisher ausschließlich seiner Großmutter vorbehalten gewesen war, und schnitt mit ihrem – ihrem! – Brieföffner den Umschlag auf.

Heraus fielen zwei amtlich aussehende Dokumente und ein altes Foto, braunstichig und voller Flecken, ein Hochzeitsbild, wie auf den ersten Blick zu erkennen war: ein Brautpaar, ernst und würdevoll. Junge Menschen, die Braut beinahe noch ein Kind, trotz des strengen, dunklen Kleids mit dem großen Kragen, der viel zu mächtig für den schlanken, weißen Hals und das schmale Gesicht mit den zarten Zügen war. Schwere, zu einem Knoten hochgesteckte Zöpfe mit einem kleinen Blütenkranz trug sie. Dazu ein paar Ohrgehänge – auf dem Bild reglos und starr, doch in der Realität jenes Tages wahrscheinlich voller Bewegung: ein heimliches Versprechen im Glitzern der Juwelen und in ihrem unhörbaren Klirren, das das Blut des Bräutigams in Wallung versetzt haben mochte, als sich am Abend die Türen hinter den Liebenden schlossen.

Der Bräutigam war ein stämmiger junger Mann, ein paar Jahre älter als die Braut, mit schwarzen, welligen Haaren dicht wie Zobelfell. Geschwungene Brauen über dunklen Augen, die sich um einen besonders wachen Ausdruck bemühten, auch wenn sie sonst vielleicht eher träge und verschleiert blicken mochten. Eine gerade, gefällige Nase und über den vollen Lippen ein schwarzer Schnurrbart nach der Mode der Zeit – das Ergebnis, ganz sicher, einer allnächtlich getragenen Bartbinde. Ein schöner Mensch im großen und ganzen, wenn auch zur Üppigkeit neigend und ein wenig kleiner als die schmale, hellhäutige Braut. Kaum merklich wandte er ihr den Kopf zu und drängte seine Schulter gegen die ihre, während sie sich an ihrem Brautstrauß festhielt, als wäre sie sich ihres Entschlusses nicht mehr sicher.

Thomas musterte diese Gesichter aus einer anderen, versunkenen Zeit, doch er fand keine Ähnlichkeit mit Personen, die ihm bekannt waren. So legte er das Bild beiseite, bereit, es für immer zu vergessen.

Die beiden Dokumente im Umschlag erwiesen sich als eine Heiratsurkunde und ein Scheidungsurteil. Keine Kopien, wie Thomas befremdet feststellte. Als sein Blick auf den Geburtsnamen der Braut fiel, erschrak er und glaubte zuerst, sich zu irren: Es war der Name der alten Dame, der Name seiner Großmutter, den sie bis zu ihrem Tode getragen hatte, weil sie es ablehnte, ihren Lebensgefährten, Thomas’ Großvater, zu heiraten. Sie war selbständig und prominent genug, sich eine solche Extravaganz leisten zu können, auch wenn man sich in den bürgerlichen Kreisen der Hauptstadt zu Beginn darüber entrüstet hatte und ihr vorwarf, der Jugend ein schlechtes Beispiel zu geben. Da sich die Verbindung des Paares jedoch als fest und harmonisch erwies und der Zeitgeist sich wandelte, geriet der Skandal von einst immer mehr in Vergessenheit und wurde höchstens noch hin und wieder als ein Zeichen früher feministischer Unabhängigkeit gepriesen.

Marie Zweisam war nicht verheiratet gewesen. Unmöglich, dachte Thomas, die Braut auf dem Foto und der Name auf der Urkunde: Das konnte nicht seine Großmutter sein. Es mußte sich um eine zufällige Namensgleichheit handeln.

Noch einmal nahm Thomas das Bild zur Hand und studierte es aufmerksam. Doch je länger er es ansah, um so unruhiger wurde er. Als ihm bewußt wurde, daß seine Hände zitterten, warf er das Bild auf den Schreibtisch, als wäre es Gift, und schob hastig die beiden Dokumente darüber. Er hatte auf einmal das gleiche Gefühl wie nach der Frage des Beamten: Wollen Sie sie noch einmal sehen? Nein! dachte er und wich zurück. Nein, ich will sie nicht mehr sehen!

Erstes Buch

Ein Mädchen vom Lande

Der Abschied

1

Sie hieß Marie, zählte nur wenig mehr als vierzehn Jahre und befand sich doch bereits auf der Reise in ein neues Leben. Vor Stunden schon war sie aufgebrochen in ihrem dunkelblauen Sonntagskleid, das ihr viel zu lang war und zu weit um die Brust, damit es auch im kommenden Jahr noch paßte. Zuerst hatte ihre Mutter sie ja noch begleitet auf dem langen Fußmarsch über die Felder und Wiesen, doch dann, als sich das Land nach unten senkte und die Stadt plötzlich wie buntes Holzspielzeug zu ihren Füßen lag, war die Mutter stehengeblieben und hatte Abschied genommen. Keine Umarmung, das war nicht die Art, wie man hier miteinander umging, aber hilflose Tränen in den Augen und ein verhaltenes Schluchzen, das den Hals zusammenschnürte und das Marie nie vergessen würde. Es war ihr erster Abschied und der schwerste, weil sie auf einmal fürchtete, er könnte für immer sein. Dann drehte sich die Mutter abrupt um und ging zurück, woher sie gemeinsam gekommen waren und wo sich alles befand, was Marie kannte und woran sie hing. Sie wartete, daß die Mutter noch einmal zurückblicken und ihr zuwinken würde oder sie gar wieder zu sich rief und ihr erlaubte, doch noch mit ihr heimzugehen, das Köfferchen wieder auszupacken und weiterzuleben wie bisher. Doch die Mutter hielt nicht inne, sah nicht zurück, hob nicht einmal mehr die Hand zum Gruß: eine zerbrechliche Gestalt in einem schwarzen, bäuerlichen Kleid, jung noch, viel zu jung, um schon eine Tochter zu haben, die ihr eigenes Leben begann. Mit schnellen Schritten, als wäre sie auf der Flucht, eilte sie über die Schotterstraße, die Füße bis zu den Knöcheln im aufgewirbelten Staub, immer weiter, bis sie nur noch ein kleiner dunkler Punkt war, der sich schließlich in der Ferne verlor.

Da begriff Marie, daß sie nun allein auf sich gestellt war. Am liebsten hätte sie sich ins Gras gesetzt und geweint. Doch sie wußte, daß niemand kommen würde, um sie zu trösten oder ihr ihr bisheriges Leben zurückzugeben. So nahm sie ihr Köfferchen wieder auf und wanderte die weit geschwungenen Serpentinen hinunter zu der kleinen Stadt, die ihr vertraut war. Hierher war sie alle paar Wochen mit ihrer Mutter gekommen, um einzukaufen. Immer nur das Nötigste: Flanell oder Baumwollstoff für ein neues Kleid, weil das alte nicht mehr zu retten war. Neue Schuhe, weil sich in den alten die Zehen schon schmerzhaft krümmten. Wolle für eine Winterweste, für Socken, Strümpfe und sogar Unterwäsche. Nie etwas Überflüssiges. Trotzdem konnte man zufrieden sein, denn man hatte genug zu essen und im Winter eine warme Stube und ein dickes Federbett. Auch jetzt noch, vierzehn Jahre nach dem Krieg, klopften jeden Tag Bittsteller an die Tür, um etwas zu hamstern oder gar zu betteln. Im Vergleich zu ihnen waren Marie und ihre Mutter reich. Sie besaßen ein kleines Haus, und die Mutter verdiente, was sie brauchten, auf dem Hof des eigenen Bruders, der gut zu ihr war, obwohl er nie aufhörte sie daran zu erinnern, daß sie eine ganz andere Position hätte haben können, wenn sie am entscheidenden Punkt ihres Lebens nicht so stur und stolz gewesen wäre und von den reichen Eltern des jungen Nichtsnutzes das Geld für die Engelmacherin angenommen hätte.

Marie erreichte den Fluß und überquerte die eiserne Brücke. Immer mehr Menschen begegneten ihr. Autos fuhren durch die Straßen, Motorräder, Fahrräder, Pferdewagen. Nicht weit von der Brücke sah Marie den roten Boden des Tennisplatzes und die weißgekleideten Spieler, die – so hätte man es im Haus von Maries Onkel beurteilt – ihre Kräfte sinnlos vergeudeten. Dennoch fühlte sich Marie zu ihnen hingezogen. Auch ihre Mutter war manchmal nach dem Einkaufen mit ihr zu dem hohen Zaun gepilgert und hatte den sorglosen Geschöpfen da drinnen zugesehen, wie sie hin- und herrannten, lauernd vorgebeugt auf den Ball warteten, ihr Gegenüber auszutricksen suchten und lachend das eigene Mißgeschick oder den Sieg akzeptierten. Hier war das Leben nicht ernst und bedeutungsschwer. Hier existierte die Zeit nicht, um mit Arbeit verbracht zu werden. Hier bedeutete Zeit Muße und Vergnügen. Voll Zärtlichkeit mußte Marie plötzlich an ihre Mutter denken, die ihr vor Jahren als Belohnung für ein gutes Schulzeugnis zwei hölzerne Schläger gebastelt hatte und einen Ball aus Stoffresten, den sie von da an abends hinter dem Haus, wo niemand sie beobachten konnte, hin- und herprügelten, schreiend und lachend, als wäre auch die Mutter noch ein Kind.

Die Sonne stieg höher. Es wurde heißer, als es die dichten Morgennebel hatten erwarten lassen. Immer öfter wechselte Marie das Köfferchen von einer Hand in die andere. Manchmal stellte sie es nieder, rieb sich die schmerzenden Schultern und wischte sich mit dem Knöchel des Zeigefingers den Schweiß von den Nasenflügeln. Sie war froh, als sie endlich den Bahnhof erreichte, und atmete auf, als sie sah, daß sie nicht zu spät gekommen war. Sie kaufte sich eine Fahrkarte und trat hinaus auf den Bahnsteig, wo es nach Vulkangestein roch und nach Rauch.

»Hier Wels, Bahnhof Wels!« dröhnte es aus dem Lautsprecher. Unter Dampfen und Zischen fuhr der Zug in den Bahnhof ein und kam mit einem herzzerreißenden Kreischen zum Stillstand. Die Reisenden stürzten aufgeregt zu den Türen, behinderten die Aussteigenden und zogen sich dann in panischer Hast die hohen Stufen hinauf, wobei die Damen ihre engen Röcke bis über die halben Schenkel hochschieben mußten, um den ersten Riesenschritt zu bewältigen.

Marie fand einen Platz am Fenster. Noch bevor sich der Zug wieder in Bewegung setzte, holte sie aus ihrem Köfferchen einen Apfel, den ihr der stumme Knecht ihres Onkels mitgegeben hatte. Reitinger war der einzige Hausgenosse Maries und ihrer Mutter, und sein Herz war so groß wie seine erzwungene Schweigsamkeit. Er hatte der Mutter geholfen, als Marie geboren wurde, und Marie dachte beruhigt, daß er immer da sein würde, wo ihre Mutter war.

Die Reisenden verstauten ihr Gepäck und ließen sich erschöpft auf die Holzbänke fallen. Sie beobachteten durch die Fenster, wie der Zug den Bahnhof verließ und die Häuser draußen immer spärlicher wurden. Marie schloß ihre Hände um den warmen, saftigen Apfel und wußte nicht, ob sie Angst haben sollte oder neugierig sein auf das, was sie erwartete.

2

»Du bist zu frech, zu jung und zu mager!« lautete das vernichtende Urteil der dicken Frau in der Stadtvilla, an deren schmiedeeisernem Gartentor Marie über eine Viertelstunde gewartet hatte, weil keiner auf ihr Schellen antwortete. Sie meinte schon, es wäre niemand zu Hause, und drückte schließlich in resignierter Verzweiflung nochmals den weißen Klingelknopf, läutete Sturm, als könnte sie damit das Schicksal zu einer Entscheidung zwingen.

Erst jetzt öffnete sich das Eingangstor der Villa, und besagte Frau stürzte heraus, schimpfte Unverständliches, schrie Marie an, Bettler seien hier unerwünscht und man habe auch nicht vor, irgend etwas zu kaufen. Damit drehte sie sich mit einer geringschätzigen Bewegung zum Haus um und knallte das Tor hinter sich zu, ohne Marie anzuhören, die nun ihrerseits die Geduld verlor und der Frau nachschrie, wer sie war und daß sie berechtigt sei, hier zu läuten und um Einlaß zu bitten.

Da nichts darauf hindeutete, daß sich das Tor zur Villa ohne Nötigung erneut öffnen würde, drückte Marie mit ihrem Zeigefinger nun auf den Klingelknopf, als wollte sie ihn für immer versenken. Sie war zornig, obwohl ihr zugleich bewußt war, daß man ihr hier ihre Verbitterung nicht zugestehen würde. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut. Es befiel sie nicht oft. Meist war sie ruhig und besonnen. Doch manchmal, im Angesicht einer wahren oder vermeintlichen Ungerechtigkeit, schoß ihr das Blut zu Kopf, und sie ging zum Angriff über. Ihre Mutter hatte diesen Charakterzug oft beklagt. Auch der Pfarrer hatte Marie deswegen ermahnt und bei jeder Beichte eindringlich gefragt, ob sie wieder einmal explodiert sei. Nur der Lehrer hatte Maries Wesen mit Gleichmut toleriert und einmal sogar vor sich hin gemurmelt, sie könne froh sein, daß ihr der Himmel diese Waffe mitgegeben habe. Wer weiß, wozu sie ihr in ihrer schwierigen Lage noch nützlich sein würde.

Ein wahrer Machtkampf fand statt: draußen Marie an der Klingel, drinnen die Hüterin des Hauses, bebend vor Wut. Nach einer für beide Seiten unerträglichen Ewigkeit stürmte die Frau heraus, einen Besen in der Hand. Mit dem Humpeln einer Gichtkranken eilte sie über den Kiesweg und machte Anstalten, Marie durch das Gitter hindurch mit dem Besenstiel am weiteren Schellen zu hindern. Dabei schrie sie ununterbrochen auf Marie ein, die nun, ernüchtert, die Hand zurückzog und immer wieder ihren Namen nannte und daß sie das neue Hausmädchen sei.

Erst nach einer Weile wurde sie verstanden. Schwer atmend ließ die Frau ihre Waffe sinken, starrte Marie an, als wäre sie der böse Feind, und riß schließlich mit einer trotzigen Bewegung ihre Schlüssel vom Schürzenbund. Sie schloß auf, ohne das Tor zu öffnen, ließ aber immerhin zu, daß sich Marie durch einen schmalen Spalt zwängte, sperrte hinter ihr wieder ab, als wollte sie zumindest den Schlüssel erwürgen, und stampfte dann ohne ein weiteres Wort oder einen Blick für den Eindringling ins Haus zurück. Marie mit ihrem Köfferchen folgte ihr.

»Du bist zu frech, zu jung und zu mager!« knurrte die Frau und bohrte ihren Zeigefinger in Maries Brust. »Wenn die Herrschaft zurück ist, wirst du dieses Haus wieder verlassen. Mit einer wie dir kann ich nicht arbeiten. Du hast keinen Respekt und keine Erziehung. Da könnten wir uns ja gleich ein Sozimensch ins Haus holen. Ich dachte immer, die Kinder vom Land hätten noch Anstand. So etwas wie du ist mir jedenfalls noch nie untergekommen.«

Marie stellte ihr Köfferchen ab. »Es tut mir leid«, sagte sie versöhnlich. »Aber ich bin schon so lange unterwegs, es ist heiß, und ich bin müde.«

Die Frau zog ihren Zeigefinger zurück. »Auch noch schwächlich«, murrte sie. »Entschuldigst du dich?«

 

Außer in Kirchen hatte Marie noch nie so hohe Räume gesehen. Trotzdem wirkte das ganze Gebäude finster, was an den alten Bäumen liegen mochte, deren kräftige Äste die hohen, schmalen Fenster berührten, so daß man die Hitze eines Sommertags hier drinnen nicht einmal ahnte und die trübe Jahreszeit wohl nur überstand, wenn man von morgens bis abends die Lichter brennen ließ – eine Verschwendung, die Maries Onkel die Röte der Empörung ins Gesicht getrieben hätte.

Auch sonst schienen die Bewohner der Villa nicht viel von Sparsamkeit zu halten. Überall prangten Gegenstände aus Silber – Leuchter, Kannen, Schalen – oder aus buntem Glas, wie Marie es noch nie gesehen hatte. Die Vorhänge waren aus schwerer Seide, die Marie zwar nicht als solche erkennen, deren Kostbarkeit sie aber ahnen konnte. Es war kein frohes, helles Haus mit viel Licht und Luft, wie man es beim offensichtlichen Wohlstand seiner Besitzer hätte vermuten können, sondern ein Gebäude, das mit den Jahren zugewachsen war und das keiner jung erhalten hatte. Ein gealtertes Haus, das nicht lächelte. Eine Gruft, dachte Marie und wünschte sich fort in das bescheidene Heim ihrer Mutter, wo in diesem Augenblick ganz bestimmt die Fenster weit offenstanden und vom Küchentisch ein Strauß Wiesenblumen grüßte.

Marie aß die beiden Schmalzbrote, die ihr die Frau auf einem Schneidebrett hingeschoben hatte – mürrisch, aber schon versöhnlicher, als sie sah, wie hungrig Marie war und wie gierig sie das Wasser hinunterstürzte, das die Frau aus einem Hahn über der Spüle hatte laufen lassen.

»Sie haben Wasser direkt im Haus?« fragte Marie ungläubig.

»Wasser und auch ein Bad und in jedem Stockwerk ein englisches Klosett«, erklärte die Frau voller Stolz. Sie stammte selbst vom Land und wußte, womit die jungen Dinger zu beeindrucken waren, wenn sie aus ihren rückständigen Bauernkaten in die Großstadt kamen.

Sie heiße Amalie, sagte sie, um die Situation zu klären. So nannten sie die Hausbewohner, »auch das gnädige Fräulein«. Von Marie allerdings wünsche sie »Frau Amalie« genannt zu werden. Jeder Mensch habe seine gottgewollte Stellung im Leben, und die müsse gewürdigt werden. Sie, Frau Amalie, sei die Köchin und Wirtschafterin hier in der Villa. Eine verantwortungsvolle Position. Sollte Marie trotz ihrer offenkundigen Unzulänglichkeiten vielleicht doch im Hause bleiben dürfen – »zumindest vorläufig« –, dann habe sie die Autorität ihrer Vorgesetzten respektvoll anzuerkennen und ihr aufs Wort zu gehorchen. »Geschlagen wird bei uns nicht!« fügte Amalie mit bedauerndem Unterton hinzu. »Das erlaubt der Herr Notar leider nicht. Aber gefolgt werden muß trotzdem, sonst fliegst du.«

3

Gegen Abend kehrten die Herrschaften nach dreiwöchigem Aufenthalt in den Bergen zurück. Ununterbrochen hupend hielt das große, braune Auto, wie Marie noch nie eines aus der Nähe gesehen hatte, vor dem Gartentor. »Da sind sie! Da sind sie!« schreiend humpelte Amalie hinaus und öffnete keuchend die beiden Gitterflügel. Marie folgte ihr zögernd. Amalie schien sich über die Ankunft der Herrschaften aufrichtig zu freuen. Marie fragte sich, ob dies aus Zuneigung geschah oder aus einem Pflichtbewußtsein, das der Hauswirtschafterin inzwischen so sehr ins Blut übergegangen war, daß sie automatisch fühlte, wovon sie meinte, daß sie es fühlen sollte.

Erst jetzt, da seine Bewohner es wieder in Besitz nahmen, gewann das große Haus sein Gesicht. Die Räume füllten sich mit der Aufregung und dem Echo gerade erst vergangener Ferientage, die noch auf den Wangen und in den Augen der Heimgekehrten nachzuglühen schienen, wenn sie wie Schauspieler in einer turbulenten Komödie hektisch hin und her rannten und das Stück inszenierten: »Wir haben die Welt gesehen, und ihr wart bloß zu Hause!« Amalie spielte den Part des anbetenden Publikums, und sogar Marie wurde auf der Stelle eine Rolle zugewiesen, wenn auch nur die eines ahnungslosen Eindringlings, der beeindruckt und auf seinen Platz verwiesen werden sollte.

Es blieb kaum Zeit, die Ankömmlinge näher zu betrachten oder ihnen vorgestellt zu werden. »Einen Knicks!« zischte Amalie und stieß Marie mit der Faust in den Rücken. Doch Marie blieb aufrecht stehen, weil sie noch nie im Leben vor irgend jemandem einen Knicks gemacht hatte und auch gar nicht wußte, wie dies zu bewerkstelligen war. So nickte sie höflich und sagte vorsichtig »Grüß Gott!«, was niemand hörte außer Amalie, die sie mahnte, es hieße zumindest »Grüß Gott, gnädige Frau!« oder »gnädiger Herr!«, je nachdem. Damit griff Amalie nach dem größten der Koffer, die ein hochgewachsener Mann – wahrscheinlich der »gnädige Herr«, dachte Marie – aus dem Wagen hob und in der Einfahrt abstellte, die sich bald mit weiteren Koffern und Reisetaschen füllte, während es die Herrschaften den beiden Bediensteten überließen, die Gepäckstücke ins Haus zu schaffen und in die Räume ihrer jeweiligen Besitzer zu befördern.

Marie glaubte, noch nie ein solches Chaos von überflüssigen Wünschen und Anweisungen erlebt zu haben. Jeder der Hausbewohner schien ihr oder Amalie etwas zuzurufen. Wollte ein Getränk. Einen kleinen – klitzekleinen! – Imbiß vor dem Abendessen. Hilfe beim Auspacken. Unterstützung bei der Suche nach irgend etwas, das sich schließlich zwischen den Gepäckstücken fand, nachdem die Suche längst aufgegeben und der Verlust der Unfähigkeit der Dienstboten zugeschrieben worden war. Man wollte baden. Wollte zum zweiten Mal eine Tasse Tee – nein, lieber doch eine Limonade! Suchte den Morgenrock, der ja wohl innen an der Schlafzimmertür zu hängen habe. Forderte Hilfe beim Öffnen der Knöpfe an der Rückseite des Kleides. Verlangte die Post, die während der Abwesenheit eingegangen war. Konnte die Blumen auf dem Tisch im Salon nicht ausstehen. Nahm denn keiner diesen unerträglichen Grabgeruch wahr, den sie verströmten, und der umgehend eine heftige Migräne auslösen würde?

Ein Narrenhaus! dachte Marie und hastete hin und her, ohne sich zurechtzufinden. Es dauerte Stunden, bis endlich alle verköstigt waren und sich hinter die hohen Türen ihrer Schlafzimmer zurückgezogen hatten. Ein Hüsteln noch hie und da; das Quietschen einer Schublade; Gardinen, die auf- und zugezogen wurden; ein Fensterladen, der im Nachtwind klapperte. Dann war es still in dem großen, dunklen Haus. Nur in der Küche brannte noch Licht, wo Amalie und Marie das Geschirr spülten und die Reste des Abendessens wegpackten, damit nur ja nichts verschwendet wurde, denn die Zeiten waren schlecht, und in manchen Teilen der Stadt – so erzählte Amalie – hungerten die Menschen.

Marie konnte kaum noch aus den Augen schauen, so müde war sie. Als endlich alles aufgeräumt und abgewischt war, mußte noch der Frühstückstisch gedeckt werden, wobei Amalie nur mit einer Hand zulangte und sich mit der anderen den schmerzenden Rücken hielt. Trotzdem schien sie zufrieden, daß das Haus, das ihr anvertraut war, mit der Heimkehr seiner Bewohner nun wieder zu seiner normalen Routine zurückgekehrt war und ihr eigenes Leben seine Berechtigung und seinen Sinn zurückgewonnen hatte. »Dein Zimmer ist ganz oben«, erklärte sie Marie. »Nimm dir einen Krug Wasser mit zum Waschen. Auf dem Nachttisch steht ein Wecker. Stell ihn auf halb sechs, und komm morgen gleich herunter! Der Herr Notar braucht um sechs seinen Tee. Keine Minute später; da ist er eigen.«

Marie holte sich ihr Wasser und stieg die Stufen empor, den Kopf gesenkt, die Augen halb geschlossen. Sie öffnete die Tür zu der Kammer, die künftig ihr eigenes kleines Heim sein sollte. Nach den hohen, überladenen Räumen in den unteren Stockwerken wirkte sie niedrig und kahl, als hätte man vergessen, sie einzurichten. Doch Marie war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie stellte den Krug auf den Tisch zu der kleinen Waschschüssel und bemerkte fast mit Rührung, daß jemand – es konnte nur Amalie gewesen sein – ein sauberes, ordentlich gefaltetes Handtuch daneben gelegt hatte und auf einen kleinen Teller ein unbenutztes Stück Kernseife. Sie war also doch erwartet worden. Kein ungebetener Eindringling.

Als sie ihr Kleid aufgeknöpft hatte, merkte sie, daß ihr Köfferchen noch immer unten in der Halle stehen mußte. Seufzend stieg sie die Treppe wieder hinab, stolpernd vor Müdigkeit. Der Koffer lag unter dem Treppenabsatz, halb offen und so unpassend und verlassen in dem fremden Haus wie Marie selbst, die nur noch ihr Bett sah, als sie in das Zimmer zurückkam. Sie ließ den Koffer an der Tür stehen, löschte das Licht auf dem Flur und im Zimmer und ließ sich in die Kissen fallen. Sie hörte, wie die Standuhr unten in der Diele zweimal schlug, und dachte, daß sie noch den Wecker stellen mußte. Aber da war sie auch schon eingeschlafen, zum ersten Mal in einem fremden Bett. Jahre später, als sie sich angewöhnt hatte, die Ereignisse ihres Lebens und die Vorgänge ringsum zu analysieren und zu bewerten, dachte sie, daß in dieser Nacht ihre Kindheit zu Ende gegangen war.