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Nina und Emma sind beide Anfang vierzig und leben in Nordlondon, haben darüber hinaus aber nur wenig gemeinsam: Nina, elegant, weltgewandt und unabhängig, ist eine erfolgreiche Künstlerin und führt eine harmonische Ehe, ihre Tochter ist fast erwachsen. Emma dagegen sieht sich völlig dem Chaos ihres Familienalltags ausgeliefert, mit zwei kleinen Kindern, Geldsorgen und einer strapazierten Beziehung.

Aus einer scheinbar zufälligen Begegnung heraus freunden die beiden sich nach und nach an – für Emma, von Ninas Gesellschaft fasziniert und geschmeichelt, eine willkommene Abwechslung. Doch wovon sie nichts ahnt: Nina verfolgt eine andere Agenda und spielt ein undurchsichtiges Spiel. Denn sie und Emma sind sich vor langer Zeit schon einmal begegnet. Und Nina erinnert sich genau, was damals passiert ist …

 

Harriet Lane arbeitete als Redakteurin und Autorin für die Zeitungen Tatler und The Observer, außerdem schrieb sie als freie Autorin für den Guardian, den Telegraph und die Vogue. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in Nordlondon.
www.harrietlane.co.uk

 

 

HARRIET LANE

Denn nichts bleibt vergessen

Roman
Aus dem Englischen von Peter Knecht

Insel Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Her bei Weidenfeld & Nicholson. An imprint of the Orion Publishing Group, London

All rights reserved

 

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4416.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2015

© Harriet Lane 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlag: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: Mark Owen/ Trevillion Images

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-458-74256-2

www.insel-verlag.de

Denn nichts bleibt vergessen

 

FÜR POPPY

 

NINA

Sie ist es. Ich bin fast sicher.

Es ist später Nachmittag, ein Freitag Ende Juli. Ich komme aus dem Laden, in der Hand eine Papiertüte mit einer kalten Flasche Wein, gehe über den Platz und denke über meine Arbeit nach, darüber, was ich heute gemacht habe, ob es etwas taugt oder ob es mich wieder einmal nur in eine Sackgasse geführt hat. Der Himmel, der da und dort durch die Kronen der Platanen hindurchblitzt, ist mit Hitze gesättigt, die goldene Luft schwer von Blütenstaub, aber auch durchdrungen von dem beunruhigenden Aroma des Großstadtsommers: Auspuffgase, der Geruch aus Abwasserkanälen, der ferne Gestank uralter vergessener Rinnsale, die durch die Felsen bis in den Schlick tief unter meinen Füßen sickern.

Ich denke gerade über dieses Violett nach, ob ich es richtig hinbekommen habe zwischen den verschiedenen Grün- und schlammigen Brauntönen, da sehe ich sie. Sie ist auf der anderen Seite des Platzes, beugt sich hinunter und streckt die Hand aus nach einem kleinen Kind. Das Erlebnis, sie nach all der Zeit einfach so vor mir zu sehen, wirft mich fast um, ein Gefühl ähnlich wie Panik oder Leidenschaft. Ich spüre, wie meine Hände sich zu Fäusten ballen. Mir ist plötzlich ganz deutlich bewusst, wie meine Lunge sich mit Luft füllt und sie dann wieder ausströmen lässt.

Hastig wechsle ich die Richtung, gehe zu einem Schaukasten, als würde ich mich brennend für irgendwelche Yoga- oder Französischkurse interessieren, aber in Wirklichkeit beobachte ich die ganze Zeit, was da drüben vor sich geht. Ich sehe sie genau, bemerke die dünne Matrosenbluse, die hochgekrempelten Jeans, die hässlichen deutschen Fußbettsandalen, die alle hier tragen, das hinter die Ohren geschobene Haar.

Ich beobachte, wie sie etwas aus der Tasche zieht, ein Stoff- oder Papiertaschentuch, darauf spuckt, sich vorbeugt und dem Kind das Gesicht damit abwischt. »Meine Güte, Christopher, wie du aussiehst!«, sagt sie. »Sogar in die Haare hast du dir Eis geschmiert. Wie hast du das nur geschafft?« Ihre Stimme trägt weit, sodass ich hören kann, wie erschöpft sie ist: Sie spricht, ohne nachzudenken, beinahe automatisch. Als sie das Taschentuch wieder einsteckt und sich aufrichtet, sehe ich, dass sie schwanger ist. Im vierten Monat etwa, schätze ich.

Der Junge reißt sich von ihrer Hand los und marschiert in sonderbar wackelndem Gang los, wie ein Seemann oder ein Betrunkener. Er steuert quer über den Platz direkt auf mich zu, und einen Moment lang erstarre ich vor Schreck: Emma folgt ihm, sie wird mir höflichkeitshalber entschuldigend zulächeln und dabei ganz selbstverständlich erwarten, dass ich bezaubert bin von dem Jungen, und vielleicht wird sie mich wiedererkennen. Vielleicht auch nicht.

Aber dann rettet er mich vor dem Schlimmsten, indem er hinfällt. Er stolpert und kippt nach vorn um, fast wie eine Figur in einem Comic, und in dem angsterregend stillen Moment, der darauf folgt, springt sie flink und entschlossen zu ihm hin.

Ich entferne mich, ohne zurückzuschauen, als das schrille Heulen einsetzt, und ich denke: Emma, du bist es. Ich habe dich gefunden. Und als ich kurz darauf in dem Laden, in dem ich Brot und Käse gekauft habe, bezahle, zittern meine Hände immer noch ein bisschen.

Ich gehe nach Hause. Ohne Sophie und Charles fühlt das Haus sich fremdartig leer und ungewohnt an, als ob es gar nicht meines wäre. Wenn ich allein bin, was selten vorkommt, dauert es immer ein paar Tage, bis ich mich an den Zustand gewöhne. Lenka war da, ein angenehmer Geruch von Putzmitteln und Bügeldampf hängt in der Luft. Ich gehe durch die Wohnung, öffne die Fenster und mache rückgängig, was Lenka beim Ordnungmachen in Unordnung gebracht hat: Ich stelle die Blumen wieder auf das Seitentischchen und nehme die Untersetzer weg, die sie, etepetete, wie sie ist, den Kerzenständern untergeschoben hat. In Sophies Zimmer finde ich Henry vor, der es sich auf dem Bett gemütlich gemacht hat. Er reibt seinen Kopf an meiner Hand, als ich mich zu ihm hinunterbeuge, dann streckt er sich lang aus und bietet mir gnädig seine Kehle dar zum Zeichen, dass er mir gestattet, ihn mit weiteren Aufmerksamkeiten zu verwöhnen. Ich gehorche, dann trete ich an die Kommode, wo ich in einer Schublade unter Sophies Schuluniform das Päckchen Zigaretten finde, das sie dort vergessen hat.

Ich nehme Streichhölzer und ein Glas Sancerre mit auf die Terrasse, setze mich hin und lasse meinen Blick über den Garten schweifen, während ich rauche. Die ausgetrocknete Zigarette knistert leise, wenn ich daran ziehe. Ich habe jahrelang nicht mehr geraucht, und mir wird ein bisschen übel und schwindlig. Der Rauch schwebt durch das Geißblatt und den weißen Mohn, dessen papierene Blütenblätter bald im Gras verstreut liegen werden.

Als ich beim zweiten Glas bin, ruft Charles an. Ich freue mich, seine Stimme zu hören, bin froh um die Ablenkung, so froh, dass ich versucht bin, ihm von der Sache heute zu erzählen, es in Worte zu fassen.

Er ist aufgekratzt, fast euphorisch: Der Flug hatte Verspätung, aber er kam noch gerade rechtzeitig, die Präsentation ist gut gelaufen, er und Theo waren als Letzte dran, und gerade hat der Bauherr angerufen und mitgeteilt, dass sie in der engeren Wahl sind. »Es ist ein tolles Projekt«, sagt er, »ein großartiges Grundstück in der Nähe der Oper. Wir könnten den Auftrag gut gebrauchen. Ich würde gern noch ein paar Tage bleiben, mich mit Leuten treffen, ein bisschen zeichnen – im Büro komme ich ja nicht dazu, da werde ich andauernd gestört. Es ist dir doch recht, oder?«

Ja, natürlich, sage ich. Wir hatten nichts Besonderes geplant.

»Wie sieht es bei dir aus, ist Sophie gut weggekommen?«, fragt er, und während ich sage, was man eben so sagt, überlege ich, ob ich ihm von Emma erzählen soll, aber ich weiß nicht recht, wie ich es erklären kann – es ist eigentlich mehr ein Gefühl als eine Geschichte –, da unterbricht er mich: »Entschuldige bitte, ich bin gleich wieder bei dir …«, und dann sagt er, Theo ist gerade aufgetaucht, und sie müssen irgendwohin zum Essen. Ja, gut, sage ich, reden wir morgen weiter, und lege auf.

Später, als ich im Bett liege, stelle ich mir die Szene unter den Platanen noch einmal vor, analysiere sie, suche in den erinnerten Bildern nach bedeutsamen Einzelheiten. Sie hatte eine braune Tasche an einem langen Riemen dabei, die gegen ihre Hüfte schlug, als sie dem Jungen nachlief. Ihre Haare waren heller als früher, wahrscheinlich gefärbt. Die Matrosenbluse. Die hochgekrempelten Jeans. Die bronzefarbenen Sandalen. Ich habe das Gefühl, es ist nicht genug.

Von diesem Tag an bin ich angespannt, wenn ich durch die Innenstadt oder durch den Park gehe. Ich habe Angst davor, ihr zu begegnen, und gleichzeitig habe ich Angst, sie nie wieder zu sehen.

Charles kommt nach Hause. Es sind Schulferien, die Straßen sind leer. In den Gärten ringsum wird gegrillt, der fröhliche Lärm der Leute geht bis spät in die Nacht.

Mein Vater ruft aus Südfrankreich an: »Wollt ihr nicht für ein paar Tage herkommen, du und Charles? Clara hat Schwimmen gelernt.« »Ja, ja«, ruft Delphine irgendwo im Hintergrund, »sag Nina, wir vermissen sie, nicht, Clara?« Kratzen und Knacken ist in der Leitung zu hören und dann Claras Atem – offenbar hält sie das Telefon an ihren Mund. »Bist du das, Clara?«, frage ich. Und dann ist mein Vater wieder am Telefon und sagt: »Na ja, überlegt es euch, wir würden uns freuen, euch zu sehen, entweder hier oder auch später, wenn wir wieder in Paris sind.« Das wäre sicher schön, sage ich, ich werde darüber nachdenken, aber wir wissen, dass es dabei bleiben wird. Es wird nichts dabei herauskommen.

Sophie schickt pflichtschuldig E-Mails, berichtet von dem Praktikum in der Galerie, das ihr Vater ihr besorgt hat, streut gelegentlich einen Scherz über Trudys Milchphobie ein. Einmal in der Woche rufe ich meine Tochter in der Wohnung an, und wenn Arnold rangeht, machen wir ein bisschen steife Konversation: Wie groß Sophie geworden ist, wie sie mit den Kindern Muffins gebacken hat, ob sie nicht ein paar Tage länger bleiben kann – die Crawfords haben sie alle zum Hampton Classic eingeladen. Wenn ich noch mehr Pech habe, nimmt Trudy ab, und sie bequatscht mich in diesem von keinerlei Zweifel angenagten Frageton, gepanzert mit Wohlerzogenheit, penetrant munter kontrolliert. Mich überkommt jedes Mal eine Mischung aus Scham und blankem Hass, wenn ich mit Trudy spreche, wenn ich mir vorstelle, was ich in ihren Augen bin: die Engländerin, die erste Ehefrau, die böse Mrs Setting. Eine Frau, die Arnolds Familiennamen nach der Scheidung behalten hat, »aus beruflichen Gründen offenbar«. Natürlich. Trudy ihrerseits führt ihren Mädchennamen, wegen ihrer Praxis – sie ist Psychotherapeutin – und mit Rücksicht auf ihre gesellschaftlichen Beziehungen, in die auch Arnold und die beiden restlos durchgetakteten Kinder Astrid und Otto eingebunden sind. Sophie nennt sie immer »die Blagen«, findet sie in kleinen Dosen jedoch halbwegs erträglich.

»Sie malt«, erzählt Trudy wahrscheinlich ihren Freunden. »Angeblich ist sie ziemlich bekannt, in England.«

Die Wochen vergehen, es wird Hochsommer. Emma, so stelle ich mir vor, ist wie alle Leute in den Urlaub gefahren, vielleicht nach Dorset oder Norfolk oder nach Korsika oder Kreta. Im Geist sehe ich sie am glitzernden Wasser sitzen, einen Sonnenhut auf dem Kopf, ihren Bauch gut verstaut in einem schlichten dunkelblauen Badeanzug, während ihr Mann, die Schultern voller Sommersprossen und im Gesicht einen Dreitagebart, Bier trinkt und sich am Grill zu schaffen macht, auf dem verkohlte Fleischstücke brutzeln.

Ich habe aufgehört, nach Emma Ausschau zu halten, und bin froh, mein Viertel wieder für mich zu haben, mich in meinem vertrauten Revier frei bewegen zu können. Es gefällt mir, wenn der August die Stadt in seinem trägen Griff hat, die leeren Straßen gefleckt von Schatten, wenn das Gras in den Parks schütter und gelb wird und die Hitze flimmernd über geparkten Autos schwebt. Ich schlage Einladungen von Kate Farrar und den Shapes aus, zufrieden damit, untertags mit meiner Arbeit alleine zu sein und die Abende mit Charles zu Hause zu verbringen, in der Dämmerung, wenn es im Garten kühler wird, draußen zu essen und die Ruhe zu genießen.

In diesen langsam verrinnenden heißen Wochen entstehen auf dem Weg zum und vom Atelier in mir Farben und Texturen: Grau- und Brauntöne und manchmal ein überraschendes Blau. Sie haben etwas Sanftes und doch auch etwas Raues, Kaltes. Ich spüre, wie sich etwas in mir in Bewegung setzt.

Wie immer, wenn ich das spüre, versuche ich, nicht zu viel darüber nachzudenken, weil es sein kann, dass es sich in Nichts auflöst. Ich habe das schon zu oft erlebt, und dieser Verlust ist immer schmerzlich. Ich konzentriere mich auf den Impuls, so gut es geht, und kümmere mich nicht darum, was daraus werden mag. Einstweilen fühlt es sich gut an, wenn ich im Atelier stehe und male, und die Regale füllen sich mit Bildern: querlaufende Bänder von Erde und Luft und Wasser. Ein Himmel nach dem anderen, tiefe unscharfe Horizonte, verwischte, verschrammte Andeutungen der Landschaft.

Eines Vormittags kommt Michael von der Galerie vorbei, geht zwischen den fertigen Arbeiten umher, nickt und runzelt anerkennend die Stirn. »Du hast einen Lauf«, sagt er schließlich und tritt einen Schritt zurück, um sich eines der größeren Bilder anzusehen, das an der Wand lehnt. »Sie haben Atmosphäre. Es gefällt mir, wie du mit der Leere der Gegend umgehst.«

»Es ist eine Landschaft in Kent, wo ich früher mal war«, sage ich und löffle Kaffeepulver in die Becher. Erst jetzt wird mir das richtig klar: Wenn es eine wirkliche Gegend ist, ist es am ehesten die Marsch. Diese weiten Flächen voller Gestrüpp, diese zerzausten Grasbüschel und vom Wetter geformten Bäume, die dunklen Wasserläufe und Abzugsgräben, die mit Wasservögeln gesprenkelten Kanäle. Und irgendwo im Hintergrund und darunter ist das Meer, und über allem spannt sich der Himmel.

Weil die Arbeit so befriedigend vorangeht, ist es ein guter Sommer. Charles bekommt den Auftrag in Wien, das erleichtert ihn und heitert ihn auf. Er tut Dinge, die er nicht oft tut. Auf dem Nachhauseweg etwa macht er bei dem türkischen Gemüsehändler Halt und kauft kistenweise flache weißfleischige Pfirsiche (ich mag die billigeren gelben lieber, aber das behalte ich für mich), oder er ruft an und sagt, dass er Karten für das Almeida oder das Duchess bekommen hat.

Wenn wir abends die Dean Street entlanggehen, empfinde ich sein vages Behagen an meiner Gesellschaft ebenso deutlich wie die klebrige Resthitze unter den dünnen Sohlen meiner Sandalen. In früheren Zeiten hätte er mich hier neben einem dunklen Hauseingang, der nach Pisse riecht, geküsst. Bei dem Gedanken werde ich fast melancholisch.

Die Erleichterung, in meiner Arbeit eine neue Richtung gefunden zu haben, bewirkt, dass ich herrlich tief schlafen kann. Die Träume bleiben aus. Wenn ich aufwache, liegt ein sinnvoller Tag vor mir.

Ich versuche Emma in den Hintergrund meines Denkens zu schieben. Aber sie bleibt nicht dort.

Es ist jetzt fast September. Die Sonne hat die Stadt ausgebleicht. Nachts wache ich vom Lärm der Polizeihubschrauber auf, die zu den Villen am Fuß des Hügels fliegen. Es ist eine gefährliche Zeit, die Nerven liegen blank. Offene Fenster ziehen Einbrecher an.

Alles kann passieren.

Ich bin in der chemischen Reinigung, um ein Seidenkleid und ein paar Sachen von Charles abzuholen, da sehe ich sie durch die Scheibe der Glastür. Einen Augenblick lang – aber sie bemerkt es nicht – fällt sie mit meinem Spiegelbild in eins zusammen: sie groß, ich zierlich, sie rosig, ich blass, sie hell, ich dunkel, dann geht sie weiter, während ich im Türeingang stehe. Sie ist so nahe, dass ich den silbernen Armreif an ihrem goldenen Handgelenk sehe, dass ich den frischen Waschmittelgeruch ihrer Kleidung (grüne Wolljacke über einem rosa Leinenkleid, abgewetzte Tennisschuhe) riechen kann. Dieses Mal trägt sie die Haare offen. Sie sehen verstruwwelt aus, als hätte sie keine Zeit gehabt, sie ordentlich zu bürsten.

Sie schiebt einen dieser großen dreieckigen Buggies, an den Griffen hängen Einkaufstaschen aus Jute. Das Kind, Christopher, ist mit Sicherheitsgurten darin festgeschnallt, sein Gesicht ist böse verkniffen. »Jetzt gibt's keine Plätzchen«, sagt sie gelassen, »es gibt gleich Mittagessen.« Als die Ampel umschaltet, überquert sie die Straße vor der Pizzeria, und ich sehe, wie jemand, der dort drinnen am Fenster sitzt, sich aufrichtet und ihr zuwinkt. Ich krame in meiner Tasche nach meiner Sonnenbrille und setze sie auf, bevor ich an der Pizzeria vorbeigehe, damit ich ohne Gefahr hineinschauen kann. Emma sitzt an einem Tisch zusammen mit anderen Müttern. Die Kinder thronen zwischen ihnen in Hochstühlen und werfen Sachen auf den Boden, während der Kellner, ein gequält verständnisvolles Lächeln im Gesicht, darauf wartet, die Bestellung aufzunehmen.

Ich wüsste gerne, wo sie wohnt.

Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass ich versuche, sie zu googeln, doch es kam nie etwas dabei heraus. Sicher, das könnte daran liegen, dass sie inzwischen einen anderen Namen trägt, aber auch von ihrer früheren Inkarnation ist unter all den anderen Emma Halls nirgends eine Spur zu entdecken. Das beweist nicht viel: Wir sind beide in der Zeit vor dem Internet groß geworden, und so ist es nicht besonders erstaunlich, dass ich dort nichts über sie finde, weder, was sie als junge Frau, noch, was sie in ihren Dreißigern gemacht und erlebt hat, aber eigentlich brauche ich gar keine weiteren Belege für das, was ich bei diesen zwei kurzen Begegnungen ohnehin gesehen habe: Universitätsabschluss, eine Stelle in der Redaktion einer Zeitschrift oder vielleicht in einem Museum oder auch einer Galerie und dann – als sie schon fast keine Hoffnung mehr hatte – die Chance, aus diesem Leben auszubrechen und etwas Neues auszuprobieren. Kinderwagen und Babytragen, schreien lassen oder auf den Arm nehmen, Krabbelecke und Kaffeetrinken im Park mit anderen älteren Müttern.

Gefällt es dir, Emma? Ich ertappe mich bei diesem Gedanken, als ich die Tube mit dem Krapprot aufschraube und einen prächtig schimmernden Wurm auf eine Untertasse drücke. Ist das das Leben, für das du bestimmt warst?

Das Sonnenlicht gleitet immer weiter über den Betonboden des Ateliers. Die Fenster mit den Metallrahmen stehen offen, ein paar Stockwerke tiefer reden Leute, klappen Kofferraumdeckel zu, bringen Dinge in das Lager gegenüber oder holen welche ab. Von meinem Atelier hat man keine besondere Aussicht: Man blickt auf die schwarzen Fensterscheiben leerstehender Werkstätten, auf mit Kies bestreute Flachdächer, eingefasst von Bändern aus Asphalt, und auf Unkraut, das in den Ritzen von Ziegelmauern wächst.

Ich schaue hoch in den weiß brennenden Himmel.

EMMA

Am Ende kann ich sogar von Glück reden. Ich muss meine Geldbörse verloren haben, als ich aus dem Gemüseladen kam, und sie hat sie auf dem Gehsteig gefunden.

»Oh, das war nicht schwierig«, sagt sie am Telefon, »alle Angaben stehen auf Ihrem Bibliotheksausweis.«

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin«, sage ich. In Wirklichkeit hatte ich in dem üblichen Durcheinander noch nicht einmal bemerkt, dass das blöde Ding fehlt – all die Taschen mit meinen Einkäufen, die ich wegräumen musste, und Christopher, der die ganze Zeit quengelt, weil er grüne Bohnen nicht mag. »Wohnen Sie in der Gegend? Ich könnte vorbeikommen und sie abholen, sobald mein Sohn fertiggegessen hat. Wie ist die Adresse?«

»Ach, wissen Sie, ich bringe sie Ihnen vorbei, das macht mir gar nichts aus«, sagt sie. Eine sanfte Stimme, ein bisschen zögerlich.

»Was? Das ist aber nett. Sind Sie sicher?«, frage ich, und sie sagt, sie ist in zehn Minuten da. Sie wohnt praktisch gleich um die Ecke, in Pakenham Gardens. Ich sehe die Straße vor mir, die gestutzten Hecken, die Klinker frisch verfugt, die oliv und lavendelblau gestrichenen Türen. Die Wege durch die Vorgärten, die mit Platten in Schachbrettmuster belegt sind, die oberen Felder der Sprossenfenster aus farbigem Glas, rosa, grün, goldgelb. »Also, wenn Sie sicher sind«, sage ich, während Christopher mit seinem Plastikhumpen auf den Tisch haut und nach Milch schreit wie Heinrich VIII. nach Malvasier.

Wie nicht anders zu erwarten, stellt sich heraus, dass sie genau der Typ Frau ist, dem ich am liebsten nicht über den Weg laufen will, die Sorte Mensch, die ich auf gar keinen Fall wählen würde, wenn ich mir aussuchen könnte, wer meine verlorene Brieftasche finden soll. Ich stehe in der Tür, über der Schulter ein verkleckertes Küchentuch, einen Ketchupfleck auf der Hose und (aber das bemerke ich erst hinterher) Mehl im Haar, und mir ist blitzartig klar, mit wem ich es zu tun habe, welche Art Leben sie führt, und ich beneide sie so darum, dass es wehtut.

Als ich sie da auf dem Türabsatz stehen sehe, weiß ich so ziemlich alles über sie. Auf einer Ebene meines Bewusstseins sehe ich eine Frau, etwa in meinem Alter, zierlich und dunkel, schwarz gekleidet und mit Ballerinas: schlanke gebräunte Arme und Beine, die Haare kurz geschnitten und ein bisschen feucht, als hätte sie gerade geduscht oder käme vom Schwimmbad. Auf einer anderen Ebene lese ich sie, wie eine Frau eine andere liest, und ich erkenne sofort, dass sie frei ist. Wie ich das weiß? Sie hat etwas Langsames an sich, nichts und niemand hetzt sie. Ich spüre, dass sie auf etwas wartet. Einen Lidschlag lang wartet sie, ehe sie lächelt, ehe sie spricht, und ich bemühe mich hektisch, die Lücken zu füllen, und plappere los wie eine Idiotin. Erst da fängt sie an, in ihrer großen geflochtenen Einkaufstasche nach der Geldbörse zu suchen.

Sie wirkt wie jemand, der Zeit hat. Nichts kommt mir exotischer vor als das. Mein ganzes Leben ist verplant: Von frühmorgens bis abends hetze ich mich ab, Christopher zu essen zu geben, ihn zu unterhalten, zu baden, zu Bett zu bringen (meine eigenen Bedürfnisse spielen allenfalls eine untergeordnete Rolle). Immer wenn ich etwas tue, muss ich bereits an das Nächste denken, das zu erledigen ist, oder das Übernächste.

Wenn ich so unvorsichtig bin, den Zeitplan zu vergessen, oder beschließe, zu improvisieren, dann weiß ich, dass ich das früher oder später bitter büßen muss. Christophers Toleranzgrenzen sind extrem knapp bemessen; wenn ich nicht dafür sorge, dass er zur richtigen Zeit Essen oder Schlaf bekommt, bestraft er mich dafür, und das ist schwer auszuhalten: Ich bin auch sonst schon nicht mehr ich selbst, aber in diesen Momenten werde ich mir so fremd, wie ich es mir vor wenigen Jahren nie hätte vorstellen können, und ich verwandle mich in ein Wesen, das an der Stelle, wo normalerweise das Herz sitzt, nur noch rotglühende rasende Wut fühlt.

Ich habe mich in meinem alten Leben von anderer Leute Bedürfnissen leiten lassen, immer bereit, auch unberechtigte Forderungen zu erfüllen, es jedem recht zu machen, ich habe meine berufliche Karriere auf meine Fähigkeit gegründet, Ärger im Voraus zu erahnen. Es ist meine besondere Tragödie, dass ich immer noch darauf programmiert bin, alle nur irgend möglichen Probleme lösen zu wollen, obwohl die Obrigkeit, der ich jetzt unterworfen bin, ein kleiner Despot ist, der keinerlei Maß und Vernunft kennt. Seine Launen und Gelüste zu befriedigen, mit seinen heftigen Leidenschaften und Abneigungen zurechtzukommen, kostet mich alle Kraft und Geduld, die ich aufbringen kann. Und normalerweise reicht es nicht.

Wie sie da in der Tür vor mir steht, sehe ich zugleich mich selbst, all meine Defizite. Ich sehe all das, was mir fehlt.

»Nina Bremner«, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen.

»Ich bin Emma. Ich kann Ihnen gar nicht genügend danken … Sie retten mir das Leben.« Ihre Hand fühlt sich trocken und kühl an. Hastig lasse ich sie los.

»Das ist doch selbstverständlich«, sagt sie und kramt in ihrer Tasche. »Sie lag auf dem Bürgersteig vor dem Briefkasten. Bei dem Gemüsegeschäft.«

»Ah – ja, ich habe einen Brief eingeworfen. Mein Gott, manchmal denke ich, ich werde langsam verrückt.«

»Na ja, Sie haben immerhin eine Entschuldigung«, sagt sie mit einem Blick auf meinen Bauch. »Wann ist es denn so weit? Ich weiß, wie das ist.«

»Im November. Sie haben Kinder?«, frage ich. Irgendwie bin ich enttäuscht – sie sieht so anders aus. Ich möchte nicht, dass sie ist wie ich, nur besser.

»Eines. Aber sie ist schon siebzehn. Das kann man nicht vergleichen.«

»Sie sehen gar nicht alt genug dafür aus. Man denkt beinahe, Sie müssen bei Ihrer Hochzeit selbst noch ein Kind gewesen sein«, sage ich, und sie lacht.

Hinter mir plötzlich Scheppern und Poltern. Es kommt aus der Küche. Dann zorniges Gebrüll.

»Ach so! Sie haben schon eines. Wie alt?«, fragt sie und fängt wieder an, in ihrer Tasche zu kramen. »Entschuldigung, sie muss hier irgendwo sein, ich …«

»Er ist zweieinhalb. Ich glaube, ich muss nach ihm sehen – wollen Sie nicht auf eine Tasse Tee mit reinkommen?« Ich glaube nicht, dass sie es will. Warum sollte sie? Aber sie lächelt. »Ja, gerne«, sagt sie. Und schon ist sie im Flur, umweht von einem schwachen Parfümduft, schlängelt sich geschickt an dem Monstrum von geländetauglichem Buggy vorbei, das da steht, und macht die Tür hinter sich zu, während ich in die Küche eile, wo Christopher in seinem Hochstuhl thront und mit düsterer Befriedigung auf die Schweinerei niederblickt, die er angerichtet hat.

Manche der Leute, die hier zu Besuch sind, verhalten sich, als würden sie irgendeiner Art von Vorstellung beiwohnen. Sie stehen am Rand des Raums, lächeln und plaudern, während ich hektisch Karotten schnitzle oder mit Putzlappen hantiere, und im Grund meiner Seele weiß ich, dass sie es genießen, zu sehen, was aus mir geworden ist. Natürlich kennt Nina mich nicht und weiß nicht, wer ich wirklich bin, aber sie hat einen Blick dafür, was zu tun ist, und sie macht sich nützlich, ohne Wichtigtuerei oder peinliche Entschuldigungen. Während ich am Boden herumkrieche und Gemüsebrei und verschüttete Milch aufwische, füllt sie den Wasserkocher und räumt das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Sie findet schnell die Tassen für den Tee. »Ein hübsches Haus haben Sie«, sagt sie. »Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Wir haben es nach Christophers Geburt gekauft«, antworte ich. »Früher hatten wir eine Wohnung in der Atwell Street. Die war eigentlich ganz nett, aber wir wollten einen Garten haben. Natürlich gibt es hier noch eine Menge zu tun, wir sind noch nicht dazu gekommen, alles so herzurichten, wie man sich das wünscht, und wir können es uns auch gar nicht leisten, jetzt alles auf einmal machen zu lassen. Entschuldigen Sie dieses Chaos – irgendwie schaffe ich es einfach nicht, die Dinge auf die Reihe zu bringen.« Ich höre mich das alles sagen und weiß genau, wie es klingt.

Mit flinken, geschickten Bewegungen nimmt sie die Kanne des Wasserkochers und gießt kochendes Wasser in die Tassen; Dampf steigt auf, der in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen silbern schimmert. »Ich weiß, wie das ist, mir ist es damals nicht anders gegangen«, sagt sie. »An manchen Tagen fühlt man sich, als liefe man in der falschen Richtung auf einem Förderband. Man strampelt sich ab und kommt doch nicht vom Fleck.«

»Ich hätte nie gedacht, wie viel Dreck und Mühe es macht, einfach bloß zu leben.« Ich lache unfroh, gebe Christopher eine kleine Portion Rosinen und hebe ihn aus dem Stuhl. »Ich meine: Was alles dazugehört, auch nur eine Mahlzeit für ihn zuzubereiten! Man schält und schnippelt und kocht und lässt es abkühlen, und hinterher spült und scheuert man und wischt und putzt. Ein Stein fällt ins Wasser, und tausend gottverdammte Wellen laufen über den ganzen See. Und wenn man Ordnung schaffen will, entsteht daraus nur noch mehr Chaos. Ich gehe an den Schrank, um den Schrubber rauszuholen, und während ich ihm den Rücken zudrehe, verstreut er Wäscheklammern im ganzen Haus oder versteckt die Düse des Staubsaugers im Eimer mit dem Verpackungsmüll. Oder er schnappt sich die Flasche mit dem giftigen Toilettenreiniger …«

Ich breche ab. Ich habe schon mehr gesagt, als ich eigentlich will – es sprudelte einfach aus mir heraus. Ich bin nur froh, dass ich nicht auch noch diese Phrase zitiert habe, auf die ich neulich zufällig in einem Lexikon geflügelter Worte gestoßen bin: »Ach, all dieses Zuknöpfen und Aufknöpfen!« Sie stammt aus dem Abschiedsbrief einer Selbstmörderin aus dem 18. Jahrhundert und geht mir in einer Endlosschleife ständig im Kopf herum, während ich mich durchs Leben schleppe.

Sie sieht mich an. Es ist, als erkenne sie mich wieder, als die, die ich wirklich bin. Es ist ein schockierender Moment. Eine Schrecksekunde lang ist mir, als müsste ich gleich losheulen vor Erleichterung und Grauen.

»Setzen Sie sich«, sagt sie und schiebt mir einen Stuhl hin. »Trinken Sie Ihren Tee.«

Ich starre hinaus auf das kleine Stückchen zertretenen Rasen, auf dem buntes Plastik herumliegt, auf die elenden ungeliebten Sträucher, die Tür des Schuppens, die zu reparieren Ben versprochen hat und die immer noch schief in den Angeln hängt, ein Sinnbild unserer beider Unfähigkeit, etwas zu ändern. Über der verwilderten Hecke ist die Wäsche der Callaghans auf der Leine zu sehen.

Christopher kauert auf einem umgedrehten Blumentopf und isst seine Rosinen, zumindest die, die ihm nicht runterfallen. Ich sehe, wie er sich hinunterbeugt und die verlorenen Stücke sorgsam aus dem Gras klaubt, und denke: Katzenscheiße. Aber dann denke ich: Pfeif drauf, und setze mich hin.

Sie zieht einen Stuhl für sich heran.

»Entschuldigung«, sage ich, und weil mir das alles so peinlich ist, rede ich hektisch weiter: »Lieber Gott! Wissen Sie, ich bin nicht immer so. Das kommt nur davon, dass wir grade erst aus dem Urlaub zurückgekommen sind – Sie kennen das sicher.« Ich nehme die Tasse. Sie ist heiß. Der Tee ist mir zu schwach, aber immerhin habe ich ihn nicht selbst machen müssen.

Sie fragt mich, wo wir waren, und ich erzähle von unserem Sommerurlaub in dem Agroturismo bei Lucca, wobei ich mich sorgsam an die bewährten Regeln dieses Genres halte – ich suggeriere, dass es traumhaft war, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, und spreche nur in scherzendem Ton über die lärmenden humorlosen Belgier in der Nachbarwohnung, die Waschbecken ohne Mischbatterien und meine Angst vor der nächsten Kreditkartenabrechnung.

Sie hat keinen Urlaub gemacht, sagt sie. Ihre Tochter Sophie war den ganzen Sommer in den USA bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter. (Nein, keine böse Stiefmutter, das Verhältnis ist sehr herzlich.) Natürlich hat Sophie ihr gefehlt, aber ihrer Arbeit hat das Alleinsein gutgetan. »Ich bin auf eine Goldader gestoßen«, sagt sie. »Und so bin ich bei der Stange geblieben und habe versucht, möglichst viel rauszuholen.« Sie ist Malerin. Hauptsächlich Landschaften. Abstrakt. Sie hat ein Atelier in Kentish Town, in der alten Klavierfabrik. Und eine Galerie in Fitzrovia, von der ich schon mal gehört habe, macht eine Ausstellung. »Wollen Sie nicht zur Eröffnung kommen?«, fragt sie fast schüchtern. »Hätten Sie Lust?«

Ich sage ja, gern, und das stimmt. Ich sage nicht, dass es nicht klappen wird. »Ich freue mich drauf«, sage ich. Und weil ich mir so sehr wünsche, dass sie mich in einem ganz anderen Kontext sieht, rede ich weiter: »Ausstellungseröffnungen! Das ist mein Ding. Über so was habe ich oft berichtet, als ich beim Fernsehen gearbeitet habe.« Und während ich noch spreche, fühle ich brennend heiß die Scham in mir aufsteigen, so als rühmte ich mich einer intimen Freundschaft mit irgendeiner viel bewunderten prominenten Persönlichkeit, der ich vor langer Zeit mal zufällig begegnet bin. So als wollte ich mich mit fremden Federn schmücken. Mein Gott, wie erbärmlich das klingt, denke ich.

»Ich schicke Ihnen eine Einladung«, sagt sie. »Ich würde mich freuen, wenn Sie kämen.«

Vom Garten dringen beunruhigende Geräusche herein: Christopher haut mit einem Stock in die Hecke, um die Katzen zu erschrecken. Ich gehe hinaus und sage ihm, er soll damit aufhören. Sie trinkt ihren Tee aus und sieht sich nach ihrer Tasche um. »Ich muss jetzt gehen. Sophie hat Besuch, und ich habe versprochen, Paella zu machen. Ach, jetzt hätte ich das Wichtigste beinahe vergessen.« Sie langt in ihre Tasche, holt die Geldbörse heraus und schiebt sie über den Tisch. Ein peinlich geschmackloses Ding aus bunt gemustertem Segeltuch, vollgestopft mit Quittungen und Treuerabattkarten.

Ich begleite sie zur Tür. Es ist früher Abend, der Himmel wolkenlos und voller Verheißung, auf der Straße Leute, die von der Arbeit kommen und sich auf ein Bier in einer Gartenwirtschaft freuen, wo man zwischen duftenden Jasminbüschen sitzt, oder auf eine Tennispartie im Park.

Christopher ruft nach mir. Hat er sich wehgetan? Man kann am Ton der Stimme oft nicht hören, ob ihm wirklich etwas fehlt oder ob er nur schlechte Laune hat. Ich stehe im Flur zwischen Schuhen und Mänteln, herumliegendem Spielzeug und Versandhauskatalogen, die ich längst hätte wegwerfen sollen, und lausche. Unter dem Heizkörper liegt ein zerbröselter Keks, und als ich mich danach bücke, finde ich auch noch eine einzelne rote Socke mit Robotern drauf. Sie fühlt sich sonderbar hart und schwer an: Innendrin stecken ein Kiesel, ein paar Legosteine und ein ringförmiges Stück Dörrapfel.

Wenn sie es nicht vergisst, denke ich, gehe ich hin.

NINA

Am Ende ist es geradezu lächerlich einfach. Ich komme vom Joggen, da sehe ich sie: Sie betritt gerade das Gemüsegeschäft, manövriert den sperrigen Riesenbuggy zwischen sonnengelben Gerberablüten und Steigen mit auf Stroh gebetteten Avocados und Pflaumen hindurch und steht, vom Ladeninhaber mit nachsichtigem Lächeln beobachtet, anderen Leuten im Weg, während sie Christopher für rote oder weiße Trauben zu interessieren versucht. Ein älterer Herr muss über die Tomaten »historischer Landsorten« – lieber Gott, was für ein Ausdruck! – steigen, um zur Kasse zu gelangen.

Kann sie den kleinen Schreihals nicht mal für eine halbe Minute draußen parken? Als ob den irgendjemand stehlen wollte. Was könnte denn schon Schlimmes passieren? Aber diese Frauen leben in ständiger Angst. Das kann ich nicht verantworten, sagen sie. Sie sind zerfressen von Sorge. Die Welt ist voller Gefahren. Konservierungsmittel, Zusatzstoffe, UV-Strahlen. Wie sie das nur aushalten!

Ich warte unter der Markise vor Kisten mit gelbem und rotem Obst, studiere die Auslage der Buchhandlung nebenan, während sie ihren Kopfsalat bezahlt. Dann bugsiert sie ihren Kinderwagen wieder aus dem Laden, wobei sie eine Steige mit Kirschen streift, die gefährlich ins Wackeln gerät. Das Ungetüm holpert endlich über die Stufe auf den Gehweg, da fällt etwas heraus: Christophers Schuh, eine kleine weiche Stoffsandale. Sie beugt sich hinunter, und als ich mich an ihr vorbeiquetsche, um im Laden meinen Apfel zu bezahlen, tauchen meine Finger flink in ihre weit offen stehende Handtasche.

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagt der Gemüsehändler und setzt eine Kiste mit Zitronen ab. Ich verstehe, was er eigentlich meint: Tut mir leid, aber diese dumme Kuh merkt einfach nicht, dass sie anderen Menschen im Weg ist. Draußen hebt sie gerade Christopher hoch zum Briefkasten, und er steckt einen Umschlag durch den Schlitz. Ich sehe, wie sie das Gesicht verzieht, weil sein Gewicht gegen ihren Bauch drückt, und sein aufgeregtes Gezappel macht ihr die Sache nicht leichter.

»Das ist schon in Ordnung«, sage ich und lege die Münzen hin, ihre Geldbörse sicher unter den Arm geklemmt.

Zu Hause breite ich den Inhalt auf dem Küchentisch aus und schaue mir an, was er mir über sie verrät. Sie heißt jetzt Emma Nash und wohnt in der Carmody Street, einem Sträßchen mit kleinen Arbeiterhäusern zwischen dem Park und der Hauptstraße. Die üblichen Kreditkarten, Bibliotheksausweis, Rabattsammelkarten. Quittungen: Biomilch von M ‌& ‌S, Mehl und isländische Haferflocken. Ein Rezept für ein Hühnchencurry aus der Beilage des Guardian. Ein grünes Formblatt mit den krakeligen Initialen eines Allgemeinmediziners, der ihr ein leichtes Antidepressivum verschrieben hat. Hinter einem Heftchen mit Briefmarken ein etwas abgewetztes kleines Foto von einem Mann, dem Ehemann: Mr Nash steht, an ein Fahrrad gelehnt, auf einer Landstraße und lächelt in die Sonne. Nicht unattraktiv, finde ich.

Ich dusche, und dann rufe ich an.

»Spreche ich mit Emma Nash? Ich habe Ihre Geldbörse gefunden, die Sie auf der Hauptstraße verloren haben.«

Sie schnappt ein bisschen erschrocken nach Luft. Ich habe ihr das Leben gerettet, es wird immer schlimmer mit ihrer Schussligkeit, sie würde ihren Kopf verlieren, wenn er nicht angewachsen wäre, und so weiter.

»Es ist nicht so schlimm«, sage ich.

Sie ist so erleichtert. Sie fragt, ob ich in der Gegend wohne, sie könnte bei mir vorbeikommen, sobald ihr Sohn gegessen hat.

»Ach, das ist nicht nötig«, sage ich schnell. »Ich bringe sie Ihnen, das macht mir gar nichts aus.« Ich bin nicht mehr nervös. Ich möchte zu ihr ins Haus. Ich möchte sehen, wie sie lebt.

Und ich stelle mir vor, dass sie auf ihrem eigenen Territorium noch stärker verunsichert und abgelenkt sein wird, weswegen die Gefahr, dass sie mich wiedererkennt, noch geringer sein wird, als sie ohnehin schon ist. Trotzdem, ich habe meinen Text parat, falls alle Stricke reißen. »Ich wohne in Pakenham Gardens«, sage ich. »Es ist nur ein Katzensprung. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.«

Ich stecke alles wieder zurück in die Geldbörse und mache mich auf den Weg. Es ist ein wunderschöner Abend. Monica Prewitt ist in ihrem Vorgarten gerade dabei, den verblühten Lavendel abzuschneiden, und der Duft weht über die Straße. In Nummer 34 übt jemand bei offenem Fenster Chopin, immer wieder dieselbe Passage, eine hübsche, leicht melancholische Melodie, und bleibt immer wieder an derselben Stelle hängen. Das Pflaster ist warm und von Sonnenlicht gesprenkelt.

Als ich zur Carmody Street komme, gehe ich langsamer. Die Häuser hier sind fast alle zwei- und nur wenige dreigeschossig, die Fassaden eher schmal und schlicht. Die Vorgärten, die diesen Namen kaum verdienen, wirken eingezwängt. Die Straße ist noch nicht ganz gentrifiziert, an manchen Fenstern hängen Netzgardinen. Ein Haus hat eine Waschbetonfassade, hie und da gibt es Doppelverglasungen. Einige hässlich schwindsüchtige Kletterrosen. Man hört den Verkehrslärm von der Hauptstraße her im Takt der Ampelschaltung an der Kreuzung tosen.

Emmas Haus ist irgendwas in der Mitte zwischen aufgehübscht und verlottert. Auf der Eingangsstufe steht ein Lorbeerbäumchen, und die Tür ist taubenblau gestrichen, die Farbe ist an einigen Stellen allerdings schon abgestoßen. Ein paar Lamellen der schicken Fensterläden sind zerbrochen oder hängen schief, was an ein schlechtes Gebiss denken lässt. Reiß dich zusammen, denke ich, öffne das Gartentürchen und gehe den kurzen Weg zum Haus. Jetzt ist es so weit. Also los.

Vor der Tür schlucke ich und merke, dass meine Kehle ganz ausgedörrt ist. Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare, die noch ein bisschen feucht sind vom Duschen. Dann drücke ich auf den Klingelknopf.

Da steht sie nun vor mir, lächelt abwesend, schaut immer wieder über die Schulter nach hinten – in der ängstlichen Erwartung, dass die Bombe losgehen könnte –, während sie wild drauflosredet: »Wie idiotisch von mir« und »Ich komme mir so doof vor« und »Es ist wirklich rasend nett von Ihnen«.

Aus der Nähe ist sie überwältigend, diese goldene Ausstrahlung, die sie hat, trotz Hausfrauendasein, Schwangerschaft und jener Erschöpfung, die für Mütter von Kleinkindern typisch ist. So imponierend groß und gesund und stark und tüchtig. Ich sehe die dunklen Haarwurzeln und die weiße Stelle an der Schläfe, wo sie sich mit einer mehligen Hand ungeduldig eine Strähne aus dem Gesicht gestrichen hat. Auf ihren Jeans ist ein Ketchupfleck, von ihrer Schulter hängt ein Küchentuch. Sie ist immer noch schön.

»Nina Bremner«, sage ich, und wir schütteln einander die Hände.

»Ich bin Emma. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken … Sie haben mir das Leben gerettet.«

Das ist nicht der Rede wert, sage ich, und dann öffne ich meine Tasche und schaue hinein. Die Geldbörse ist da, natürlich, unter meiner Strickjacke, aber ich lasse sie dort und gebe vage besorgte Geräusche von mir – Oh, lieber Himmel, irgendwo hier muss sie doch sein –, weil ich will, dass sie mich ins Haus bittet. »Sie lag auf dem Bürgersteig bei dem Briefkasten«, sage ich und krame hektisch in der Tasche. »Vor dem Gemüseladen.«

»Ah ja – ich musste einen Brief einwerfen. Mein Gott, es wird immer schlimmer mit mir. Manchmal denke ich wirklich, ich hab nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

Ich lächle und blicke auf ihren Bauch. »Na ja, immerhin haben Sie eine gute Entschuldigung. Wann ist es denn so weit?«

November, sagt sie. Als ich erwähne, wie alt Sophie ist, meint sie, ich müsse bei meiner Hochzeit selbst noch ein Kind gewesen sein. Diese Bemerkung ruft mir wieder in Erinnerung, wie impulsgesteuert sie auch damals schon war. Sie kann eine Gelegenheit, ihren Charme spielen zu lassen, nicht ungenutzt lassen, auch wenn sie es mit einem wildfremden Menschen zu tun hat, sie hat es nicht unter Kontrolle. Ein Charakterfehler, wie ich heute weiß.

Aus dem Dunkel des Hauses hinter ihr dringt Gepolter. Der Kleine scheint mit Sachen zu werfen, oder vielleicht ist er hingefallen. Er ruft nach ihr. Nervös blickt sie sich um.

»Entschuldigen Sie«, sage ich und fange wieder zu kramen an. »Sie muss irgendwo hier sein …«

Und jetzt fragt sie endlich, ob ich nicht auf eine Tasse Tee hereinkommen will.

Ja.

Es ist alles weitgehend so, wie ich es erwartet habe. Weiß gestrichener Flur, verschrammte Randleisten, lasierter Dielenboden, der Buggy, Gummistiefelchen mit putzigen Krabbelkäfern drauf, ein Steckenpferd im Schirmständer. Ein Packen ungeöffneter Post auf dem Heizkörper. Über dem goldgerahmten Spiegel hängt an einer Schnur ein hölzernes Herz. Eine Porzellanschale mit Muscheln und Schlüsseln. Ein Häufchen jener roten Gummiringe, die Postboten bei ihrer Arbeit benutzen und überall auf den Gehwegen verstreuen. All die kleinen Dinge, die von individuellen Vorlieben und Eigenheiten zeugen, die sagen: Das sind wir. Wir und niemand anderes.

Wenn man von dem herrschenden Chaos und den ungespülten Töpfen absieht, ist die Küche in ihrer unscheinbaren Art recht nett: hellblaue Fronten, eine Lampe mit Emailschirm über dem Holztisch, eine Lichterkette über einem Angie-Lewin-Poster mit Pflanzenstängeln und Samenkapseln. Die Tür zu dem kleinen Garten steht offen. Sonnenlicht auf struppigem Gras, eine umgekippte Gießkanne, ein gelber Gartenschlauch. Auch ein paar Tomatenpflanzen sind da.

Der Junge hat die Reste seines Abendessens über den Fußboden verstreut. Er sieht seine Mutter mit einem Ausdruck tiefer Befriedigung an, als hätte er eine gerechte Strafe vollstreckt. »Oh, du –«, höre ich sie murmeln, und dann hastet sie zur Spüle und lässt heißes Wasser über einen Putzlappen laufen. Während sie den Tisch und den Fußboden sauber macht, setze ich Teewasser auf und räume das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Christopher sieht mir ohne Neugier zu. »Wie heißt du?«, frage ich und zerzause ihm gespielt freundlich das Haar. Es freut mich zu spüren, wie er sich unter meiner Hand windet, weil ihm die Berührung unangenehm ist. »Oh, was für ein Schätzchen! In diesem Alter sind sie wirklich zum Knutschen.«

Wir reden darüber, wie lange sie schon hier wohnen. Halb schämt sie sich, halb ist sie stolz auf das Haus mitsamt dem ganzen Krimskrams, mit dem es angefüllt ist: den rosa und pistaziengrünen Emailtöpfchen, die an Haken hängen, dem angeschlagenen Henkelkrug mit Bartnelken auf dem Fenstersims, den mit Fingerfarben geschmierten Bildern, die, festgehalten von Magneten (Kronen, bunte Bälle, italienische Miniaturbierdosen), am Kühlschrank hängen. Ihr ist bewusst, dass all diese Gegenstände von ihr erzählen.

Christopher wird aus seinem Stuhl gehoben und geht hinaus in die Sonne, während ich das kochende Wasser in die Tassen gieße.

»Entschuldigen Sie dieses Chaos«, sagt sie, »irgendwie schaffe ich es einfach nicht, die Dinge auf die Reihe zu bringen.«

Ich sage etwas in der Art, dass ich weiß, wie das ist.

»Ich hätte nie gedacht, wie viel Dreck und Mühe es macht, einfach bloß zu leben.« Sie lacht gezwungen. Dann zählt sie in einem Ton, als könnte sie es selbst nicht recht glauben, als wäre es nur ein Witz, all die lästigen Tätigkeiten einzeln auf, die sie verrichten muss, um ihrem Kind Essen zu machen und es ihm aufzutischen und hinterher alles wieder sauber zu kriegen. »Ein Stein fällt ins Wasser, und tausend gottverdammte Wellen laufen über den ganzen See.«

Sie jammert noch eine kleine Weile so weiter, dann verstummt sie plötzlich und presst die Lippen zusammen, als ob sie ihre Redseligkeit bereuen würde. Ihre Wangen haben Farbe bekommen bei dem aufregenden Erlebnis, endlich einmal auszusprechen, was sie wirklich fühlt. Vielleicht ist es aber auch die Schamröte, die ihr ins Gesicht steigt. Ich sehe ihr zu, wie sie den Putzlappen über der Spüle auswringt und zum Trocknen über den Wasserhahn hängt. In ihrem Mienenspiel ist jetzt etwas, das ich nicht recht deuten kann; es macht mir Angst. Kann es sein, dass ihr irgendwo in einem Winkel ihres Gedächtnisses doch etwas dämmert? Aber dann hellt ihr Gesicht sich auf, und ich weiß, dass keine Gefahr besteht. Sie wird sich nicht erinnern. Schließlich hatte es für sie gar keine Bedeutung.

»Setzen Sie sich hin«, sage ich. »Trinken Sie Ihren Tee.«

Sie nimmt Platz, und wir reden über unverfängliche Dinge, ihren Urlaub in Italien, über Sophie, über meine Malerei. Als ich die Vernissage erwähne, merke ich, was für einen exotischen Reiz so eine Veranstaltung mit geladenen Gästen für sie hat, und ich sage zu ihr, sie soll doch auch kommen, wenn sie Lust hat. Aber aus der Art, wie sie darauf reagiert, wird mir sofort klar, dass es besser ist, die Sache im Sand verlaufen zu lassen. Halt dich zurück. Erst mal in Ruhe zusehen.

Vielleicht, weil sie spürt, dass ich mich etwas zurückgezogen habe, lässt sie sich hinreißen und erwähnt, dass sie früher beim Fernsehen gearbeitet hat. Das alles hier täuscht, signalisiert sie. In Wirklichkeit bin ich etwas Besseres. Dann steht sie vor Anstrengung leise stöhnend auf und geht hinaus, um Christopher zur Ordnung zu rufen, der mit einem Stock auf die Hecke eindrischt. Derweil spüle ich meine Tasse über dem Ausguss aus, trete vor den Kühlschrank und erlaube mir einen kleinen Spaß: Ich arrangiere die magnetischen Plastikbuchstaben dort zu einem Wort, das nur für mich Sinn ergibt. Als Emma zurückkommt, händige ich die Geldbörse aus, verabschiede mich, nicht ohne das Versprechen, ihr bei nächster Gelegenheit eine Einladung in den Briefkasten zu stecken, und während ich hinausspaziere in den blütenduftenden Abend, frage ich mich, ob sie oder Ben es bemerken wird, dass die orangen, blauen und gelben Buchstaben als b-a-d-p-e-n-n-y zu lesen sind.