Cover

Vanessa Giese

Da gewöhnze dich dran

Wie ich mein Herz an den Pott verlor

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Vanessa Giese

Vanessa Giese, geboren 1978 und sozialisiert im Sauerland, hat während des Studiums zunächst das Rheinland kennengelernt, im Anschluss aber ihr Herz an das Ruhrgebiet verloren. Erst wohnte sie sechs Jahre in Essen, 2010 zog sie nach Dortmund. Sie arbeitet als Projektredakteurin und bloggt seit 2006 als «Frau Nessy».

Über dieses Buch

Nach der Trennung von ihrem Freund benötigt Nessy dringend einen Tapetenwechsel. Am liebsten würde sie nach Hamburg ziehen, zur Not nach München. Doch es wird Dortmund, das Fußballstadion der Republik. Mit offenem Herzen und viel Humor erzählt sie vom Ankommen im Ruhrgebiet, von seinen vielen Gegensätzen, vom Strukturwandel und der Alltagskultur, vor allem aber von den Menschen, denen sie in der Nachbarschaft, auf der Arbeit und im Handballverein begegnet und die ihr das Ankommen leicht machen. Nach einem turbulenten Jahr hat sie ihr Herz schließlich nicht nur wieder an einen Mann, sondern auch an ihre neue Heimat verloren.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München (Fotonachweis: © Thorsten Wulff)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-62188-8 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-48961-5

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-48961-5

Tach!

Als ich oben ankomme, bin ich außer Atem. Herr Böhm auch.

Mit beherztem Schwung schließt er die Wohnungstür zu «2 Zimmer, Küche, Bad, 45 qm» auf und schnauft: «Dat is dann die Wohnung. Mit Küche, wie inne Beschreibung drinnesteht. Kabelfernsehen hamwa. Warmwasser is mit Gass. Heizung is Nachtspeicher, abba gewöhnze dich dran.» Er saugt rasselnd Luft ein.

Der Aufstieg war beschwerlich, das Treppenhaus muffig: Rauputz, braun gesprenkelte Stufen, der träge Duft von köchelndem Kohl kriecht durch die Etagen. Im zweiten Stock: ein Drachenbaum, der sich schwermütig gegen den Putz lehnt, die Blätter braun, die Blumenerde weiß. Im dritten Stock: eine Fußmatte mit dem Aufdruck «Woanders is auch scheiße». Durch Glasbausteine sickert trübes Junilicht. Ein Riss zieht sich durch die Wand, notdürftig zugespachtelt mit Gips.

Hier oben, in der vierten Etage, gibt es nur zwei Türen: An der rechten hängt ein Kranz aus Plastikblumen, lila und rosa, zerrupft und staubbedeckt. In seiner Mitte baumelt ein Holzherz mit der Inschrift «Hier wohnen Gabi und Rainer». Die Tür gegenüber hat Herr Böhm soeben aufgeschlossen, sie ist undekoriert, das Klingelschild abgeknibbelt.

Ich trete in einen Flur mit hellem Laminat. Es riecht nach Staub und kalter Heizung. Links und rechts des Eingangs geht jeweils ein Zimmer ab, die Türen stehen offen. Geradeaus ist das Bad, eine fensterlose Höhle in Brauntönen, mit Duschvorhang und einem plattgetretenen Vorleger in Muschelform.

«Geh ruhich durch», sagt Herr Böhm. Er hat aufgehört zu schnaufen, transpiriert nun heißen Dampf. «Guck dir allet an», sagt er und wischt sich Schweiß von seiner hohen, faltigen Stirn. «Dat ist ’ne Wohnung wie gemacht für ’ne junge Frau wie dich.»

Ich lehne mich gegen den Türrahmen zum Bad und beuge mich leicht hinein. Der Toilettensitz ist durchsichtig mit eingearbeiteten beigen Muscheln, am Spiegel über dem Waschbecken klebt eine Window-Color-Muschel; Muscheln sind das beherrschende Thema des Raums. Ein ringförmiger goldener Handtuchhalter, an dem sich, wären wir bei Derrick, jede Unternehmergattin sofort reflexhaft erhängt hätte, ziert verwaist die Wand neben der Badewanne.

«Is nich mehr dat Neuste, aber is noch top in Schuss», sagt Böhm, als könne er meine Gedanken lesen. «Die Toilettenschüssel und die Brille sind frisch ausm Baumarkt. Damit du nich auf watt sitzen musst, wo schon andere vor dir …» – er schwingt seinen angewinkelten Arm durch die Luft und tut so, als blase er Tuba. In seinem Ensemble aus Cordhose, Hemd und Hosenträgern und mit seinen grauen, leicht angeschwitzten Haaren bedient er auf beeindruckende Weise meine Vorstellung eines Fensterrentners.

Rechts vom Bad geht es ins Schlafzimmer. Unter einer Dachschräge schmiegen sich Einbauschränke an die Wand. Es ist Platz für ein Bett und eine Kommode. «Dat is dat Schlafzimmer», sagt Böhm unnötigerweise, «darf ich mal?» Er zwängt sich an mir vorbei durch den Türrahmen, geht zu dem Velux-Fenster über den Einbauschränken und öffnet es. «Von hier aus kannze über den ganzen Dortmunder Süden bis nach Schwerte gucken. Und da hinten», er deutet mit dem Arm über die Fensterbrüstung, «kommt bald ’n See hin. Dann fühlste dich hier wie anne Coppa Cabana.»

Ich trete näher, sehe allerdings nichts als Häuserdächer. «Da kommt ein See hin?», frage ich mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. Denn ob nun mit oder ohne See: Ruhrgebiet bleibt Ruhrgebiet, die Binnenalster ist woanders.

«Jawoll», sagt Böhm und wischt sich mit einem großen Stofftaschentuch kleine Schweißperlen von der Stirn. «Dat war mal die Herrmannshütte. Hoesch – bis vor ’n paar Jahren. Dann ist der Chinese gekommen, hat unsern Hochofen abgebaut, und getz wird ’n Loch gegraben und Wasser reingelassen. Von wegen Naherholung und so. Aber baden darfze nich, dat steht schon fest, nur gucken und flanieren. Wie Graf Koks. Wegen Schwermetalle. Die ham dat zwar allet ausgebaggert, aber so tief konntense gar nich graben, als dat se dat allet auße Erde gekricht hätten.»

Ein Quecksilbersee also, wie schön. Quecksilbersee ist vielleicht wie Silbersee, und im Silbersee liegt ein Schatz. Herr Böhm sieht mir verschwörerisch in die Augen. «Andere ham ja wegen dem See schon die Miete erhöht. Weil hier getz allet ganz schnieke wird. Aber ich bin ’n Ehrlichen. Ich weiß, wie kleine Leute malochen müssen, damit se ’n Dach überm Kopp haben. Von mir hasse nix zu befürchten.»

Ich lächle und murmle: «Danke, das ist sehr freundlich», blicke noch einmal auf Zehenspitzen aus dem Fenster und über die Dächer von Dortmund hinweg. In kleinen Quadraten reihen sich Mehrfamilienhäuser aneinander, mit Balkonen, ohne Balkone, in Hellbraun, Dunkelbraun und verblichenem Schwarz. In der Nachbarschaft kräht ein Hahn.

«Dat is dat Viech vom Günther vonne Ecke. Der hat ’n Hühnerstall im Gatten. Is abba ’n ganz Friedlichen. Der Hahn, meine ich. Der Günther auch. Wird nur laut, wenn seine Weiber abgängich sind.»

«Der Hahn?»

«Günther.»

Das kenne ich aus dem Sauerland. Das Hühnergegackere, meine ich. Das andere auch.

Ich wende mich um und gehe zurück in die Diele, am Bad vorbei in den dritten Raum. Es ist ein geräumiges Wohnzimmer mit offener Küche und einem Balkon, der zur Straße hinausgeht. Herr Böhm folgt mir schnaufend.

«Küche kannze haben», sagt er und deutet auf eine Zeile rechts neben der Tür, «ohne Abstand odda sonstige Zahlungen. Is von Werner. Der musste Hals über Kopp hier raus, frach mich nich, der hatte irgendwas anne Hacken. Is schon watt älter, die Küche, aber er hatse mir umsonst drinne gelassen, also krichst duse auch für umme.»

Die Küche sieht gut aus, ein bisschen verlebt, aber noch in Schuss. «Das trifft sich gut», sage ich. Pro forma drehe ich an den Knöpfen des Herds, schließlich kann man nie sicher sein, was einem angedreht wird, außerdem sieht es kundig aus.

«Ich weiß ja, wie et is mit euch junge Leute», setzt Böhm seinen Gedanken fort, «keine Kohle auf Tasche – da is man froh über allet, wat man kriegen kann. Bisse berufstätich?»

«Ich arbeite demnächst hier in Dortmund», sage ich. «Ab 1. Juli. Deswegen muss ich auch umziehen.»

«Bisse am Computer?», fragt er.

«Ich mache Sachen fürs Internet», sage ich.

«Die 300 Euro für Miete kannze also aufbringen, ja?» Er räuspert sich kurz. «Ich mein, is nich gegen dich. Is nur, weil: Ich muss meine Futt auch am Kacken halten. Wennde nur so Gelegenheitsjobs hass, komm wa nich ins Geschäft.»

«Nee, nee», sage ich. «Ist eine Festanstellung.»

Er nickt zufrieden. Ich trete vom Wohnzimmer aus auf den Balkon und blicke auf die Straße vor dem Haus. Die Sonne schiebt sich über die Dächer. Es ist früher Morgen. Links von mir, hinter zahllosen Dächern, glitzert ein großer grüner Gasometer mit der Aufschrift «Hoesch». In der Ferne sehe ich Stahlgerippe und Schrebergärten. Ich stehe eine Weile unschlüssig da, dann drehe ich mich zu Böhm herum, der hinter mir in der Balkontür steht, lehne mich mit dem Hintern gegen die Brüstung und frage: «Wie ist denn die Umgebung so?»

«Astreine Lage», sagt er hastig, als hätte er Angst, dass ich ihm noch abspringen könnte. «Hasse direkt dat Büdchen nebendran, für wenn ma wat is.» Er deutet mit dem Kinn auf die Straße und klemmt seine Daumen hinter die Hosenträger. «Ansonsten: Wennze da die Straße runtergehs», er neigt den Kopf nach rechts, «hasse ’n Netto. Und wennze die andere Richtung gehs», Kopf nach links, «hasse die U-Bahn.»

«Und die Leute?», frage ich. Der Stadtteil sieht mir nicht gerade nach einem In-Viertel aus.

«Bombe», sagt Böhm.

«Wie, Bombe?»

«Na, Bombe eben. Klasse Typen. So wie ich.» Er zieht die Hosenträger lang und sieht mich eine Zeitlang an. Dann verschränkt er die Arme vor der Brust, verlagert sein Gewicht auf ein Bein und meint: «Mädken, ich sach dir getz ma watt. Wennde so watt wie ’n Prenzlauer Berg haben willz, mit Kneipen und Jugendstil und Weibern, die ihre Kinder in so ’ne schadstoffarme Baumwolltücher durche Gegend tragen, dann ziehße besser ins Kreuzviertel. Da kannze jeden Abend unter so ’ne 60er-Jahre-Lampen anne Theke hängen und schnieke Cocktails trinken. Wennde aber watt Ehrliches suchs, watt, wo die Leute sich noch guten Tach sagen, weil et sich so gehört, und nich, weil einer vom andern watt will, dann ziehße hier nach Hörde.» Er atmet tief durch, so als hätte ihn seine Rede erschöpft. «Ob du’s glaubs oder nich, ich war letzten Monat in Berlin, mit Kolping. Kolpingfamilie kennze, odda? Meine Täubin, weiße, meine Frau, die hat da früher mitgemacht, hat Altkleider gesammelt, für Waisenkinder und diese armen Hümpsken, die nur einen Arm ham, weil se mitte Extremität unter de Presse gekommen sind. Die ganzen Pullover, die die Leute gegeben ham, hatse dammals selbst umgenäht, et gab Tage, da lagen bei uns auf’m Soffa fünf rechte Arme rum, konnteße dir fast ’n neuen Pulli draus nähen, wenn nich die Mitte gefehlt hätte. Heute läuft dat mit den Altkleidern ja allet über so ’ne Container, heute braucht niemand mehr mit’m Bollerwagen rumgehen. Wat wollt ich erzählen? Ach, Berlin. Als ich auf diesem Prenzlauer Berg stand, wat da getz so in is, da hab ich zum Führer gesacht: Hier brauchen wa nich halten. Dat kenn ich allet schon. Dat is Dortmund-Kreuzstraße hier.»

Die Berliner machen also die Dortmunder nach. Ich möchte gerade einwenden, dass es vielleicht umgekehrt ist, als in der Nachbarwohnung ein Hund bellt. Er bellt sehr laut, sehr wütend und sehr ausdauernd. Ich höre, wie eine Frauenstimme ihn beruhigen möchte, doch ohne Erfolg.

«Dat is der Köter von dem Freund vonne Gabi», erklärt Böhm, als ahne er, dass ich ihn auf den Kläffer ansprechen möchte. «Gewöhnze dich dran. Der Rainer is auch nich jeden Tach da. Der wohnt nich hier. Der kommt von Mengede.»

Ich erinnere mich an den Türkranz mit dem hölzernen Herzen, auf dem stand: «Hier wohnen Gabi und Rainer», und bin mir nicht so sicher, ob Rainer wirklich nur zu Besuch kommt. «Und wer wohnt hier sonst noch?», frage ich.

«In Parterre», sagt Herr Böhm und stemmt seine großen Treckerhände in seine Taille, «sind zwei Rentner. Der Alte macht so ’n bissken auf Hausmeister. Sonst nur Alleinstehende. Allet anständige Leute.»

Ich blicke noch einmal über den Stadtteil. Von hier oben sieht er genauso aus, wie ich mir das Ruhrgebiet vorstelle: Mehrfamilienhäuser, ein paar Arbeiterhäuschen, Schrebergärten, verrostende Hochöfen. Schräg gegenüber befindet sich im Erdgeschoss eines Hauses ein Kiosk, vor dem drei Männer, einer von ihnen mit schwarz-gelbem Schal, Bier trinken. Eine Oma zieht ihren Hackenporsche nach Hause. Das Klischee vom Pott hätte sich in diesem Moment nicht stilsicherer präsentieren können.

«Wennde willz», sagt Herr Böhm hinter mir, «kannze die Wohnung sofort haben. Ratzfatz machen wa ’n Vertrach fettich, dat geht rubbeldikatz. Wegen mir kannze nächste Woche hier rein. Bist mir sympathisch.»

Es ist Mitte Juni. In zweieinhalb Wochen beginnt mein neuer Job, bis dahin muss ich umgezogen sein. Ich habe es also ein bisschen eilig. Allerdings ist es nicht so, als gäbe es hier nicht ausreichend Wohnraum. Im Gegenteil: Dies ist die fünfte Wohnung, die ich innerhalb von zwei Tagen besichtige. Vier davon hätte ich haben können, doch die erste war zu klein. Die zweite lag im Souterrain – egal, aus welchem Fenster ich blickte, ich sah nie mehr als die Grasnarbe. Die dritte befand sich nahe einer Hauptverkehrsstraße in der Nordstadt, einem Viertel nördlich des Bahnhofs, das, wie Stadtplaner sagen, «besonderen Entwicklungsbedarf» hat. Die Brandruine gegenüber der Wohnung war jedoch seit Jahren nicht entwickelt worden. Die vierte Wohnung hatte nicht nur ein braunes Bad, sondern auch eine orange Küche, beides ohne Fenster, das Schlafzimmer war ein Durchgangszimmer, und der Balkon, ein eineinhalb Quadratmeter großes bemoostes Plätzchen unter einer halbtoten Kastanie, ging nach Norden. Dies ist die erste Wohnung, die in Ordnung ist. Nein, nicht nur in Ordnung. Ich mag sie. Ich mag das Viertel. Und ich mag Herrn Böhm.

«Okay», sage ich und drehe mich zu ihm um, «gebongt.»

Wir reichen uns die Hand.

«Gut. Freut mich. Bist ’n feines Mädken. Ich schick dir dann den Vertrach nach Hause. Kaution is zwei Kaltmieten. Wir machen dann so ’n Konto bei de Spasskasse, dann sind wa im Geschäft.»

 

Ich wollte nicht immer ins Ruhrgebiet ziehen. Eigentlich wollte ich nie ins Ruhrgebiet ziehen. Ich hätte gerne in Bayern gewohnt, weil es in Bayern ein bisschen wie im Sauerland ist, meiner Heimat: Kühe auf Wiesen, Trecker auf Landstraßen – überhaupt: viele, sehr viele Landstraßen –, der latente Duft frischer Gülle, stämmige Bauern, die mit Inbrunst die Union wählen und eine beinahe intime Beziehung zu Bier pflegen, dazu der Hang zu einem mit gebührender Ironie gelebten Katholizismus. Aber ich bin im Ruhrgebiet gelandet.

Im Ruhrgebiet ist man entweder geboren, oder das Leben führt einen dorthin. Niemand hegt auf dem Grund seiner Seele eine tiefe Sehnsucht, im Ruhrgebiet zu leben, so wie man sich ein Haus hinterm Deich wünscht, weißgetüncht und von windgebeugten Bäumen umsäumt. Oder wie man von einer Surfschule am Palmenstrand oder von einer Altbauwohnung mit knarrenden Dielen und hohen Decken träumt, mit efeuberanktem Hinterhof und der freudvollen Wärme eines Künstlerviertels.

Wer zugeben muss, dass er im dritten Stock eines Mietshauses in Essen-Steele wohnt, der kommt beim Klassentreffen in Rechtfertigungsnot, und auch innerfamiliär werden Zweifel gehegt: Bei jedem Kaffeekränzchen muss sich der Zugezogene von sorgenvoll umwölkten Mienen fragen lassen, wie es ihm dort ergeht, wo er jetzt zu leben gezwungen ist, ob sich bereits gesundheitlich Beeinträchtigungen eingestellt haben und ob sich inzwischen «etwas Neues» ergeben hat, etwas, das die Möglichkeit eröffnet, der unerquicklichen Situation baldigst zu entfliehen. Denn Ruhrgebiet, das ist das Bitterfeld des Westens, das sind Schmutz und Rost, Autobahnen, Schwerverkehr und Eisenbahntrassen, im besten Fall Industriekultur und von Wiesen gesäumte Kanäle, auf denen Kette rauchende Binnenschiffer Kohle nach Amsterdam fahren.

Es ist nicht so, dass ich meine Heimatstadt hätte verlassen müssen. Ich hatte Arbeit, ich hatte eine Wohnung mit Blick auf Felder, die im Sommer goldgelb leuchteten, ich hatte einen Freund, der mir am Wochenende Brötchen holte und sich baldigst um das Amt des Schützenkönigs beworben hätte. Doch ich habe Schluss gemacht: erst mit dem Freund, dann mit der Arbeit.

Meine Mutter war entsetzt. «Er ist doch ein so netter junger Mann», sagte sie des Sonntags auf dem Sofa und sah mich mit bebender Unterlippe an. Dann begann sie zu weinen. Was denn jetzt werden solle, fragte sie. «Ich dachte, du würdest mich bald zur Oma machen.»

Die Mutter zur Oma, den Freund zum Schützenkönig – danke, nein. Ich sagte ihr, dass ich nicht nur dem Mann, sondern auch meinen Job gekündigt hatte. Sie griff in die Sofaritze, zog das Taschentuch heraus, das sie stets dort hineinstopft, damit es nicht ihre Hosentasche ausbeult, und hielt es sich verschreckt vor den Mund, als sei hinter mir gerade ein entsetzlicher Unfall geschehen. «Was hat das zu bedeuten, Kind?», fragte sie mit der spirituellen Stimme einer 9Live-Wahrsagerin.

Ich antwortete ihr, ich könne nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten, jetzt, wo Schluss sei. Und raus wolle ich auch mal – nicht ewig im Sauerland bleiben.

Mutter heulte noch ein bisschen, schnäuzte sich, heulte weiter und stopfte dann das Taschentuch zurück in die Sofaritze. Ich solle es mir noch einmal überlegen, Daniel nehme mich bestimmt zurück. Er sei doch so ein netter junger Mann.

Ich atmete tief ein und entgegnete, Daniel habe drei Rentenversicherungen, er kämme die Teppichfransen, er habe ein «Bitte im Sitzen pinkeln»-Schild in unseren Klodeckel geklebt.

Sie begann erneut zu weinen. «Aber immerhin ist Dortmund nah bei.»

Hätte ich in Bayern Arbeit gefunden, hätte meine Mutter wohl ihre eigene Buslinie gegründet. Denn auf der inneren Landkarte liebender Eltern liegt Bayern kurz vor Marokko und ist nur zu erreichen, wenn man ausreichend hartgekochte Eier und selbstgerollte Frikadellen einpackt. Bis nach Dortmund reicht ein Leberwurstbrot.

 

Böhm und ich verabschieden uns auf der Straße vor der Haustür. Er steigt in einen blass-silbernen Opel Kadett mit Sitzauflagen aus Holzkugeln. Ein Wunderbaum baumelt am Innenspiegel. Als er den Wagen anlässt, röhrt und wippt der Auspuff unter dem Bodenblech. Gemächlich knatternd fährt er davon.

Ich drehe mich noch einmal zum Haus um und blicke die Fassade hinauf. Kein Altbau, kein Jugendstil. Beides gibt es hier zwar auch, aber nur dort, wo es nicht weggebombt wurde, und weil fast alles im Ruhrgebiet mal weggebombt wurde, sehr selten. Die Fassade ist also einfach glatt und braun. Rund um die Fenster blättern Stücke gelber Farbe ab.

Im Erdgeschoss, einen halben Meter über meinem Kopf, öffnet sich ein Fenster, und ein kleiner, etwas dicklicher Mann mit grauem Haar steckt seinen Kopf hinaus. Der Reißverschluss seiner Joggingjacke ist leicht geöffnet und lässt ein Feinripp-Unterhemd sehen, aus dem weiße Brustbehaarung quillt.

«Tach!», sagt er. «Schmidtchen mein Name. Ich pass hier auf dat Haus auf.»

Ich sage: «Hallo. Ich habe mir grad die Wohnung im Dachgeschoss angesehen.»

«Von Wolfgang die?»

«Die von Herrn Böhm.»

«Sach ich doch, von Wolfgang. Und? Willze einziehen?»

«Zum nächsten Ersten.»

«Wenn dat ma keine gute Nachricht is: demnächst ’ne schöne Blondine als Nachbarin!» Er zwinkert ungelenk mit dem rechten Auge und lächelt dabei schelmisch. Es hat ein bisschen was von Nervenstörung.

Aus dem Dunkel der Wohnung höre ich die Stimme einer Frau: «Wat machße? Bisse am flörtn?» Eine stämmige, leicht gebeugte Oma tritt neben ihn in den Fensterrahmen. «Müssen Se ihm nich übelnehmen», sagt sie zu mir gewandt. «Dat hatta schon als junger Mann nich lassen können. Und Sie wissen ja: Je oller, je doller.»

«Abba gegessen hab ich imma zu Hause.»

«Wenn du et sachst! Ich kann’s nich nachprüfen», entgegnet ihm die Frau, lehnt sich dann an ihm vorbei und streckt mir ihre Hand hinunter auf die Straße. «Schmidtchen», sagt sie, «Lisbeth. Und dat is mein Mann Rudolf.»

Ich nehme die Hand und schüttele sie leicht. «Nessy», sage ich. «Ich wohne demnächst im Dachgeschoss.»

«Ach, beim Wolfgang! Dat freut mich für ihn. So ’ne nette neue Mieterin. Der Werner, der vorher dadrin gewohnt hat, is ja dammals bei Nacht und Nebel verschwunden und hat keine Miete mehr gezahlt. Keiner weiß, wo der getz is. Aber so ganz koscher war der sowieso nie gewesen.»

«Ein paar Wochen später sind seine Tochter und ihr Freund gekommen», ergänzt Schmidtchen, «und haben die Wohnung leer gemacht. Sonst hätte der Wolfgang dat allet bezahlen müssen. Weiß man ja, wat so ’ne Entrümpelung heutzutage kostet. Selbst wenn einer unter de Hand kommt.»

Nein, weiß ich nicht. Ob es gut oder schlecht ist, demnächst so aufmerksame und interessierte Nachbarn zu haben? Einerseits liest man ja immer, dass Leute in ihrer Wohnung sterben und erst Wochen später gefunden werden, wenn sie schon unangenehm riechen. Das wird mir mit dem Ehepaar Schmidtchen unter Garantie nicht passieren. Andererseits …

«Kommst aber nich von hier, odda?», unterbricht Schmidtchen meine Gedanken.

«Aus dem Sauerland», sage ich.

«Sauerland», wiederholt er gedehnt, nickt anerkennend und schiebt dabei seine faltige Unterlippe leicht vor. «Kenn ich. Da war ’n wa auch schomma, ne, Lisbeth? Dammals mit der Busgesellschaft nach Marsberch in dat Sporthotel. Über Pfingsten. Wo der Wolfgang so die Lampe anhatte. Da warn wa noch jung und fidel.»

«Der Wolfgang», mischt sich Lisbeth ein, «dem war da grade die Frau gestorben. Hat er Ihnen dat erzählt? Dat seine Frau an Kräbbs gestorben is?»

«Nein», antworte ich, «hat er nicht erzählt.»

«Tragisch», sagt Schmidtchen. «Kaum war er in Rente, da hamse dat festgestellt. Aber da waret schon zu spät. Da war der Kräbbs schon überall. Sechs Wochen hat dat nur gedauert, da warse tot. Dabei hatten die beiden gerade beschlossen, die Wohnung hier zu verkaufen und sich wat Schönes aufe Kanaren zu leisten, fürs Alter. Die beiden sind doch immer so gerne nach Teneriffa gefahren.»

Ich denke an Herrn Böhm, wie er schnaufend neben mir in der Wohnung steht, in Cordhose und mit ungebügeltem Hemd.

Lisbeth ergänzt: «Eigentlich hat er die Wohnung ja für seine Tochter gekauft.»

Lass sie bitte nicht auch tot sein.

«Aber die», fährt Lisbeth fort, «is inne Usa gezogen.» Sie sagt nicht U-S-A, sie spricht das Wort in einem durch. «Die hat wat mit Biologie studiert, und als sie dammals für ein Jahr da in Michigan war, hatse sich verliebt, und getz wohntse da. Höchstens zweimal im Jahr sieht der Wolfgang die. Dat is auch so ’ne Sache. Da kommt er nich drüber wech. Deshalb hat er Ihnen bestimmt auch die Wohnung gegeben. Seine Tochter is nämlich auch so groß und blond.»

«Abba keine Angst», sagt Schmidtchen. «Der steht getz nich jeden Sonntachmorgen bei dir auffe Matte, der Wolfgang.»

«Halten wir Sie eigentlich auf?», fragt mich Lisbeth. «Sie müssen doch bestimmt noch woandershin.»

«Ach watt», widerspricht Schmidtchen. «Is doch Samstach. Watt sollse groß zu tun haben?»

«Schon okay», sage ich. «Ich wollte mich nur noch ein bisschen in der Gegend umsehen und mir ein Bild von der Nachbarschaft machen.»

Schmidtchen nickt. «Hier hasse allet, wat de brauchs. Apotheke, Netto, und dat Büdchen is auch gleich nebenran.» Er deutet mit seinem rechten Arm die Straße runter.

«Und wenn Sie weiter die Straße runtergehen», ergänzt Lisbeth, «gibt es auch ein kleines Stadtzentrum. Da kriegen Sie alles, was Sie brauchen.» Sie macht eine Pause und lächelt verschämt. «Nun ja, wir bekommen alles, was wir brauchen. Wir sind ja alt. Sie als junger Mensch haben bestimmt andere Ansprüche.»

Ich betone, dass ich keine großen Ansprüche habe, und sage, dass mir ein Bäcker, ein Supermarkt und ein paar Geschäfte genügen.

«Dat ham wa hier allet», sagt Schmidtchen. «Abba nun wolln wa dich nicht länger aufhalten. Wir sehen uns ja sowieso bald jeden Tach.»

Jeden Tag hoffentlich nicht. So konkret ist die Gefahr nun auch nicht, dass ich in meiner Wohnung vergammel.

 

Ich gehe durchs Viertel. Ich bin eine große Umhergeherin.

Umhergeher sind, anders als Spaziergänger, keine Menschen, die sich sagen: «Jetzt aber mal in die Natur! Sich etwas Gutes tun!» Sie ziehen keine wasserfesten Schuhe mit Profilsohle und eine winddichte Outdoorjacke mit herausnehmbarem Innenfleece an und gehen in den Wald. Oder an den Fluss. Oder an sonst einen Ort, der im Verdacht steht, dem gestressten Städter erbauliche Stunden abseits des sinnesüberflutenden Alltags zu bescheren. Umhergehen erfüllt keinen Zweck, nicht den der Erholung und auch nicht den der seelisch-körperlichen Erbauung. Als Umhergeherin wandere ich durch die Gegend und verbringe meine Zeit damit, kein Ziel zu haben, nicht einmal das der Erholung.

Im Urlaub, besonders bei Städtereisen, praktiziere ich diese Form des aktiven Verweilens ausgedehnt und zügellos. Menschen, die planen und ihre Zeit mit etwas Nützlichem verbringen, die gerne zu Hause erzählen, was sie gemacht und erlebt haben, die etwas in den Händen halten möchten, wenn sie wieder heimkehren, treibe ich damit in den Wahnsinn. Ich selbst bin allerdings äußerst zufrieden mit meiner Umhergeherei, bei der ich keine besonderen Orte suche, sondern bei denen ich mich von ihnen entdecken lasse.

Ich folge der Straße in die Richtung, in die Schmidtchen und Lisbeth gedeutet haben. Ich entdecke ein Krankenhaus, eine Eisdiele und den russischen Supermarkt «Gastronom». Außerdem die kleine Änderungsschneiderei Irina, ein Lotto-Geschäft, einen Bäcker, einen Schlüssel-Service und ein Ladengeschäft für «Textilpflege und Heißmangel», geöffnet von morgens um 8 bis mittags um 12 Uhr, nachmittags von 15 bis 18 Uhr, mittwochnachmittags geschlossen. Im Schaufenster stehen Trockenblumen und ein antikes Bügeleisen. Es riecht nach Stärke und Waschmittel.

Ein gebeugtes Mütterchen in einem geblümten Hauskittel schlurft mit einer Einkaufstasche auf mich zu. Als die Frau den Kopf hebt und mich entdeckt, bleibt sie stehen, greift in ihre Tasche, holt mit krummen, arthritischen Händen eine Bild-Zeitung heraus und drückt sie mir in die Hand. «Hier», sagt sie, «habe ich übba! Hat mir zwei gegeben.» Dann zieht sie weiter. Ich blicke ihr nach, wie sie schleppenden Schritts, der Rücken gekrümmt, in Richtung «Gastronom» davongeht.

«Schweinegrippe! Alle Infos! Alle Hintergründe!» steht in der Zeitung. Ich klemme sie mir unter den Arm, gehe weiter, an einem Schuhmacher, einer Kneipe, einem Sanitärfachhandel und einem Geschäft für «Schlesische Wurstwaren und alles aus Polen» vorbei, über eine Brücke, die über Schienen und die zwei Gleise des Bahnhofs «Dortmund-Hörde» führt, und stehe plötzlich inmitten einer Fußgängerzone. Um einen Platz reihen sich eine Bank, eine Kneipe, ein Bäcker und noch eine Kneipe. Ein Zoo-Fachhandel wirbt mit «Kleintierstreu im Presspack, 56 Liter, nur 1,99 Euro!!!» und «Goldfische im Angebot: Kauf 3, zahl 2!!!». In der Mitte des Platzes steht eine riesige Laterne, die sich oben in drei Leuchten teilt. Sie trägt das Wappen des Ortsteils und eine Uhr, die anzeigt, dass es kurz nach zwei ist. Daneben die elektronische Tafel der Stadtbahn: Die U-Bahn nach Lünen-Braumbauer, über Dortmund-Stadtgarten und Dortmund-Hauptbahnhof, fährt in drei Minuten.

Ich beschließe, nach Hause zu fahren. Ich habe genug gesehen. Hier möchte ich in Zukunft leben.

Erbsensuppe für Stan Libuda

Ich bin im Bad, als es an der geöffneten Tür klingelt. Dort steht Schmidtchen in einem blauen Frotteejogger und hält einen großen Topf in der Hand. Hinter ihm winkt Lisbeth schüchtern in meine Richtung. Schmidtchen deutet mit seinem Kinn auf den Suppentopf. «Wir bringen euch ’n bissken watt zu beißen. Wo ihr doch den ganzen Tach am Malochen seid.»

Ich gehe zu ihm und nehme ihm den Topf ab. «Das ist aber nett», sage ich. «Kommen Sie doch rein.» Mit meinem Ellbogen mache ich eine einladende Geste in die Wohnung. Ich stelle den Topf auf dem Herd ab und blicke kurz hinein. Erbsensuppe.

«Hier sieht’s ja aus wie Kraut und Rüben», stellt Schmidtchen fest, stemmt seine kleinen, faltigen Hände in die Seiten seines Joggers und dreht sich einmal im Kreis wie eine übergewichtige Ballerina. «Aber dat is alles nix im Vergleich zu dammals, als wir nachem Kriech zurück in unsere Stuben durften.»

«Jetzt fang nich schon widda mit diese Kriegsgeschichten an», weist Lisbeth ihn zurecht. Sie hat sich mit einer Hand auf der Arbeitsplatte der Küche aufgestützt. «Dat wollen die jungen Leute doch nich hören.»

«Wat denn? Kann man doch erzählen!», fährt Schmidtchen unbeirrt fort. «Dammals war nich ein Stein mehr auffem andern. Dat Fenster inne Küche war mit einem Mal doppelt so groß wie bevor die Bombenangriffe. Und ’n Klo gab et auch nich. Für unsere Notdurft mussten wa innen Hoff – bei Wind und Wetter.»

«Danke jedenfalls für die Erbsensuppe», sage ich, zu Lisbeth gewandt. «Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.»

«Die Suppe hat schon Stan Libuda gegessen», sagt Schmidtchen und deutet mit krummem Zeigefinger auf den Topf, damit auch kein Zweifel besteht, von welcher die Rede ist. «Beim Pokalsieg 66 hat unser Lisbeth ers gekocht und dann ausgeschenkt, und der Stan hat den größten Schlach genommen. Hat zugelangt wie ein Stahlarbeiter.»

«Rudi meint, dass ich seit Jahren dasselbe Rezept habe», sagt sie. «Ist noch von meiner Großmutter. Die Suppe, die dadrin is, is abba frisch. Gestern gekocht.»

«Kennze den noch, Stan Libuda?», fragt Schmidtchen.

Ich schüttele den Kopf.

«68 isser nach Schalke zurückgegangen.»

Mir ist nicht ganz klar, was er mir damit sagen will, aber ich schaue vorsichtshalber ein bisschen betroffen.

«Na ja, sei’s drum. War trotzdem einer von den Guten.» Schmidtchen geht auf den Balkon. Er hat einen Schritt wie John Wayne, nachdem er vom Pferd gestiegen ist. Breitbeinig watschelt er ins Freie, stützt sich mit gestreckten Armen auf der Brüstung auf, streckt seinen Hintern aus und blickt hinunter auf die Straße.

Meine Mutter kommt aus dem Schlafzimmer, wo sie gerade reinemacht und mein Vater Gardinenstange und Deckenleuchte montiert. Sie hält eine Flasche mit Spülmittel hoch und fragt: «Ist das alles, was du zum Putzen dahast?» Etwas überrascht blickt sie auf Schmidtchen und Lisbeth: «Guten Tag.»

Lisbeth und sie schütteln sich die Hand. Schmidtchen stellt sich in die Balkontür und sagt: «Sie sind also die Frau Schwester von unserer neuen Nachbarin.»

Meine Mutter zieht leicht verschämt die Schultern hoch und lächelt. «Nein, nein», sagt sie. «Ich bin die Mutter.»

«Küss die Hand», sagt Schmidtchen, watschelt auf sie zu und tut es tatsächlich.

Mutter blickt mich verstört an und hält wieder das Spülmittel hoch. «Was ist jetzt? Hast du noch was anderes zum Putzen? Neutralseife? Essigreiniger? Fensterreiniger? Womit soll ich eigentlich die Böden wischen?»

«Ich habe noch Allzweckreiniger», sage ich.

«Und fürs Bad?», fragt Mutter.

«Da habe ich so pfff-pfff.»

«Also keinen Essig?»

«Keinen Essig.»

«Und womit willst du den ganzen Dreck hier wegkriegen?»

«Mit dem Allzweckreiniger?»

Mutter atmet schnaufend aus und schweigt kurz bedeutungsvoll. Dann sagt sie – mit einem Tonfall, in dem die Resignation von über 30 Jahren vergeblicher Erziehung mitschwingt: «Wenn du meinst.»

«Soll ich noch was kaufen gehen?», frage ich gereizt.

Schmidtchen und Lisbeth spüren die negativen Schwingungen und machen sich auf den Weg zur Haustür. «Wir wollen dann auch nich länger stören», sagt Lisbeth und schiebt ihren Rudi vor sich her zur Wohnungstür. «Einen schönen Nachmittach noch, wonnich.»

«Bis die Tage dann!», ruft Schmidtchen, den Lisbeth schon in den Hausflur geschubst hat.

«Sinnvoll wäre das», knüpft Mutter an die Putzmitteldebatte an und schweigt wieder kurz, um ihrer Aussage mehr Nachdruck zu verleihen. «Soll ich dir Geld geben?»

«Geht schon, lass mal», sage ich.

«Bring auch ein Bier mit!», ruft mein Vater aus dem Schlafzimmer, wo er auf der Leiter steht und an einer Lüsterklemme schraubt.

Ich nehme Portemonnaie und Leinenbeutel und gehe zum Netto. In einer Gemeinschaft mit einer Apotheke, einem Bäcker und einem Lottogeschäft steht er: ein ehemals weißer, nun grauer Flachbau mit Plakatwand an der fensterlosen Seite und einem schmiedeeisernen Ring neben der Eingangstür, an dem ein struppiger Mischling angebunden ist, der mit hochgezogenen Brauen die Kundschaft beäugt. Der Laden erinnert mich sofort an den Spar-Markt meiner Kindheit: Er ist klein, hat nur zwei Kassen, und man kann vom Eingang aus bis hinten zum Wurstregal sehen.

Im ersten Gang, neben dem Gemüse, steht direkt ein Pärchen: Er trägt einen Kittel mit dem aufgestickten Titel «Sortimentsmanager» und räumt Dosenpfirsiche in die Regale, sie stolziert im Minirock und mit Schnürstiefeln vor ihm auf und ab.

«… der will tatsächlich einen Vattaschaftstest. Alta», echauffiert sie sich und gestikuliert dabei wild mit den Armen. «Ich fass es nicht!»

Ich suche nach Essig.

«Wer?», fragt der Doseneinräumer und stapelt weiter Pfirsiche. «Christian, oder was?»

Hier gibt’s nur Milchreis und Nudeln.

«Der denkt, ich hätt Hassan gefickt.»

«Hast du doch auch.»

Und Salz. Salz, Zucker, Mehl, Backwaren, daneben Konserven. Aber kein Essig.

«Nur einmal, ey. Davon wird man doch nicht schwanger!» Sie stampft mit kurzen Schritten den Gang auf und ab, nimmt eine Dose Thunfisch aus dem Regal, dreht sie in der Hand und stellt sie wieder hinein.

«Dabei ist es scheißegal, ob Christian der Vatta ist», fährt die Schnalle fort. «Ich krich eh von sein Hartz IV nix ab.»

Der Sortimentsmanager hält inne. «Vielleicht kriegst du aber von Hassans Geld etwas ab.»

«Meinst du, weil Hassan einen Job hat, muss er blechen, oder watt?»

Ich suche weiter, obwohl ich sicher bin, dass ich hier falsch bin. Ich bin sehr emsig und konzentriert. Tief beuge ich mich in das Regal mit Sauerkraut und Leipziger Allerlei, die Ohren wie Parabolantennen gen Hassans Perle gerichtet.

«Wenn du ein Kind und einen Job hast, musst du zahlen. Ist immer so. Ist Gesetz in Deutschland.» Er nimmt eine Palette mit Fruchtcocktail und räumt sie neben die Pfirsiche.

Sie bleibt breitbeinig vor ihm stehen und stemmt ihre zweifarbig lackierten Fingernägel in die Hüften. «Alta, ey. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Gut, dass ich keinen Job hab! Sonst müsst ich mir am Ende noch selber Unterhalt zahlen.»

«Du hast das Kind», antwortet der Dosenmann. «Du bist sowieso gefickt.»

«Dann geh ich jetzt zum Jugendamt und sag denen, dass Hassan der Vater ist. Du bist echt voll schlau, weißt du das?» Sie geht zu ihm, drückt ihm links und rechts ein Küsschen auf die Wange und sagt zum Abschied: «Danke, ey. Es gibt doch noch Gerechtigkeit auf der Welt.»

Ich richte mich auf und blicke ihr nach. Der Sortimentsmanager hat seine Kartons zusammengeräumt und zieht sich einen Einkaufswagen voller Sechserpacks Limonade vor das gegenüberliegende Regal. Einen Gang weiter finde ich Essig.

 

Als ich nach Hause komme, steht mein Vater im Wohnzimmer auf einer Trittleiter und stemmt sich mit der Bohrmaschine gegen die Wand. Meine Mutter steht mit verschränkten Armen daneben, schiebt ihren Unterkiefer vor und verengt ihre Augen zu Schlitzen. Seit die beiden geschieden sind, tut sie das oft in seiner Gegenwart.

Vatta nimmt Maß, lässt den kreischenden Bohrer an, drückt dagegen – und fällt fast gegen die Tapete. «Wie Butter», sagt er, als der Bohrer an Lautstärke verloren hat. Das Loch, das nun die Wand ziert, ist an den Seiten ausgefranst, Putz rieselt auf die Erde. Wie ein Einschussloch klafft es in der Tapete.

«Da kann man fast schon eine Gipskartonschnecke nehmen», murmelt er, steigt von der Leiter und geht zu seinem Werkzeugkasten. Mit staubigen Fingern nimmt er einen Dübel aus seiner Hosentasche, hält ihn eine Armlänge weg und kneift die Augen zusammen. «Was steht da drauf?», fragt er mich.

«Sechs», sage ich. «Hast du keine Lesebrille mit?»

«Ist im Bad. Hast du noch andere Dübel?»

«Ich? Nein.»

«Dann musst du welche kaufen. Bring auch gleich passende Schrauben mit.»

Er hätte mich genauso gut bitten können, den Fundamentalsatz der Vektoranalysis anhand eines Tafelbildes zu beweisen.

«Kauf Spreizdübel und pass auf, dass du die richtige Schraubengröße nimmst. Für die Waschmaschine brauchen wir außerdem noch Schlauchschellen und einen Zulaufschlauch. Und bring Spachtelmasse mit.» Er richtet sich auf und sieht mich an. «Du guckst wie ’ne Kuh, wenn’s blitzt», sagt er.

«Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.»

«Du wirst doch wohl in den Baumarkt fahren und ein paar Dübel kaufen können.»

Nein, ich fürchte nicht.

Vatta bleibt unbeirrt. «Du schaffst das schon», sagt er in einem Tonfall, der signalisiert, dass die Diskussion an dieser Stelle beendet ist. Er wendet sich von mir ab, nimmt den Bohrer von der obersten Stufe der Trittleiter und steigt wieder hinauf.

«Wo ist eigentlich mein Bier?», fragt er von oben.

«Habe ich vergessen.»

«Spreizdübel, Schrauben, Schlauchschellen und Zulaufschlauch. Und Bier. Wenn sie haben: Warsteiner. Kannst du dir das merken?»

Ich seufze. «Ja, Papa.»

Der nächstgelegene Baumarkt ist ein Hellweg. In Dortmund ist fast alles Hellweg, der Baumarkt, die Straßen, es gibt Hellweg-Apotheken und ein Hellweg Radio. Ich lasse die dekorativen Sektionen mit Seifenspendern, Gartenstühlen und Ziergehölzen links liegen und biege rechts in die Eisenwaren ab. Es gibt durchaus Abteilungen im Baumarkt, mit denen ich etwas anfangen kann, Farben zum Beispiel. Farben sind einfach, man muss nur zwischen Innen- und Außenfarbe unterscheiden und den richtigen Pinsel finden – wer in seiner Jugend leidlich mit Wasserfarben gemalt hat, kriegt das hin, ist ja alles nur zehn Nummern größer, aber ansonsten nicht weiter schwierig. Eisenwaren sind im Schwierigkeitsgrad direkt hinter Elektrozubehör, da wird es bei mir zappenduster.

Da stehe ich also jetzt, vor mir eine Wand, fünfzehn Meter lang, zwei Meter hoch, voll mit Schrauben: Bohrschrauben, Senkschrauben, Becherschrauben, Rändelschrauben, Schlossschrauben, Spenglerschrauben, Flügelschrauben, Zylinderschrauben, Sechskantschrauben. Daneben Nylondübel, Megadübel, Multidübel, Kragendübel. Außerdem Dinge wie Ankerstangen, Blindnieten und Fächerscheiben, Mörtelpatronen und Pozidrive-Bits.

Eine Regalreihe weiter: Schlauchschellen. Dort ist die Auswahl kleiner – es gibt lediglich verschiedene Größen. Ich beschließe, mit der einfacheren Aufgabe zu beginnen. Zuleitungsschläuche gibt es in ein Meter fünfzig, zwei Meter fünfzig und drei Meter fünfzig Länge, mit und ohne Aquastopp. Brauche ich einen Aquastopp, wenn die Maschine im Keller steht? Und brauche ich nicht, wenn ich einen Zulaufschlauch kaufe, auch einen Ablaufschlauch? Warum sind manche geriffelt und andere nicht?

Ich suche nach einem Verkäufer. Ein pickliger Typ im Kittel huscht durch den Hauptgang.

«Hey!», rufe ich ihm nach. «Arbeiten Sie hier? Können Sie mir helfen?»

«Kollege kommt gleich, ich bin Farben», ruft er zurück, ohne stehen zu bleiben.

Ich gehe vorbei an Klodeckeln, Duschtassen und Faltwänden. Ein großer, breitschultriger Mittdreißiger in einer blauen Latzhose steht vor einem Regal mit Überlaufgarnituren und wiegt fachmännisch ein weißes Ding in den Händen.

«Entschuldigung», sage ich, und er wendet sich zu mir um. «Könnten Sie mir helfen?»

«Sehe ich so aus?»

«Ich dachte vielleicht … also, ja. Sie sehen sehr kompetent aus.» Die Latzhose qualifiziert ihn.

Seine Gesichtszüge werden weicher, er kneift die Augen zusammen und mustert mich, greift sich ans Kinn und reibt sich mit einer farbbeschmierten Hand am Bart entlang. «Worum geht’s denn?»

«Ich brauche einen guten Schlauch.»

«Soso, einen guten Schlauch.»

«Für meine Waschmaschine.»

«Natürlich.»

«Ablauf oder Zulauf?»

«Beides.»

Er riecht gut. Ein bisschen nach Mann, ein bisschen nach After Shave, ein bisschen nach Arbeit. Er geht an mir vorbei in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Ich folge ihm. Er sucht zwei Schläuche aus den Körben, nimmt eine Packung Schellen von der Wand und drückt mir alles in die Hand. «Zwei fuffzich reichen?»

«Ich denke schon.»

«Das war’s?»

«Dübel noch. Und Schrauben.»

«Wofür?»

«Regalbretter.»

«Bücher?»

«Genau.»

«Und die Wand?»

«Wie Butter.»

Er geht vor mir her zu den Schrauben und Dübeln, guckt kurz, greift dann zielsicher eine Packung Dübel und eine Packung Schrauben und gibt sie mir. «Brauchst du sonst noch was?»

«Deine Telefonnummer», sage ich.

«Steht im Telefonbuch», sagt er, dreht sich um und geht.

 

Zurück daheim, hat mein Vater bereits die Gardinenstange über der Balkontür angebracht. An der Wand hängen die Bücherregale.

«Ich dachte, du brauchst dazu die Dübel», sage ich und halte die Tüte hoch.

«Hatte doch noch welche», antwortet er.

Na bravo. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und hat die Füße auf den Wohnzimmertisch gelegt. «Den Rest kannst du morgen selber machen», sagt sie. «Solange dein Vater hier noch zugange ist, lohnt das Putzen nicht.»

«Wann gibt’s denn was zu futtern?», fragt Vater. Essen ist ein wichtiger Bestandteil seines Lebens, eine Leidenschaft, die er an mich vererbt hat.

«Mache ich jetzt warm», sage ich. «Die Suppe hat schon Stan Libuda gegessen.»

«Hoffentlich nicht dieselbe», antwortet mein Vater, nimmt sich eine Zigarette aus der Brusttasche seines Hemdes und geht hinaus auf den Balkon. Ich stelle die Suppe an und beginne zu rühren.

Meine Mutter nimmt die Füße vom Tisch. «Und wann musst du jetzt in der neuen Firma anfangen?», fragt sie.

«Am Montag. Um zehn.»

«Zehn?! Das hätte es früher nicht gegeben. Da wurde um Punkt sieben angefangen.»

«Du hast damals auch nur bis nachmittags gearbeitet.»

«Was willst du mir damit sagen?»

«Dass, wer spät anfängt, auch später aufhört und nicht schon um 16 Uhr Feierabend hat.»

«Du kannst mir viel erzählen!»

Es gibt ein paar Sätze aus dem Mund meiner Mutter, nach denen jegliche Kommunikation ein jähes Ende findet. «Du kannst mir viel erzählen!» ist solch ein Satz, ebenso: «Komm du erst mal in mein Alter!», «Wir werden schon sehen!» und «Überleg’s dir besser noch mal!».

Ich stelle die Suppe an und gehe hinaus zu meinem Vater. «Hast du das schon gesehen?», fragt er mich und deutet mit der Zigarettenkippe auf die Zechenhäuser gegenüber. «Die haben eine riesige Scholle dahinter.»

In der Tat. Hinter den kleinen, verwunschenen, sich windschief dem Hoesch-Turm entgegenbiegenden Häuschen befinden sich lange, schmale Gärten mit Gemüsebeeten. Über die Dächer der zwei Geschosse blicken wir auf Tomatenranken und selbstgezimmerte Gewächshäuser. Hinter der hutzeligen Hütte direkt gegenüber quietscht eine Hollywoodschaukel in den lauen Abend hinein. Schmidtchen sitzt darauf und baumelt mit den Beinen, während ein papierdünner Opa am Gestell lehnt und mit Worten auf ihn einredet, die wir nicht verstehen.

«Ist das nicht dein Nachbar?», fragt mein Vater.

«Schmidtchen», sage ich.

«Er ist sehr interessiert an dir.»

«Für eine Affäre ist er aber ein bisschen alt», wende ich ironisch ein.

«Alte Kippe kann auch Waldbrand machen», sagt mein Vater, und ich bin mir nicht sicher, ob er damit Schmidtchen oder doch nicht eher sich selbst meint.

Als meine Eltern fahren, wird es schon dunkel. Ich stelle die schmutzigen Teller in die Spüle, ohne abzuwaschen. Schweiß klebt an mir. Zum ersten Mal dusche ich in meinem Muschelbad, suche eine Garnitur frische, nach Weichspüler duftende Bettwäsche aus einem der Kartons und steige in mein neues, altes Bett. Von der Straße vor dem Haus höre ich das Geräusch vorbeifahrender Autos. Jemand hupt. In der Ferne sprechen Menschen. Um mich herum riecht es nach Essig, Allzweckreiniger und neu aufgebauten Möbeln, nach Staub, meinem Vormieter und getrockneter Spachtelmasse. Meine Hände sind rau. In der Ferne gackert ein Huhn.

Ich schließe die Augen, liege da und lausche. Immer, wenn ich sehr müde bin, habe ich das Gefühl zu schweben. Ich fühle die Matratze unter mir nicht, nicht die Decke auf meinem Körper, nicht das Kopfkissen, ich gleite dahin, vom Wachen in den Traum, als flöge ich auf einer Wolke.

Ein Windzug weht durch das Dachfenster und streichelt meine Wange. Ich rolle mich fester ins Federbett. Meine Beine zucken. Ich schlafe ein.

Auf Schicht

Diese schreckliche Angst, zu spät zu kommen. Zu spät zur Arbeit, zu spät zur Einladung, zu spät zum Essen. Sie treibt mich schon seit Kindesbeinen. Dazu diese Furcht vor den ganzen Eventualitäten, die eintreten können.

Vor wichtigen Ereignissen stehe ich deshalb immer zwei Stunden zu früh auf. Damit ich jedem Stau ausweichen, bei jeder Bahnpanne improvisieren, vorher noch dreimal zur Toilette gehen und mich ausdauernd verlaufen kann.

Zweite Vorsichtsmaßnahme: nichts essen. Ich bekomme sonst Verdauungsbeschwerden, Nahrungsbestandteile tropfen mir auf die Kleidung, ich beschmiere meine Mundwinkel mit Nutella, eine der Tortellini mit Soße rollt mir über Brust und Bauch bis auf die Hose, ich trinke Wasser mit zu viel Blubber und muss im falschen Augenblick undamenhaft rülpsen.

Ich stehe also an diesem Morgen, meinem ersten Arbeitstag in der neuen Firma, um 6.30 Uhr auf, um gegen 103030