Ilse Frapan


Zwischen Elbe und Alster


Hamburger Novellen

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-945667-39-2


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Die Last



Der neue Maschinenmeister in der Druckerei hatte seinen ersten Arbeitstag hinter sich; er lieferte die Schlüssel im Kontor ab und machte sich als letzter der Arbeiter auf den Heimweg.

In der chemischen Fabrik nebenan stand noch die Tür offen; sonst sah es in dem trüben Novemberzwielicht öde und tot aus auf der langen Hammerbrookstraße. Die hohen grauen nüchternen Häuser, entweder Speicher oder Fabriken, blickten mit ihren geschlossenen dunklen Fenstern und Türen philisterhaft mürrisch vor sich hin; in den Kellerwirtschaften warf das Licht noch kaum einen Schein durch die herabgelassenen Vorhänge. Die ganze lange dämmerige Häuserzeile, an deren fernem Ende eben die Straßenlaternen wie zitternde rötliche Punkte aufzuglimmen begannen, hatte ein heuchlerisch friedfertiges, unanfechtbares Aussehen, als habe sie eine besondere Abneigung gegen Trunkenheit, Faustkämpfe, Zusammenrottungen und Messerstiche und könne sich nicht erinnern, jemals so roher und wilder Szenen Schauplatz gewesen zu sein, wie sehr auch die Polizeiberichte das Gegenteil behaupten mochten.

Auf einer der vielen Brücken blieb der Maschinenmeister stehen, kopfschüttelnd und beklemmt über den düstern Anblick. Dunkles Wasser, das um schwarze Pfähle und verwaschene Mauern spülte, immer schattenhafter verschwimmende Häuser, unförmliche Klumpen, aus denen sich ein langer gerader Finger in die Höhe reckte, wie von einer plumpen geballten Faust, der Schornstein einer großen Fabrik, dann wieder Brücken, wieder halbverschneite Kähne, wieder Häuser, und in weiter Ferne ein ganzer Wald von hohen Schornsteinen, gleich schlanken Palmenstämmen, über denen der Rauch, der in der schweren nebligen Luft stundenlang stehen bleibt, eine krause Blätterkrone bildete. Und das alles in chinesischer Tusche gemalt, in heller oder dunkler abgestuftem Grau, ohne einen Hauch von Farbe.

Ein Gefühl der Unbehaglichkeit schien den jungen Mann zu durchlaufen; er zog den Rockkragen in die Höhe und warf noch einen widerwilligen Blick in das schwarze Fleet, das leise gurgelte und die Strohbüschel und Papierfetzen, die darauf schwammen, kaum zittern machte. Dann zog er eine Zigarre heraus, setzte sie nach vielen vergeblichen Versuchen in Brand und schritt eilig weiter.

Das war nicht das Hamburg, von dem sein Onkel so viel Wesens gemacht hatte, das lustige, wohllebige, leichtsinnige Hamburg mit seinen guten Beefsteaks, seinen glänzenden Schaufenstern und den hübschen drallen Dienstmädchen! Vom Hammerbrook hatte sein Onkel nichts gewußt, ganz natürlich, der war ja noch vor dreißig Jahren ein sumpfiges Weideland gewesen, hatte ihm gestern abend sein Hauswirt erzählt.

Er war so schnell gegangen, daß nun auf einmal die Straßen hinter ihm blieben; ein offenes, gräbendurchzogenes Land lag da wie eine Wüstenei. Er sah sich um, kein Haus, kein Mensch, er mußte fehlgegangen sein. Zweifelnd blickte er nach dem Himmel. "Ob denn hier nie die Sonne scheint?" murmelte er, "heut ist sie gewiß nicht aufgegangen". Da zerriß plötzlich das Wolkengespinst; ein fahles Gelb übergoß den Westen, das Wasser der Fleete glitzerte wie die schwarz-goldigen Schuppen einer trägen Schlange. Dichter flogen die Krähen über die Erde, um die Holzplätze und Dachziegelhaufen; und vor ihm, er prallte fast zurück, schimmerte klares Blut auf einer Glasscherbe; nein, es war ja nur der Widerschein der Abendsonne! Nun sah er denselben blutigen Glimmer in den Fenstern eines elenden Wirtshauses in der Ferne. "Ich wollte, ich wäre in Pirna," sagte er; dann aber horchte er aufatmend: hinter ihm erklangen Menschenstimmen, ein leises girrendes Lachen und ein deutlicher Kuß. Er horchte und sah sich um. Da schlüpfte seitwärts aus einer rohgezimmerten Lattenlaube in einem erfrorenen Kohlfelde ein kinderhaftes Mädchen in blauem Kopftuch. Ein baumlanger Arbeiter folgte. Eben wollte er wieder den Arm um die Begleiterin schlingen, als diese ihn abwehrte und mit dem Kopf nach dem Fremden deutete. Der Mann trat von ihr hinweg und ihm entgegen, als erwarte er seine Ansprache. Der Maschinist aber streifte ihn nur mit einem hochmütigen Seitenblick und lüftete den Hut vor dem Mädchen, das befangen sein Hälschen auf die Seite gedreht hatte. "Ist dies der Weg nach der Frankenstraße, mein Fräulein?" Sie deutete errötend in die Stadt zurück, während er mit dreister Bewunderung das feine längliche Gesicht musterte und länger als notwendig sich die Richtung erklären ließ. Zuletzt zog er mit einem langen Blick und flottem Hutschwenken ab, wieder ohne den Arbeiter zu beachten, der ihm in unwilliger Verwunderung nachsah und nun mit kurzem spöttischen Auflachen laut sagte: "Wat is denn dat vor en? Kennst du den Prükenkopp, Gesche?"

"Scht, Hein!" machte das Mädchen leise, "das ist ja unser neuer Maschinist."

"So, de is dat."

Der Besprochene sah sich flüchtig um, er hatte Frage und Antwort gehört in der großen Stille. Er hatte das Mädchen überm Sprechen erkannt, sie war unter den Punktiererinnen in der Druckerei. Die frischwangige, hellblonde Kleine mit den feuchten Augen war ihm heute sogleich aufgefallen. Hübsche Mädchen fielen ihm immer auf, dafür kannte er sich. Sie war auch sorgfältiger gekleidet als die übrigen; er erinnerte sich deutlich ihres roten Schürzchens, das sie glatt strich, als er mit ihr sprach. Ihr Begleiter schien ein ungehobelter Bursche zu sein; schade, daß sie sich mit ihm abgab. Wie stocksteif der Kerl dagestanden war! und er hatte doch gar nichts von demwollen. Nun, er hatte es ihm ja deutlich gezeigt. Der Maschinist zog ein Spiegelchen aus der Tasche und blickte mit überlegenem Lächeln auf sein schnurrbärtiges, adlernasiges Abbild. Dann zwirnte er seinen Schwarzbart nach oben, schwenkte unternehmend das Spazierstöckchen und wiederholte:

"Perükenkopf? Perükenkopf? Der dumme Bauer!"

Das Paar war schweigend weitergegangen, den langen stillen Weg nach Bullerhude. Einmal zeigte Gesa nach einem photographischen Atelier auf einem Hausdach.

"Sieh, Hein, in solchem Glaskasten wohnt er."

"Wer, Gesche?"

"Uns' neue Maschinist, Hein, und er hat alles voll Blumen, und sie sagen -"

"De Prükenkopp meenst du, de just so an mi vorbi kek, as wenn ick 'n Tuunpahl wör?"

"Ach, das hat er ja nich so gemeint," lachte das Mädchen, "das war ja bloß, weil er mich kennt und dich nich."

Der Arbeiter schüttelte den Kopf; seine tiefliegenden blauen Augen zogen sich zusammen.

"Er is sonst ganz nett," beteuerte das Mädchen.

Seine Stirn ward rot, und er fuhr plötzlich heraus: "Wat geiht di dat an?"

"Ich meinte man," wisperte Gesa erschrocken, "werd doch nich gleich bös, Hein!"

Sie versuchte von unten in seine halbzugedrückten Augen zu sehen, um ihn lachen zu machen.

Er griff mit beiden Armen nach ihr und drückte sie heftig an seine Brust, so heftig, daß sie aufschrie." Ach, Gesche, segg mal, wat geiht di de Prükenkopp an? Wullst lewer, ich wör so en, mit 'n Spazeerstock und gele Hanschen?"

"Nee, nee," wehrte sie lachend, "aber, Hein, Hanschen hett he nich."

"In de Tasch gewiß! de Art kenn ick! De swänzeliert as: Sühst mi woll, un is so fründlich as 'n Ohrworm. Gesch, bekümmer di nich um den Kerl, nimm di in acht vör em!"

"Is de groote Jung all wedder eifersüchtig? Etsch, etsch, groote Jung!" neckte sie.

Dann, als er nicht antwortete, begann sie über Müdigkeit zu klagen und drückte sich eng in seinen umschlingenden Arm, den ihren, so weit er reichte, um seine kräftige Gestalt gelegt. Und so einträchtig wandernd, im dicken Nebel und der sinkenden Nacht, zwischen den kahlen Bäumen und stillen, dunklen Gräben, erreichten sie endlich das kleine Haus mit der grünen Tür, in dem sie ein Kellerstübchen bewohnten.

"Hein, unser Fenster ist hell!" rief Gesa ganz erheitert, noch ehe sie davorstanden. Ein heller Streif schimmerte deutlich über dem Boden. "Sollst sehn, das is Sophie; ich glaub, ich seh sie all sitzen."

Ja, da saß sie, eine große magere Frau mit blendend weißem Halstuch, die spitze Nase über einen roten Strumpf gebeugt, an dem sie im Lampenlicht eifrig strickte. Sie merkte nichts davon, daß die beiden vor dem Fenster standen und die Bewirtung berieten.

"Gah nu man rin, Gesch, ick bring di allens nah," sagte der Mann, "en Finbrot un veer heete Knackwürst, oder sall ick nich lewers fiw bringen?"

Er lief eilfertig über die Straße, während Gesa die Kellertreppe hinunterhuschte und leise die Tür aufklinkte. Ein schöner dreijähriger Knabe in blauem Kittel versteckte bei ihrem Eintreten den Lockenkopf in die Rockfalten der Frau, die das schmalwangige blasse Gesicht rasch umdrehte.

"Guten Abend, Gesche," nickte sie, "ick sitt hier all 'n gode Stünn. Mein Mann seine Mutter is da, da konnt ich doch 'mal abkommen."

Gesa war munter auf sie zugegangen und riß der Schwester mit lachendem Ungestüm die Arbeit aus der Hand, daß die Nadeln flogen. "Man nich gleich stricken! Hast heut schon genug getan."

"Du alt göriges Gör!" schalt die ältere, "willst 'mal hergeben? Kuck man nach dein Teekessel, der kocht wie doll; ich hab ihn aufgesetzt, daß ihr man gleich 'n büschen was Warmes findt, wenn ihr kommt. Wo is denn dein Mann? So, kommt gleich. Na, Klefecker, da sünd Sie ja all. Ja, was sagen Sie denn zu mein Ludwig?" 

Der schöne Kleine hatte sich bereits auf des Mannes Knie gesetzt, die Arme um seinen Hals gelegt und den weichen Blondkopf an seine breite Brust gedrückt, als ob er da schlafen wolle. Heinrich hielt sich mit herabhängenden Armen steif und vorsichtig aufrecht, ohne ihn anzurühren; er betrachtete den Kleinen mit glänzendem befangenen Gesicht wie ein zerbrechliches Spielwerk.

"Hein is so kinderlieb," lachte Gesa.

"Wird der Jung auch nich überlästig?" fragte die Frau mit erweichter Stimme. "Mich wundert bloß, daß er zu Ihnen gegangen is, er is sonst so fremd. Ja, die Gören haben das gleich raus, wer es gut mit sie meint. Er is man still, is mein Ludje; der Pastor, der ihn getauft hat, war ganz verwundert über das Kind. Das is ja 'n wahrer Engelskopf," sagt er zu mein Mann; "wo haben Sie den hergekriegt," sagt er so aus Jux; "den nehmen Sie man recht in acht, daß er groß und stark wird," sagt er. "Er hat so was Überhimmlisches, nee Überirdisches in sein Gesicht," sagt er; "ich möcht woll, daß mein Frau ihn sähe." So, Ludje, nu steig aber 'mal runter un laß Onkel trinken, du wirst ihm nu zu schwer."

"Laten Se em man, Sophie," sagte Klefecker, den Knaben festhaltend, "he drinkt mit ut min Tass, nich, Ludwig?"

Gesa hatte Tee aufgeschenkt und stellte Brot und die dampfenden Würste auf den gedeckten Tisch.

Die Decke war eine großlochige Häkelarbeit und ließ alle Brotkrumen durchfallen, aber Gesa hatte sie selbst gemacht, sie hatte einen Abscheu vor nackten Tischen.

"Ich hab euch auch was mitgebracht, krieg 'mal raus, Ludje." Der Knabe kletterte bedachtsam von des Onkels Knie herunter und grub aus einer großen wollenen Handtasche ein Tuch mit einem Käsekopf hervor.

"Wir haben ihn schenkt gekriegt, zwei Stück von unsen Nachbar, sieh bloß, wie der Jung da steht und kuckt!"

Der Kleine hatte die Arme übereinandergeschlagen und sah lächelnd und träumerisch vor sich hin.

"So hat Gesche auch immer gestanden, ebenso pomadig wie er, er sieht ihr auch ähnlich. Wenn die andern Gören in 'n Rönnstein platschten, hat sie immer bloß zugekuckt un gerufen: 'Mehr! Mehr!' aber sie is nie mit reingegangen."

"Dat glöw ick," sagte Heinrich wohlgefällig. "Wat Swattes bliwt nich an ehr besitten; se wascht sick aber ok den ganzen Dag. Mi hackt gliek allens an."

"Wenn die andern Gören sie gebufft haben, hat sie sich den Schmerz verbeißen können, aber wenn sie sie mal in 'n Dreck geworfen haben, denn hat sie gebrüllt und ihre schwarzen Hände nach 'n Himmel hinzu gestreckt, daß die ganze Straße zusammengelaufen is."

Gesa zog das feine Köpfchen zwischen die Schultern und blinzelte behaglich zu der Erzählung wie ein weiches weißes Kätzchen, das man lobt. Die Augen ihres Mannes wanderten in dem übervollen schiefen Stübchen und zwischen den ungleichen Gesichtern der Schwestern hin und her und blieben zuletzt an dem der jüngeren hängen. Er drückte das Kind, das wieder zu ihm gekommen war, an sich, strich mit den harten Händen leise über das warme weiche Körperchen und murmelte in den blauen Kittel hinein: "Min lütt Gesch! min lütt Gesch!"

Die Frauen steckten viel zu tief in einem Häkelmustergeplauder, um es zu beachten.


* * * * *


Es war eine Woche später; ein andrer in der Reihe der schweren Novembertage. In den Schreibstuben brannten die Gasflammen, obgleich es erst zwölf Uhr geschlagen hatte.

Der Arbeiter Heinrich Klefecker war ganz allein in den kellerartigen Räumen der großen chemischen Fabrik. Er hatte die Mittagswache.

Doch schien er noch auf etwas andres zu passen. Seine lange eckige Gestalt in dem gelbgrauen engen Kittel, mit den vom Dampfe bürstenartig emporstehenden Haaren erschien alle Augenblicke auf der Straße vor der breiten Einfahrt oder nebenan vor der niedrigen Haustür, um sich suchend hinauszubiegen; besonders nach der Druckerei flogen seine Blicke. Dann kehrte er zu dem dreibeinigen Bock hinter der Kiste zurück, die ihm als Tisch diente, und auf der schon sein Mittagsbrot in einem blauen Taschentuch bereit lag. Dann ging er ins Maschinenhaus und befühlte die Kruke Kaffee, er hatte eine Stelle herausgefunden, wo man sie gut wärmen konnte.

Plötzlich fuhr er herum; ein Geräusch von Kleidern und Schritten erklang am Eingang. "Gesche?" fragte er gedämpft und versuchte, mit den Augen den fetten gelben Dunst der Höhle zu durchdringen.

"Ick bün nich din Gesche," erwiderte eine heisere Stimme, und eine plumpe Gestalt in einem losen Kattunkleid klapperte über die Bretter, mit denen der schlüpfrige, ausgetretene Steinboden hie und da belegt war. Der junge Arbeiter machte eine abwehrende Gebärde, aber schon hatte das Weib den kurzstruppigen Kopf über die Butterbröte und Speckschnitten gebeugt und beschnupperte sie wie ein lüsterner Hund mit aufgesperrten Nüstern.

"Kunnst mi woll ok 'mal inladen, Hein," lachte sie und gab ihm einen scherzhaften Stoß in die Seite; "ick hew dree Kinner, und keen Mann, hew ick, kumm, min ol Jung."

Sie nahm die Hand aus dem wirren Haar und krümmte sie über die einladenden Brotschnitten.

"Hand vun 'n Sack!" rief der Arbeiter und faßte die vier Zipfel des Tuches zusammen; "gah din Weg, Male! Ick wurr mi in din Stell doch schanieren, min Umstänn so uttokreihn 'n Ehr is dat grad nich, Male!"

Das Weib hatte die dicken bloßen Arme in die Hüften gestemmt und sah ihn mit breiter Verwunderung an. "Kiek den Musche Nüdlich!" sagte sie, langsam zurückweichend, "kiek den finen Herrn!" Sie brach in lautes Gelächter aus. "Holl man din Gesche so 'n Semp, hörst woll?" Ein giftiges Glitzern trat in die matten vorgequollenen Augen, wie sie sich dicht an ihn hinanschob. "Hein, ick sall man seggen, din Gesche kummt hüt nich, se is 'n beten mit uns Herrn Maschinisten to Middag gahn."

"Dat lüggst du, Wiw!" schrie der Arbeiter und sprang mit flammendrotem Gesicht rückwärts. "Rut! rut! oder ick vergriep mi an di, un, ick mug mi doch nich de Finger smutzig maken!" Er faßte nach einem der schweren Schürfeisen. Das Weib stolperte mit vorgehaltenen Händen laut schimpfend nach der Tür, nicht ohne an die großen mannshohen Kessel zu stoßen und sich an den plumpen Sandsteinpfeilern, die das Gewölbe trugen, fast den Kopf einzurennen. Gerade als sie hinausflog, trippelte Gesche, ihr Kleid zusammennehmend, über die Schwelle herein, kuckte ihr nach, lachte hell auf und warf sich auf die Kiste neben das Frühstück, das sie ein bißchen beiseite schob. Noch einmal erschien Males breites Gesicht an der Tür. "Gode Unnerhollung!" schrie sie hinein; dann verschwand sie.

Gesche lachte nicht mehr. Sie atmete mühsam, und ihre Backen brannten.

"Du hest woll lopen mußt?" sagte der Mann, den Blick zur Seite wendend.

Das Mädchen nickte und strich an ihrer Schürze: "Und so hungrig bin ich, ich könnt dich gleich aufessen, Hein!"

Sie griff nach einem Butterbrot und biß hastig hinein, ohne Heinrich anzusehen.

"Wo kummst du denn her? Du kummst doch nich vun de Fabrik?" fragte er.

Gesche verschluckte sich an einem Brotkrumen und mußte heftig husten. Verwundert, daß er sie nicht ein bißchen auf den Rücken klopfe, sah sie zu ihm hin. Er hatte die Augen dicht zusammengezogen und die Hände geballt. Sie nahm ein Butterbrot aus dem Tuche und hielt es ihm vor den Mund: "Iß doch, Hein!"

"Ick hew keen Hunger, Gesche."

Sie glitt von der Kiste herunter.

"Die rote Male hat mich verklatscht," sagte sie.

Ein schwacher Lichtstreif von einem vergitterten Fensterchen her fiel auf sie, auf die zierlichen runden Schultern, die hellen Flechten um die Stirn und das blauseidene Tuch an dem weißen Halse.

Sie senkte den Kopf, denn sie fühlte, wie seine Blicke sie zu erforschen suchten.

Plötzlich zeigte er mit dem Finger nach ihrer Brust: "Wat is dat?"

Sie deckte sogleich die Hand über die Stelle und versuchte zu lächeln.

"Was denn, Hein? die Rose? Schön, nich?" Sie bog den Kopf so tief, daß sie den Duft einatmen konnte. "Was kuckst du mich so an? was machst du für Augen?"

Er stand auf, schob ihre Hand weg und zog eine dunkelrote Rose aus ihrem Kleide. Einen kurzen Augenblick starrte er die seltene Blume an; dann warf er sie in weitem Schwunge über des Mädchens Kopf weg in einen der riesigen Kessel voll Schwefelsäure und Kalk.

Mit einem bedauernden Ausruf eilte Gesa an den Tank und hob sich auf die Zehe; aber es war nichts mehr zu erkennen in der tiefen gelben Pfütze.

"De kummt nich wedder," sagte der Arbeiter kopfschüttelnd; "wat da in föllt, dat kummt nich wedder."

Dann riß er sie weg.

"Leg nich din Arm darop, dat fritt allens entzwei kiek."

Er hielt ihr eine von grünlichem Rost zerfressene Stahlschnalle hin.

"Min Ledderriemen is 'mal da ringlitscht, und dat is all, wat nahblewen is." Gesa sah nicht hin. Mit hängendem Kopf wie ein maulendes Kind hatte sie sich auf den Bock gesetzt, kaute stumm an ihrem Brote und wandte ihm den Rücken zu.

Der Mann verstummte nun auch und ging mit weiten Schritten in dem beengten Raum zwischen den staubigen Kalksäcken und den strohumflochtenen Glaskolben auf und nieder.

Es war so dunstig, daß sie einander nicht deutlich sehen konnten; manchmal mußten sie husten: der laugige Dunst fiel stechend auf die Lungen.

Es schlug eins.

Die Kleine stand langsam auf und schüttelte die Brotkrumen von ihrer Schürze. Heinrich blieb vor ihr stehen:

"Gesche, wonem hest du de Ros?" fing er an.

"Ach, Hein," erwiderte sie halb ungeduldig, halb scheu, "du bist immer gleich so bös mit mir. Und was is denn dabei? Der Maschinist hat zu mir gesagt, als wir alle zu Mittag gegangen sind, er hätt so schöne Rosen in seinem Glasbauer oben auf 'n Dach, wo er wohnt, ob ich eine haben wollt. Und da bin ich mit ihm gegangen bis an sein Haus und hab auf Straße gewartet, und er hat mir aus 'm Fenster eine 'runtergeworfen, in 'ne Tüte."

"Het he di nich mit ropnehmen wullt, Gesche?"

"Ja," sagte sie obenhin, "das woll, aber da gehören doch zwei zu! Ich bin nich mitgegangen, ich hab auf Straße gewartet." Sie faßte schüchtern nach seiner Hand. "Machst immer aus 'nem Funken 'n Feuer, Hein."

Er nickte düster vor sich hin.

"Nu gah man, Gesch, se kamt all t'rügg." Auf der Straße ward es lebendig; die Arbeiter kamen vom Mittagessen, und Gesa schlüpfte hinaus.


* * * * *

Als sie abends zusammen heimgingen unter einem Regenschirm, den der Mann der Kleinen vorsorglich über den Kopf hielt, sagte Heinrich nach einer langen Pause: "Ick hew mi dat überleggt, Gesch, du schullst dat Fabriklopen nu opgeben. Uns' Kram is ja binah afbetahlt, un ick denk ..."

"Abbezahlt? Hein, wir haben ja noch die fufzig Mark für das Bett stehn!"

"Ick weet woll, aber dat verdeen ick bald alleen."

"Nee, Hein, das is nix. Wir müssen ja jede Woche drei Mark abbezahlen, wie kannst das woll allein übersparen? Und warum soll ich nich was mitzuverdienen? Ich tu es ganz gern, es is ja leichte Arbeit."

Heinrich seufzte, sah sie von der Seite an und schwieg lange. Dann sagte er wie mit plötzlichem Entschluß: "Mußt em seggen, Gesch, dat du min Fro büst."

Sie lachte hell auf.

"Ach, kommst all wieder mit dem Kram? Weißt ja doch, Hein, es is besser, daß sie es nich wissen. Sie können Mädchen genug kriegen; sie nehmen keine Frauen an. Und weil ich doch noch nich so alt bin," sie lachte wieder und machte ein paar Tanzschritte unter dem Schirm, "und nich so ausseh wie'n alten Ehekrüppel, nich, Hein?" sie blinzelte ihm mit ihren großen Schelmenaugen zu und gab ihm, da er nicht antwortete, einen kleinen Stoß vor die Brust mit dem Zeigefinger. "Hätt'st lieber Sophie gehabt, oder die rote Male, was?" flüsterte sie, den krausen, blonden Scheitel an seine Schulter legend.

Er drückte ihren Kopf mit dem freien Arm, aber seine Stirn war voll Falten.

"Nee, nee, dumm Tüg, Gesch! warum denkst du so wat?"

"Ach, ich mein man!" Sie blickte verschämt mutwillig vor sich nieder. "Ich mein man, weil die keine Rose gekriegt hat," brach sie plötzlich lachend aus und sprang neckend ein paar Schritte von ihm weg.

Der Mann blieb stehen. Das Licht der Straßenlaterne fiel in sein Gesicht; es sah gequält und angstvoll aus. Er ballte die herabhängende Hand, starrte die Kleine an und murrte zwischen den Zähnen.

Da kam sie wie ein schnurrendes Kätzchen mit gesenktem Kopfe geschlichen, duckte sich unter den Schirm und wisperte: "Min ol' Hein."

Er sagte aber nichts, hielt auch die Hand steif und leblos, die ihre warme Rechte liebkosend umschloß.

"Na, willst gornix seggen," flüsterte sie in bittendem Ton.

Hein fuhr fort, sie in düsterm Schweigen anzusehen, ganz fremd und kalt.

Da sank ihr Mut. Zwei helle Tränen erschienen in den lachenden Augen; sie ließ seine Hand los.

"Bist immer gleich so bös mit mir," schluchzte sie auf, "immer gleich bös. Was tu ich denn? Ich bin ja noch nicht so alt, andern Monat werd ich achtzehn. Kein Mutter und Vater hab ich auch nich mehr, bloß Sophie, und das is man meine Stiefschwester. Und denn dich, und du bist gleich so bös. Wär ich man lieber häßlich, wär ich man lieber tot! Ob ich die Rose hab oder nich und der Maschinist, was braucht sich der um mich zu bekümmern! Er is ja 'n feiner Herr, was will er von mir, nich, Hein? Und ich hab ja all mein Teil, nich? Und was kann ich dafür, daß ich nicht so häßlich bin, und daß du mich nich mehr leiden magst, und wir sind man erst drei Monat verheirat, und ..."

Sie endete mit lautem Weinen. Heinrich hatte sie in den Arm genommen und sprach ihr zu: "Lat man, Gesch! nicht bös mit di, Deern, lat man. Du kannst da ok nix vor, aber ..."

Ein höhnender Windstoß riß ihm den Schirm aus der Hand und drängte die beiden fast von den Füßen. Das Gespräch hörte auf; sie hatten genug mit dem Sturme zu tun, der mit Schnee und Regen und Hochwasser seinen gewohnten Novemberspaziergang über die geduldige Marschebene machte.


* * * * *


Den Maschinenmeister Leopold Jäck fror es in seinem gläsernen Vogelbauer, obgleich an diesem klaren Sonntagnachmittage sogar die Sonne in das ehemalige Photographenatelier schien.

Es hatte abgeweht, und der Frost war da. Die ganze Elbniederung, die er von seinem hohen Hausdach übersah, lag in weißlichem Rauhreif; die vielen Wasserläufe und Becken schimmerten mit stumpfem, bleiernen Glanz; auf der dünnen Eiskruste der nahen überschwemmten Wiesen blinkten die blassen Sonnenstrahlen wie tausend scharf geschliffene Schwerter, die nach einem Punkt zielen. Schwarzwimmelnde Menschenscharen strebten zu diesen neu erstandenen Vergnügungsplätzen; eine ganze Straße von kleinen Jungen auf Kreken zog nach den Eisflächen, und hinten im Dunst sah er durch die zu einem Fernrohr gebogenen Finger, daß schon Zelte und Buden, einige erst im Entstehen, andre schon fertig, im Halbkreis umherstanden. Da war eine Zerstreuung in Aussicht, kein Zweifel. Er dehnte sich in seiner braunen Wollenjacke, die ihm als Haustoilette diente, kuckte an seinen hagern, in Trikots steckenden Beinen hinunter und stand gähnend von dem Korbsofa auf, um nach seinen Schlittschuhen zu sehen. Er hatte Mühe, sich durchzuschlängeln, denn der sonst kahle, untapezierte Raum war ganz verstellt durch grüne Pflanzen, die in schmucklosen Töpfen zwischen leeren Zigarrenkisten, Haufen von Zeitungen und durcheinander geworfenen Stiefeln den Fußboden bedeckten. Die Zweige zunächst den Fenstern schienen von der Kälte gelitten zu haben, sie hingen welk, und die Erde war bestreut mit Blättern. Er nahm einen der Äste auf und ließ ihn wieder sinken. "Verwünschtes Nest! Ich muß machen, daß ich hier fortkomme."

Sein Blick glitt durchs Fenster auf den kleinen verwahrlosten Gartenfleck mit dem zerbrochenen Eisenstaket. Die schnurgerade Reihe niedriger Tannen daran war in dem schweren sumpfigen Boden nicht angewachsen; sie standen da wie rostige Pyramiden. "Ich muß machen, daß ich hier fortkomme," wiederholte er verdrossen.

Plötzlich leuchteten seine Augen auf und wurden spitz vor Verlangen. Eine zierliche Gestalt ging eben mit hüpfenden Vogelschritten an dem zerknickten Gitter vorüber.

Er riß die kleine Luftscheibe auf und rief hinunter: "Gesa!"

Sie war noch in Hörweite; es schien ein Zusammenschrecken durch die schlanken Glieder zu gehen; sie beschleunigte ihren Schritt; den Kopf hatte sie nicht gewandt.

Der Maschinist biß sich ärgerlich auf den Schnurrbart. "Die verfluchte kleine Hexe! Sie hat mich sehr wohl gehört, tut aber gar nicht dergleichen! Und doch kokett bis ins Schwarze ihrer blauen Augen. Haha! Natürlich steckt der Bursch dahinter, der lange gelbgraue Kerl, mit dem sie immer läuft! Es soll aber ein Ende haben!"

Er zog hastig einen Rock über sein Wollenkostüm, schloß ein Schubfach auf und nahm eine Anzahl Geldstücke heraus, die er, ohne sie zu zählen, in seine Hosentasche gleiten ließ.

"Soll wohl noch zahm werden, soll wohl noch parieren. Warum macht sie mir denn Fensterpromenaden?"

Er lachte zuversichtlich, während er an den Stöcken nach einer Blume suchte. Da er nichts Buntes mehr fand, steckte er endlich ein Lorbeerzweiglein ins Knopfloch. Dann betrachtete er noch einmal sein hübsches beutesüchtiges Gesicht im Spiegel, wobei er beständig seine trocknen Lippen mit der Zunge befeuchtete, und schoß mit den klappernden Schlittschuhen am Arm die vier Treppen hinunter, der Richtung nach, die er das Mädchen hatte einschlagen sehen.