Studienreihe der Landesbeauftragten
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt

Band 1

Marie Ollendorf

Zielvorgabe Todesstrafe

Der Fall Jennrich, der 17. Juni 1953 und die Justizpraxis in der DDR

mitteldeutscher verlag

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2013

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954621750

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1 Einleitung

2 Das Justizwesen der DDR bis 1954

3 Der Justizfall Ernst Jennrich

3.1 Jennrich und der 17. Juni 1953 in Magdeburg

3.2 Vorprozessuales Ermittlungsverfahren

3.3 Die Anklage

3.3.1 Gesetzliche Grundlagen

3.3.2 Beweismittel und Tathergang

3.4 Vorschlag der Justizministerin: Todesstrafe

3.5 Erste Verhandlung am Bezirksgericht

3.5.1 Vorbemerkungen

3.5.2 Vernehmung Jennrichs

3.5.3 Zeugenvernehmung

3.5.4 Plädoyer des Staatsanwalts

3.5.5 Plädoyer des Verteidigers

3.5.6 Das Urteil

3.5.7 Berichte der SED-Presse

3.6 Protest und Berufung

3.6.1 Protest des Staatsanwalts

3.6.2 Berufung des Rechtsanwalts

3.6.3 Beschluss des Obersten Gerichts

3.7 Zweite Verhandlung am Bezirksgericht

3.8 Gnadengesuche

3.9 Hinrichtung

3.10 Rehabilitation

4 Fazit

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Danksagung

Endnoten

Gewidmet meinem Mann, Christian Schulze-Ollendorf.

1 Einleitung

„Unsere Juristen müssen begreifen, dass der Staat und das von ihm geschaffene Recht dazu dienen, die Politik von Partei und Regierung durchzusetzen.“1

Walter Ulbricht auf der sogenannten
Babelsberger Konferenz im April 1958

Ernst Jennrich, Gärtner aus Magdeburg, starb im März 1954 an Kreislaufinsuffizienz. So vermerkte es zumindest das Standesamt Dresden auf seinem Totenschein, und so lautete bis 1991 auch die offizielle Version. Tatsächlich aber wurde er hingerichtet – heimlich, still und leise auf dem Hinterhof des Dresdner Gefängnisses am Münchner Platz. Warum? Er soll beim Aufstand am 17. Juni 1953 einen Volkspolizisten erschossen haben. Doch auch das war nur die offizielle Version. Wahrscheinlicher ist, dass man in ihm einen Sündenbock gefunden hatte, um die These vom „faschistischen Putsch“ zu stützen, indem man der Öffentlichkeit einen „Provokateur“ präsentierte. Dies war nur möglich, weil die Politik die Justiz instrumentalisiert hatte, um ein Urteil zu erlangen, das den Interessen des Staates diente. Inwiefern die Justiz im Fall Jennrich instrumentalisiert wurde, versuche ich in dieser Arbeit zu zeigen. Wie ist es dazu gekommen, dass Jennrich, der erst vom Vorwurf des Mordes freigesprochen wurde, in einer zweiten Gerichtsverhandlung mit der gleichen Beweislage wegen Mordes zum Tode verurteilt wurde?

Die Steuerung der DDR-Justiz durch die Politik wurde in der Forschung schon gut aufgearbeitet und soll hier am Fall Ernst Jennrich exemplarisch dargestellt werden. Der Fall steht im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953, dieser führte in der Folge zu einer Zäsur im Justizwesen. Was sich dort veränderte, wird im 2. Kapitel aufgezeigt. Im Kapitel 3, dem Hauptkapitel der Arbeit, wird der Aufstand in Magdeburg mit dem Fokus auf Ernst Jennrich beschrieben; es wird gezeigt, welche Ungereimtheiten sich schon im vorprozessualem Ermittlungsverfahren ergaben, und dann darauf eingegangen, wie es dazu kam, dass Jennrich zunächst „nur“ wegen Boykotthetze und schließlich doch wegen Mordes verurteilt wurde. Danach werden die Gnadengesuche und der Umgang damit durch die Verantwortlichen behandelt, ebenso die Vollstreckung der Todesstrafe. Das Kapitel endet mit einem kurzen Auszug aus dem posthumen Freispruch von 1991. Die Ergebnisse der Arbeit werden dann in einem Fazit zusammengefasst.

Der Fall Jennrich fand in der Forschung bisher nur am Rande Erwähnung, er ist aber eine nähere Beschäftigung wert, da er ein gutes Beispiel dafür liefert, wie die Politik die Justiz zu dieser Zeit für ihre Zwecke nutzte. Zu dem Thema der Justiz in der DDR – vor allem zur Strafjustiz – ist eine Fülle von Literatur vorhanden. Viele Komplexe, wie zum Beispiel die Staatsanwaltschaft, Rechtsanwaltschaft oder das Oberste Gericht, werden einzeln ausführlich in der Forschung behandelt. Während jedoch die Literatur zum Juni-Aufstand auf Grund des 50. Jahrestages im Jahre 2003 noch relativ jung ist, stammt die meiste Literatur zur DDR-Justiz von Anfang und Mitte der 1990er Jahre, denn erst die Öffnung der Archive hatte die eingehende Recherche ermöglicht.

Karl Wilhelm Fricke ist herausragend zu nennen, denn er hat sich intensiv mit dem Thema, vor allem was den Zusammenhang zwischen Politik und Strafjustiz anbelangt, auseinandergesetzt. Fricke und auch Wolfgang Schuller haben in ihren bis heute richtungweisenden Werken die Strafnormen und auch die Strafpraxis der DDR nicht nur als Erste untersucht, sondern sie darüber hinaus in den jeweiligen historischen Kontext eingefügt. Fricke hat zudem in einer Reihe von Einzelbeiträgen das Eingreifen der SED-Führung in politische Strafverfahren aufgezeigt und dargestellt, dass die Justiz sich der Politik unterzuordnen hatte. Auch Falco Werkentin hat die Erforschung der politischen Strafjustiz vorangetrieben. Hermann Wentker stellte die Darstellung des Transformationsprozesses von Justiz und Rechtsprechung sowie deren politische Instrumentalisierung in der SBZ und frühen DDR in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Es ist zu bemängeln, dass in manchen Forschungsbeiträgen leider die genauere Darstellung der Kompetenzen der einzelnen Akteure und von deren Interagieren bei politischen Strafurteilen fehlt.2

Es stand eine Vielzahl von Quellen zur Verfügung, mit denen der Forschungsstand zum Fall Ernst Jennrich ergänzt werden konnte. Die Arbeit stützt sich hauptsächlich auf die Akten der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), denn sämtliche Justizakten zu dem Fall sind dort zu finden. Nur die Urteile sind auch im Bundesarchiv vorhanden. Dass sich die Justizakten über Jennrich nicht im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt (LHASA) befinden, so wie die meisten Akten der Justiz aus Sachsen-Anhalt beziehungsweise aus den ehemaligen Bezirken, ist auf den ersten Blick erstaunlich, kann aber dadurch erklärt werden, dass die Archive des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auch eine Vielzahl von Strafjustizakten aufbewahrten. Die dort befindendlichen Akten wurden einerseits vom MfS als Teil der Strafrechtspflege selber produziert, andererseits von ihm zur Aufbewahrung übernommen. Die Akten der Staatsanwaltschaft wurden z. T. aus Kapazitätsgründen beim MfS aufbewahrt, welches Ende der 1960er Jahre anbot, dieses Archivgut zu verwahren, da es vermutlich ein politisch-operatives Interesse an den Akten der Strafjustiz hatte.3 Dafür könnte auch eine Notiz vom 4. Mai 1954 sprechen, die als Strafe das Todesurteil vermerkt und verfügt, dass „U. m. A. [urschriftlich mit Akten] an das Staatssekretariat f. Staatssicherheit Bezirksverwaltung Magdeburg zur Ablage.“4

Darüber hinaus sind wenige Schriftstücke im Bundesarchiv vorhanden. Hier sind vor allem die Briefe zu nennen, die Hilde Benjamin an das ZK geschrieben hat. Wie viel Material sich zu dem Fall eventuell noch in Bundesarchiv befindet, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden. Man muss auch bedenken, dass ein Gros an Material vielleicht schon längst vernichtet wurde. Die Publikationen von Benjamin liefern wertvolle Informationen über das Zusammenspiel von Politik und Justiz. Es ist aber zu beachten, dass diese meist die Perspektive der SED widerspiegeln und somit nur eine verzerrte Sichtweise auf den Gegenstand liefern, als Quelle sind sie aber unverzichtbar, da sie die Ansichten der Verantwortlichen zeigen.

Außerdem existiert ein Tonbandmitschnitt von der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Magdeburg. Dieser wurde vom Rundfunk der DDR angefertigt und wird heute im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) in Potsdam aufbewahrt. Die Tonaufnahme der Verhandlung sollte wahrscheinlich zu Propagandazwecken gegen die „Provokateure“ des 17. Juni genutzt werden, doch ob Teile davon ausgestrahlt wurden, konnte nicht recherchiert werden. Das Band hat eine Länge von insgesamt 5 Stunden und 14 Minuten. Es wurde wohl die komplette Verhandlung aufgenommen, denn das Material scheint nicht geschnitten zu sein. Der Quellenwert dieser Audioaufnahme ist als sehr hoch einzuschätzen, da man hier die unverfälschte Wiedergabe einer Gerichtsverhandlung der 1950er Jahre der DDR vor sich hat. Denn obwohl es für den Rundfunk aufgenommen wurde, hört man doch nur die vollkommen unkommentierte Verhandlung. In den Akten des BStU befindet sich auch das Verhandlungsprotokoll, das aber, wie alle anderen Protokolle auch, nur bruchstückhaft den wahren Verlauf der Verhandlung am Bezirksgericht (BG) Magdeburg wiedergibt. Das Tonband ermöglicht nicht nur inhaltlich eine bessere Vorstellung der Verhandlung, da diese hier wohl vollständig wiedergegeben wird, sondern bietet auch einen akustischen Eindruck. Das Schreien des Richters und die Reaktionen des eingeschüchterten Angeklagten sind so erfahrbar, und man erhält einen realitätsnahen Einblick in die Methoden der Justizangehörigen, den Angeklagten unter Druck zu setzen. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg einen Ausschnitt von 2,3 Stunden dieses Audiomaterials besitzt, der für diese Arbeit intensiv genutzt wurde, weshalb zusätzlich zum Mitschnitt aus dem DRA auch diese Quelle zitiert wird.

Weiterhin wurde auf Aussagen von Jennrichs Sohn Ernst Jennrich jr. zurückgegriffen, jedoch nur ergänzend, da er im Juni 1953 erst 12 Jahre alt war und an dem eigentlichen Geschehen nicht beteiligt war.5

Obwohl das genutzte Quellenmaterial sehr umfangreich ist, lassen sich damit dennoch nicht die Entscheidungsprozesse und die Kommunikation zwischen den einzelnen Stellen nachvollziehen. Antwortschreiben sind zum größten Teil nicht vorhanden. Was zum Beispiel Staatsanwalt und Richter miteinander besprochen haben, wenn sie denn etwas beredet haben, lässt sich nicht rekonstruieren. Vermerke über Telefongespräche beispielsweise sind nirgends zu finden, und wenn ein Dokument doch einen solchen Eindruck machte, war es für diesem Fall nicht weiter relevant. Daher kann oft nur vermutet und nicht eindeutig belegt werden.

Darüber hinaus besteht das Quellenmaterial zu einem großen Teil aus administrativen Schriftstücken, die dazu dienen sollten, die Verurteilung des Beschuldigten möglichst plausibel zu rechtfertigen. Anhand dieser Quellen nachzuweisen, was sich am 17. Juni tatsächlich abgespielt hat, wäre also kaum möglich. Jedoch lässt sich damit aufzeigen, dass Jennrich als „Feind“ der DDR keine Chancen auf einen fairen Prozess hatte. Da sämtliche Verfasser des Quellenmaterials – ob Polizei, MfS, Gericht oder Justizministerin – in ihren Ausführungen authentisch sind, da man intern ja nichts verheimlichen und schönreden musste, können die Dokumente für diese Darstellung verwendet werden. Warum man Jennrich tot sehen wollte, wird relativ gut deutlich, aber man muss dafür auch zwischen den Zeilen lesen.

Die Quellen sind samt Orthografie- und Grammatikfehlern wiedergeben (der Name „Gaidzik“ z. B. kommt in etlichen Varianten vor). Sie werden zum Teil sehr ausführlich zitiert, um damit im Detail die entscheidenden Punkte klarzumachen, die für die Beantwortung der Problemstellung notwendig sind. Noch eins muss angemerkt werden: Wenn von der „SED“ die Rede ist, ist natürlich nicht jedes einzelne Mitglied gemeint, sondern diejenigen in der Partei, die ihre Macht ausnutzten, über diesen Fall zu entscheiden, und somit eine unabhängige Verhandlung unmöglich machten.

Diese Arbeit ist als Einzelfallstudie angelegt. Der Justizfall Ernst Jennrichs dient hier als exemplarisches Beispiel dafür, wie die SED-Politik die Unabhängigkeit der Justiz in den Strafverfahren nach dem Aufstand 1953 massiv einschränkte. Zudem war dieses Verfahren eines von nur zweien in Verantwortung der DDR-Justiz nach dem 17. Juni, die mit einem Todesurteil endeten.6 Zugleich steht der Fall stellvertretend für andere Justizopfer in Magdeburg, deren Schicksale noch nicht ausführlich beleuchtet wurden, weil es teilweise auch auf Grund fehlender Quellen nicht mehr möglich ist.

2 Das Justizwesen der DDR bis 1954

Das folgende Kapitel skizziert kurz die Entwicklung DDR-Justiz in den frühen 1950er Jahren. Der 17. Juni 1953 stellte dabei eine Zäsur dar, denn mit der Strafverfolgung der Aufständischen weitete sich auch die Anleitung der Gerichte durch Justizministerium und SED aus.

Eine der ersten Maßnahmen zur Umwälzung des Justizwesens nach dem 2. Weltkrieg war die Ausbildung neuer Juristen. Justizministerin Hilde Benjamin schrieb dazu: „In den fünf Ländern der sowjetischen Besatzungszone wurden 1945 zunächst unterschiedliche, aber in dem Ziel, neue Kräfte als Richter einzusetzen, übereinstimmende Maßnahmen getroffen. […] [Durch] den sogenannten Soforteinsatz im Zusammenwirken mit Aktivisten der ersten Stunde, mit Arbeitern und anderen demokratischen Schichten der Bevölkerung und mit Unterstützung der örtlichen sowjetischen Kommandanten [wurden] Nichtjuristen als Richter und Staatsanwälte berufen.“7 Auch am Bezirksgericht Magdeburg waren „fast ausschließlich […] neue Richter“ beschäftigt, „die erst seit der Reorganisation in Magdeburg tätig sind.“ Es gab im „ganzen Bezirksgericht […] nur einen akademischen Richter […]“ und es bestanden „erhebliche fachliche Schwächen; schlechter Urteilsaufbau, Formulierungen, Sachverhaltsdarstellungen, rechtliche Würdigung; sowie ungenügende Kenntnisse des materiellen und formellen Rechts.“8

Da die Juristenausbildung anfangs nur wenige Monate dauerte, waren die rechtlichen Kenntnisse der neuen Absolventen dieser Lehrgänge nur sehr begrenzt. Doch Werkentin sieht nicht darin „die Ursache jener Scheinjustiz in politischen Strafverfahren, auf die sich diese neuen Justizfunktionäre einließen“, sondern in der Bereitschaft vieler Absolventen, „sich dem Parteiwillen unterzuordnen. Denn der SED ging es um mehr als nur um den Austausch aus der NS-Zeit belasteter Juristen“.9 Man wollte die Justiz mit treuen Gefolgsleuten durchdringen, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Absolventen der ersten beiden Volksrichterlehrgänge zu knapp 80 % Mitglieder der SED waren.10 Benjamin konstatierte 1976: „Die systematische Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Richter und Staatsanwälte trug entscheidend dazu bei, die Hegemonie der Arbeiterklasse und ihrer Partei, der SED, in der Rechtspflege zu verwirklichen.“11 Was die Partei damit erreichen wollte, erläuterte Ernst Melsheimer, zu diesem Zeitpunkt noch Vizepräsident der deutschen Zentralverwaltung der Justiz, bereits im Jahr 1948: „Man soll beherzigen, daß es ein alter revolutionärer und demokratischer Grundsatz ist, daß man einen Staat dann umwandelt, wenn man zwei Dinge in der Hand hat: Die Polizei und die Justiz. Die Polizei hat man in der Hand, die Justiz noch nicht. Daß wir sie in die Hand bekommen, sollte unser Ziel sein.“12

Unmittelbar nach der Staatsgründung wurde die beherrschende Stellung des Justizministeriums als Zentralbehörde des Justizwesens in der DDR durch die Errichtung des Obersten Gerichts und der Obersten Staatsanwaltschaft beeinträchtigt,13 und mit der „Verordnung über die Vereinfachung der Justiz“ vom 27. September 1951 wurden die Landesstaatsanwälte dem Generalstaatsanwalt (GStA) der Republik unterstellt. Die gesamte Staatsanwaltschaft wurde in den Rang einer eigenständigen Behörde erhoben und somit der Weisungs- und Kontrollbefugnis des Justizministers der DDR bzw. der Justizminister der Länder entzogen.14 Mit dem „Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik“ (StAG) vom 23. Mai 1952 wurde die Stellung der Staatsanwälte weiter gestärkt, was, so Werkentin, durchaus Sinn machte, denn bereits „im April 1950 waren 86,0 % aller Staatsanwälte SED-Mitglieder, hingegen nur 53,6 % der Richter. Und es gab auch weitaus weniger Staatsanwälte als Richter, die republikflüchtig wurden.“15

Schon im Juni 1951 kritisierte die Sowjetische Kontrollkommission, Nachfolgerin der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland in einem Bericht die Justiz der DDR stark, was die SED-Führung dazu veranlasste, sich eingehend mit dem Justizwesen zu befassen. Hauptsächlich bemängelte die ZKK das Justizpersonal und dessen Schulung. Der Bericht wies darauf hin, dass das Justizpersonal noch nicht völlig gleichgeschaltet sei und hielt fest, dass die Ursachen der Schwäche und des Versagens der Justiz in der mangelnden Kontrolle und fehlenden Anleitung des Ministeriums der Justiz (MdJ) lägen. Walter Ulbricht, Generalsekretär des Zentralkomitees der SED (ZK), hielt es daraufhin für notwendig, die Partei zu aktivieren. Das MdJ machte Vorschläge zur Verbesserung der Justizarbeit, wobei es sich eng an ein Memorandum der Abteilung Staatliche Verwaltung hielt,16 welche für Kontrolle und Anleitung der Genossen im Staatsapparat zuständig war und bis 1954 von Anton Plenikowski geleitet wurde.17 Damit zeigte das Ministerium, dass „es sich dem Führungsanspruch der SED im Justizwesen bedingungslos unterordnete“.18 Wentker meint, dass dieser ZKK-Bericht sowohl den Partei- als auch den Justizapparat im Sinne einer effektiveren Indienstnahme der Justiz durch die SED aktiviert hat.19

Daraufhin wurde eine Reihe von Änderungen vorgenommen. So sollten beispielsweise ab dem 1. Juli 1952 alle Haftanstalten der Polizei unterstellt, Richtlinien zum Arbeitseinsatz von Strafgefangenen aufgestellt und per Ministerratsbeschluss der GStA mit der Aufsicht über alle gerichtlichen Voruntersuchungen und über alle Strafanstalten beauftragt werden.20 Außerdem wurden die Länder neu gegliedert und in Bezirke aufgeteilt, wodurch auch die Justizorganisation umgestaltet wurde: An die Stelle von Amts-, Land- und Oberlandesgerichten traten nun Kreis- und Bezirksgerichte.

Mit der Zentralisierung und Konzentration der Staatsmacht begann die SED auch mit der Schaffung eines neuen politischen Strafrechts, „das heißt solcher Rechtsvorschriften, durch welche Handlungen oder Unterlassungen unter Strafe gestellt wurden, in denen das Regime eine Gefährdung seiner Existenz erblickte“.21 Die Strafgesetzgebung könne daher, so Fricke, „als Funktion der Herrschaftssicherung betrachtet werden“.22 Am 2. Oktober 1952 verabschiedete die Volkskammer eine neue Strafprozessordnung (StPO), welche vor allem dazu genutzt wurde, „um die zahlreichen, oftmals auf sowjetische Anweisungen zurückzuführenden Durchbrechungen der alten StPO zu ,legalisieren‘“.23 Am selben Tag wurde das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) verabschiedet. Danach konnten Richter nun nach ihrer „Persönlichkeit“ ausgewählt werden und sie mussten sich „vorbehaltlos für die Ziele der Deutschen Demokratischen Republik“24 einsetzen. Das Oberste Gericht (OG) hatte nun auch die Möglichkeit, als Gericht zweiter Instanz über „die Rechtsmittel des Protestes, der Berufung und Beschwerde gegen die von den Bezirksgerichten in erster Instanz erlassenen Entscheidungen in Straf- und Zivilsachen“25 zu entscheiden, was auch im Fall Jennrich geschah. Das Gesetz sah außerdem ein aus allen seinen Mitgliedern bestehendes Plenum des OG vor, welches im „Interesse der einheitlichen Anwendung und Auslegung der Gesetze“ – und „einheitlich“ meint hier wohl „parteilich“ – „Richtlinien mit bindender Wirkung für alle Gerichte erlassen“26 konnte. Fricke meint dazu, dass das OG nun mit Machtbefugnissen ausgestattet war, „die der SED eine rigorose Instrumentalisierung der Rechtsprechung ermöglichen“27 sollten.

Mit einer „Verordnung über die Bildung von Kollegien der Rechtsanwälte“ vom Mai 1953 ließ das SED-Politbüro nach sowjetischem Vorbild Anwaltskollegien bilden. Freie Anwälte erhielten danach keine Zulassung mehr, was Werkentin den systematischen „Weg, die freie Advokatur abzuschaffen“28, nennt.

Der Prozess der „Transformation des Justizwesens“29, wie Wentker es bezeichnet, erreichte 1952/53 seinen vorläufigen Abschluss. Sowohl in der Gerichtsverfassung als auch in der Justizverwaltung war der Föderalismus beseitigt und durch ein zentralisiertes, der Staatsverwaltung angepasstes System ersetzt worden, und die Verantwortlichen hatten mittels der Juristenausbildung bis zu diesem Zeitpunkt einen systemkonformen Rechtsstab herangezogen. Dem sowjetischen Vorbild hatte man sich nicht nur in der Organisation des Strafvollzugs und in der Justizverwaltung angenähert, sondern ebenfalls im Gerichtsverfassungsgesetz, bei der Organisation der Staatsanwaltschaft und bei der Strafprozessordnung. Darüber hinaus waren die vielfältigen Versuche der Justizsteuerung mit einer rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar.

Im Juni 1953 gab es zwei Ereignisse, die die Richtung und die Methoden der Justizsteuerung nachhaltig verändern sollten: die Proklamation des „Neuen Kurses“ durch das Politbüro am 9. Juni, mit dem die Partei öffentlich Fehler eingestand, und der darauf folgende Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Die SED musste nun einerseits versuchen, die im „Neuen Kurs“ verkündete strafpolitische Linie beizubehalten, wonach bis Ende Oktober 1953 nahezu 24.000 Personen vorzeitig aus der Haft entlassen werden sollten,30 andererseits musste sie sich an die vom 14. Plenum des ZK, das am 21. Juni getagt hatte, abgesegnete strafpolitische Linie gegenüber den Aufständischen halten: die Aufgabe bestand jetzt darin, „den angeschlagenen Gegner [d. h. die Aktivisten des 17. Juni] entscheidend zu schlagen, die faschistischen Banden restlos zu liquidieren, die Ordnung aus eigenen Kräften auf feste Grundlagen zu stellen und die Durchführung eines neuen Kurses von Partei und Regierung zu sichern“.31

Gleichzeitig erwartete das ZK von seinen Mitgliedern und Funktionären, dass „sie mit geschärftem Auge gegen die tatsächlichen Provokateure vorgehen, sie vor der Masse der Werktätigen entlarven und mit ihrer Hilfe den Sicherheitsorganen übergeben“.32 Dadurch füllten sich die Gefängnisse wieder, denn die Strafverfolgung von Streikenden setzte unmittelbar ein und tausende sogenannter „Provokateure“ und „Rädelsführer“ wurden verhaftet, darunter auch Ernst Jennrich. Fricke schreibt, dass nun eine „schier schrankenlose Rachejustiz“33 um sich zu greifen schien. Hilde Benjamin, vorher Vizepräsidentin des OG, wurde am 15. Juli 1953 zur Nachfolgerin des gestürzten Justizministers Max Fechner ernannt und trug ihren Teil dazu bei, dass die Aufständischen zur Rechenschaft gezogen wurden. Im selben Jahr schrieb sie: „Die Vorgänge des 17. Juni stellten uns jetzt vor die praktische Notwendigkeit, schnell und gerecht, allen Bürgern verständlich zu reagieren. In dieser Aktion der Aburteilung aller derjenigen, die Verbrechen begangen haben, ist unser Justizapparat gewachsen. Es hat sich gezeigt, daß wir eine große Zahl Richter und Staatsanwälte haben, die unserem Staat ergeben und der Arbeiterklasse verbunden sind und die, ohne ihre Kräfte zu schonen, ihre Aufgabe mit großer politischer Bewußtheit und Energie erfüllt haben.“34 Wie Richter und Staatsanwalt in Jennrichs Fall „ihre Aufgabe“ erfüllten, wird im Rahmen dieser Arbeit deutlich werden. Backes meint passend, dass die Reaktion auf den Aufstand vor allem „aus dem neuerlichen Anwerfen der Strafjustizmaschine“ bestand, wobei viele Personen „für Taten verurteilt worden waren[,] die sie gar nicht begangen hatten“. Dabei seien nicht nur die Staatssicherheit, sondern auch die Gerichte „nicht zimperlich“ gewesen, „wenn es darum ging, Verurteilungen für Strafen auszusprechen, die nicht nachgewiesen waren“.35

Am 21. Juni forderte das ZK der SED, „mit größter Sorgsamkeit zu unterscheiden zwischen den ehrlichen, um ihre Interessen besorgten Werktätigen, die zeitweise den Provokateuren Gehör schenkten – und den Provokateuren selber. Ehrliche Arbeiter, die zeitweise irregingen, haben deswegen nicht aufgehört, ehrliche Arbeiter zu sein, und sind als solche zu achten.“36 Daraus ergab sich, dass sich die Urteile in ihrem Strafmaß stark unterschieden. Das Regime zeigte Nachsicht mit den „irregeleiteten“ Arbeitern, gegen vermeintliche oder tatsächliche „Rädelsführer“ jedoch „wurde das Strafrecht indes mit hemmungsloser Härte angewandt“.37 Auch bei Jennrich wurde so gehandelt. Den größeren Rahmen hat Benjamin im Blick, wenn sie aus ihrer Sicht erklärt: „In der Rechtsprechung der Gerichte nach dem 17. Juni 1953 zeigen sich die Ansätze zu einer neuen Strafpolitik. Schon die Staatsanwaltschaft prüfte sorgfältig jeden Fall daraufhin, ob ihm wirklich ein strafwürdiges Verbrechen zugrunde lag. Sie prüfte die Hintergründe, die Motive des Täters, seine Persönlichkeit […].“38 Da aber die SED-Führung die Verurteilung der Aufständischen nicht allein den Richtern und Staatsanwälten überlassen wollte, wurde am 20. Juni 1953 der sogenannte „Operativstab“ eingerichtet. Dieser wies die Bezirksgerichte an, „eigene Strafsenate für die 17.-Juni-Prozesse einzurichten und nur solche Richter, Schöffen und Pflichtverteidiger auszuwählen, die für ihre Treue zur SED bekannt seien“.39 Die Justizministerin, die den Vorsitz innehatte, traf in komplizierten Sachverhalten die Entscheidungen, wovon in Kapitel 3.4 die Rede sein wird. Durch Instrukteure, welche in die Gerichte geschickt wurden, sollte der Operativstab unmittelbar in die Rechtsprechung eingreifen.40 Rottleuthner erkennt in dem Einsatz der Instrukteure die Abhängigkeit der Justiz von opportunistischen Vorgaben der politischen Stellen, also von Partei und Staat, welche den Justizkadern eine hohe Anpassungsbereitschaft abforderten.41 Das System der Justizinstrukteure wurde auch nach dem 17. Juni beibehalten. Hierzu erklärte Benjamin: „Heute bestehen sowohl bei der obersten Staatsanwaltschaft wie beim Justizministerium Instrukteurbrigaden, die regelmäßig nach festen Plänen die Bezirke und in jedem Bezirk auch gegebenenfalls einige Kreise aufsuchen, Weisungen der zentralen Stellen übermitteln, die Arbeit laufend beobachten und über die von ihnen gemachten Beobachtungen und Feststellungen den zentralen Stellen Signale geben.“42

Nach Wentker konnte aber selbst mit dem Operativstab eine flächendeckende Steuerung der Verfahren nicht erreicht werden. Und als dieser Ende August 1953 seine Arbeit einstellte, wurde die Kontrolle der infolge des 17. Juni durchgeführten Strafverfahren wieder dem MdJ überantwortet, welches einen Teil seiner Steuerungskompetenzen zurückerhielt. Benjamin, die neue Justizministerin, erreichte eine verbesserte Kooperation zwischen OG, Oberster Staatsanwaltschaft und MdJ, denn sie wollte die Einführung neuer Steuerungsmethoden im MdJ forcieren und die Position des Justizministeriums innerhalb des Justizsteuerungssystems verteidigen und ausbauen. Auf Grund ihrer Betätigung am OG und ihrer engen Freundschaft mit GStA Melsheimer „war sie wie keine andere dazu prädestiniert, die Bande zwischen den drei obersten Justizorganen enger zu knüpfen.“43

Auf dem IV. Parteitag der SED 1954 verband Benjamin den Grundsatz der Parteilichkeit der Rechtsanwendung mit der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ und definierte diese als „Einheit von strikter Einhaltung der Gesetze und Parteilichkeit ihrer Anwendung“.44 Sie gab außerdem an: „Nachdem im Juni 1953 der Versuch des Klassengegners, den Sozialismus auf deutschem Boden gewaltsam zu beseitigen, gescheitert war, analysierte das Zentralkomitee der SED […] im 2. Halbjahr 1953 die Erfahrungen des sozialistischen Aufbaus in der DDR und zog wichtige Schlußfolgerungen für die politische und ideologische Arbeit. Die Generallinie der Partei wurde kontinuierlich fortgesetzt. Das schloß die Entfaltung der sozialistischen Demokratie und Gesetzlichkeit ein.“45

Wie gezeigt wurde, hat die Partei von Anfang an Einfluss auf die Justiz genommen und diesen kontinuierlich ausgebaut. Welche konkreten Folgen dies für Ernst Jennrich hatte, wird im Folgenden dargestellt.

3 Der Justizfall Ernst Jennrich

3.1 Jennrich und der 17. Juni 1953 in Magdeburg

Der Lebensweg Jennrichs bis zu seiner Verhaftung am 19. Juni 195346 war folgender. Ernst Jennrich wurde am 15. November 1911 in Wedringen bei Magdeburg als achtes von neun Kindern geboren. Seine Eltern waren Arbeiter. Nach eigenen Aussagen lernte er schon früh Not und Elend kennen. Er besuchte in Magdeburg acht Jahre lang die Volksschule, begann dann eine Bäckerlehre, brach diese ab und schloss eine Lehre als Gärtner ab. Von 1928 bis 1930 gehörte er der Sozialistischen Arbeiter-Jugend an, von 1930 bis 1933 der SPD. 1935 wurde er wegen einer regimekritischen Äußerung zu vier Wochen Gefängnis verurteilt. Jennrich heiratete 1938, aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. 1942 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, an die Ostfront geschickt und hier verwundet, weshalb man ihn 1943 aus der Wehrmacht entließ. Danach arbeitete er bei den Junkerswerken. 1944 wurde er erneut zur Wehrmacht eingezogen. Er beging im April 1945 Fahnenflucht. Als die Amerikaner in Magdeburg einzogen, geriet er für sechs Wochen in amerikanische Gefangenschaft. Bis 1945 gehörte er keiner Partei an, schloss sich dann wieder der SPD an und trat auch zur SED über. Im Juli 1945 machte er sich mit einem Obst- und Gemüsegeschäft selbstständig. 1947 trat er aus der SED aus, „weil mir in der Funktionärssitzung gesagt wurde, ich hätte mein Geschäft nur durch die Partei bekommen“.47 Das Geschäft gab er 1949 wegen Unrentabilität auf. Er arbeitete bei verschiedenen Stellen, bis er am 1. Juni 1953 eine Gärtnerstelle bei einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) annahm.

Jennrichs Lebensweg spielte auch in der Verhandlung und bei seiner Verurteilung eine Rolle, denn die Untersuchungsorgane, Staatsanwälte und Richter waren verpflichtet, „sich genau mit der Persönlichkeit jedes Angeklagten, mit seinem Leben, seinem Entwicklungsweg, seinen Beziehungen gegenüber dem Arbeitskollektiv zu befassen. Das sorgfältige Prüfen dieser Umstände ermöglichte es, das Vorliegen einer Straftat und ihre Schwere richtig zu erkennen und sie gerecht zu bestrafen […].“48 Anhand von verschiedenen Beispielen wird sich zeigen, wie die Beurteilung von Jennrichs Person in das Strafmaß einfloss. Das Strafrecht in der DDR war nicht zuletzt ein Gesinnungsstrafrecht.

In Magdeburg war es schon im Dezember 1952 zu kleineren Streiks gekommen, die am 17. Juni 1953 in einem Protest gipfelten, der sich durch die ganze Stadt zog und alle Bevölkerungsschichten erfasste.49 Lübeck beschreibt die Situation wie folgt: „Die Zündschnüre, die von Berlin in die gesamte DDR gingen, waren von der SED selbst gelegt worden. Ihre Zündung jedoch überraschte Parteileitungen, Sicherheitsorgane und Staatsapparat.“50 Der Aufstand in Magdeburg ging von den Großbetrieben wie Karl-Marx-Werk und Ernst-Thälmann-Werk aus,51 wo die Arbeiter die Frühschicht nicht aufnahmen. Seit 7.30 Uhr waren in der Kastanienstraße etwa 200 Menschen versammelt, die die Bürger zur Demonstration aufriefen und die Straßenbahnen und Busse anhielten, damit die Fahrgäste sich am Streik beteiligen. Ihre Zahl war zwei Stunden später schon auf rund 2.000 angestiegen. Unter Beteiligung der Arbeiter aus den Möbelwerken, der Diamant-Brauerei und der Werkzeugmaschinenfabrik bewegte sich der Demonstrationszug in Richtung Innenstadt.52 Unter diesen Menschen muss sich auch Ernst Jennrich befunden haben, der in der Lübecker Straße auf die Demonstrierenden stieß, welche unter anderem die Senkung der HO-Preise und der Arbeitsnormen forderten.53 Die SED-Bezirksleitung hat von den Ereignissen im Norden der Stadt gewusst, doch die Sicherheitsorgane griffen nicht ein. Auch in anderen Teilen der Stadt streikten die Menschen. Der Demonstrationszug aus Magdeburg-Neustadt spaltete sich um 10 Uhr. Ein Teil ging zum Telegrafenamt, der andere marschierte in Richtung Innenstadt.54 Jennrich fuhr zu dieser Zeit mit seinem Fahrrad in die Möbelfabrik, in der seine Frau55 arbeitete. Hier berichtete er von dem Streik auf der Straße und fragte, ob sich die Arbeiter diesem nicht anschließen wollen. Später legte ihm das Gericht diese Handlung als Boykotthetze aus (vgl. Kap. 3.5.5). Jennrich zog weiter durch die Stadt und traf unterwegs seinen ältesten Sohn W. Jennrich. Unter anderem war er an diesem Tag am Parteigebäude der SED, das bereits von den Demonstranten gestürmt worden war.56 Der Demonstrationszug traf gegen 10:50 Uhr am Hasselbachplatz ein.57 Der örtliche Nahverkehr war zu diesem Zeitpunkt bereits zum Erliegen gekommen.58 Auch Jennrich war am Hasselbachplatz. Hier hörte er, dass vor dem Polizeipräsidium und vor der Strafvollzugsanstalt Magdeburg-Sudenburg (SVA) geschossen würde. „Da habe ich zu [Name geschwärzt] gesagt wir wollen da mahl kucken.“59 Der Zeitpunkt, an dem Jennrich dort war, ist allerdings strittig. Um 12 Uhr umfasste der größte Demonstrationszug bereits ca. 20.000 Menschen. Das Bezirksgericht und die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) befanden sich in unmittelbarer Nähe der SVA. Lübeck nennt diesen Gebäudekomplex „die Versinnbildlichung der Staatsgewalt in Magdeburg“.60 Die Demonstranten, die die politischen Häftlinge befreien wollten, hatten die erste Haupttür der Haftanstalt mit einem Rüstbaum aufgebrochen; sie verfügten zu dieser Zeit bereits über Karabiner, die sie Polizisten abgenommen hatten. Eine zweite Tür wurde in Brand gesetzt und es kam zu Schusswechseln zwischen den Demonstranten und Angehörigen des MfS, die in dem Gefängnis tätig waren.61 Die Polizisten zogen sich daraufhin in das Innere der Haftanstalt zurück. Bei dem Schusswechsel kamen zwei Volkspolizisten und ein MfS-Mitarbeiter ums Leben.62 Dies alles hat sich wahrscheinlich zwischen 11 und 12 Uhr abgespielt. Als Jennrich an der SVA ankam, nach seinen Angaben zwischen 12 Uhr und 12.30 Uhr,63 befand sich vor dem Gefängniskomplex Sudenburg bereits eine große Menschenmenge,64 und die Wachposten waren schon entwaffnet. „Es wurde auch gleich von der Menge gerufen, 3 Zivilisten und 2 Polizisten seien schon erschossen.“65 Auch das Gerichtsgebäude hatte die Menge schon gestürmt. In dem Situationsbericht des MfS ist darüber Folgendes zu lesen: „Die Demonstranten müssen im Besitz von 6–8 Gewehren gewesen sein und schossen von verschiedenen Seiten und aus dem Gerichtsgebäude.“66 Jennrich nahm einem Jugendlichen einen Karabiner weg, woraufhin die Menschenmenge von ihm forderte zu schießen. Jennrich gab an, er habe dann einen Schuss durch das, von außen gesehen, linke Fenster (vgl. Grundrissskizze im Anhang) in den Hof der Haftanstalt abgegeben, woraufhin ihm der Karabiner von einem anderen Mann entrissen worden sei, „mit der Bemerkung du kannst ja nicht schießen“. Der Mann, der nach eigenen Angaben Scharfschütze gewesen sei, soll daraufhin geschossen und anschließend gesagt haben: „[…] hat geklappt der hat gesessen.“ Der Mann habe den Karabiner an die Wand gestellt und sei verschwunden. Daraufhin schaute Jennrich durch das Fenster und stellte fest, dass der Polizist, der am Gittertor stand, nicht mehr da war. Er gibt an, dass er die Warnung in den Hof gerufen hat: „Kolegen seht euch vor hier sind alte Rußlandkämpfer drunter. Denn es waren noch zwei Mann mit Gewehren unter der Menge.“ Jennrich nahm dann den Karabiner wieder an sich „mit der Absicht es sollte keiner mehr damit erschossen werden“.67 Er gab einen zweiten Schuss über das Tor der Haftanstalt ab und hat dann das Gewehr zerschlagen. Er war so lange vor Ort, bis die sowjetischen Truppen eintrafen. Um 14 Uhr wurde der Ausnahmezustand über Magdeburg verhängt. An der Haftanstalt in Magdeburg-Neustadt gelang es sogar 221 Häftlinge zu befreien.68 Herbert Paulsen, Chefinspekteur der BDVP, gab später zu, dass es zu einer Niederlage gekommen wäre, wenn die sowjetischen „Freunde“ nicht dagewesen wären.69 Lübeck bewertet die Ereignisse vor dem Gebäudekomplex in Sudenburg als „dramatischen Höhepunkt“ der Proteste: „Schußwechsel mit Toten und Verwundeten, das Verzweifeln und ohnmächtige Aufbäumen der Aufständischen, letztlich auch das Wanken des Unterdrückungsapparates.“70

Auf dem Weg nach Hause kam Jennrich am Draisweg vorbei, wo er einen Polizisten traf, der Wache stand. „Ich sagte zu ihm im vorbeifahren, du brauchst jetzt nicht mehr zu stehen, denn in der Stadt sei alles vorbei.“71 Diese Begebenheit sollte im Laufe des Verfahrens noch eine Rolle spielen, denn was Jennrich genau zu dem Polizisten gesagt hatte, war wohl nicht ganz klar. An dieser Stelle soll aber Jennrichs Sicht der Dinge ausreichen.

Bereits am Abend des 17. Juni begannen in Magdeburg die Verhaftungen von Aufständischen, welche sich über Wochen hinzogen.72 Justizministerin Hil73