Über den Autor und das Buch:

Jost Dröge ist Diplom-Sozialpädagoge, hat Religionspädagogik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur studiert.

Diverse Gedichte und Essays (u.a. „Hinter dem Schrank“, „Die Sieben-Tage-Geschichte“), die philosophisch-gesellschaftspolitischen Romane „Schattenblut“, „Steinzeiten“ und „Metagrom“ (Fouqué 2004) stammen aus seiner Feder, die beiden Kriminalromane „Tod in der Lune“ (2009) und „Eisbrandung“ (2010), zuletzt 2014 „Willbrock“, alle bei Books on Demand veröffentlicht.

Nunmehr stellt er bei Books on Demand sein neues Buch „Der DOM“ vor: Die Auseinandersetzung zwischen Whistleblower, Verschwörungstheoretiker und Revolutionäre findet hier eine Basis realer und fiktiver Zusammenhänge.

Wie immer bei Jost Dröge, gibt es auch in diesem Buch einen philosophischmystischen Hintergrund. Spannung, ohne ein Krimi zu sein, bringt das Aufeinanderprallen der Persönlichkeiten, denn die sind „nicht ganz ohne“, angefangen bei Pastor Heinrich Albertz und Friedrich Ebert junior. Beide waren 1967 Bürgermeister von Berlin. Sie läuten den DOM ein!

Dieses Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck,

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Zustimmung des Verlages und Autors unzulässig und strafbar.

Impressum

© 2017 Jost Dröge

Satz und Layout: Buch&media GmbH, München

Umschlaggestaltung: Johanna Conrad, Augsburg, unter Verwendung einer Grafik

von Witold Lohmann, Bochum

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7431-5056-0

„Wahrscheinlich hätten wir sonst nichts von der tatsächlichen Existenz des DOMs erfahren und auch nicht von mir, denn ich bin sein Beschützer, aber auch sein Brandstifter. Oder besser der Anstifter zur Brandstiftung!“

– sagt der Druide, Mbeete. Achtet im Buch auf seine besondere Stimme, die rechtsbündig kursiv sprechen wird.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Pastor Heinrich Albertz traf sich am 2. Juni 1967, noch während des Besuches von Schah Reza Pahlavi in Berlin, im Rathaus Schöneberg mit Friedrich Ebert junior. Beide waren Bürgermeister von Berlin. Friedrich Ebert, geboren 1894 als Sohn des großen SPD-Ebert, nun aber Parteigänger der SED bereits seit 1947 im Osten, Heinrich Albertz1 als Nachfolger von Willy Brandt2, der nun Bundeskanzler geworden war, erst seit dem 1. Dezember 1966 im Westen Berlins. Beide sollten noch im Jahr 1967 ihr Amt verlieren, der eine aus demokratischen Gründen, weil ein Herr Schütz von der CDU Heinrich Albertz von der SPD ablöste, der andere aus Gründen, die mittelbar mit diesem Gespräch am 2. Juni 1967 zu tun hatten. Bei diesem Gespräch war ich anwesend. Meine Macht und mein Einfluss auf den Ablauf der Dinge ist zwar gering, dennoch verursachte ich allein durch die Tatsache, dass ich dieses Gespräch initiiert hatte, nach sieben Monaten den Absturz des DDR-Bürgermeisters in die sozialistisch-einheitliche Nichtigkeit. Friedrich Ebert junior starb erst 1979 im sowjetischen Osten Deutschlands, einem durchaus angemessenen Seniorensitz für die Altersgenossen der SED im Alter von fünfundachtzig Jahren. Seine zeitgeschichtliche Existenz erledigte sich jedoch bereits 1967 nach einer Tortur, deren Ergebnis nicht allein als politischer Karriereabsturz bezeichnet werden musste, sondern vor allem als psychische Deformation. Dennoch blieb er bis zu seinem Tod Mitglied des Politbüros, allerdings ohne Funktion.

Heinrich Albertz aus Bremen, Friedrich Ebert junior aus der DDR und ich hatten über das Vermächtnis des Friedrich Ebert senior gesprochen. Fünf Stunden lang, um genau zu sein, von 1:00 Uhr nachts bis 6:00 Uhr morgens, die Grenze musste pünktlich passiert werden. Friedrich Ebert war inkognito über den Grenzübergang Friedrichstraße gekommen und hatte sich selbst einen Transitausweis ausgestellt, als Joseph Kant. Ich chauffierte ihn, weil ich als freier Grenzgänger Sicherheitsschutz von der Stasi3, dem KGB4, der CIA5, dem SDECE6 und dem SIS7 genoss. Westdeutsche Geheimdienste gab es noch nicht wirklich. Außerdem hatte ich seinerzeit ein dringendes Interesse daran, die beiden Männer zusammenzubringen. Daran änderte auch das politische Ende von Friedrich Ebert junior 1967 nichts. Beabsichtigt hatte ich es indes nur funktional, psychischer oder gar physischer Nihilismus war, wie gesagt, nicht mein Auftrag. Friedrich Ebert junior war ein frustrierter Machtmensch, schon damals. Eigentlich hätte er zufrieden sein können mit dem, was er in der Partei erreicht hatte. Schließlich war auch er aus der ungeliebten SPD gekommen, was er sogar mit Haft im KZ Oranienburg quittieren musste. Das politische Vermächtnis seines Vaters hatte er weder fortsetzen können noch wollen, aber das hatte auch gute, und sehr persönliche Gründe. Ich werde später auf diese Ursachen zu sprechen kommen müssen, denn natürlich spielt die Geschichte, auch die persönliche Geschichte von Menschen, immer auch eine Rolle für das, was die Menschheit an Bösem hinterlässt. Natürlich auch an Gutem, wenn Gut und Böse so simpel gegenüberstellbar wären. Jedenfalls erkannte Friedrich Ebert junior einige Zusammenhänge, die ihm eine ruhelose, von quälender Angst besetzte, aber immerhin noch zwölf Jahre währende Lebenszeit unter Psychopharmaka bescherte. Aber das hatte eben auch dreiundsiebzig Jahre gedauert, während Heinrich Albertz an diesem Tag im Juni 1967 nun gerade mal zweiundfünfzig Jahre alt war. Dennoch hatte Heinrich Albertz auch dafür eine nachvollziehbare Geschichte. Ich hatte ihn ja genau deshalb ausgewählt, für dieses Projekt. Obwohl, wen hätte ich sonst auswählen können für dieses Gespräch? Kennedy aus den USA vielleicht, oder Mahatma Gandhi aus Indien? Nein, nein, meine Wahl war schon okay, diese Männer hatten ihre eigenen Dinge am Laufen und die von mir so geliebten, großartigen Frauen waren noch nicht auf der Bühne oder hatten sie, wie Rosa Luxemburg oder Isabel Allende, schon verlassen. Margot Honecker jedenfalls gehörte ebenso wenig dazu wie die Ceauşesco aus Rumänien oder Greta Bösel8.

Heinrich Albertz selbst, zu dem ich immer einen ausgezeichnet freundschaftlichen Kontakt hielt, verkörperte genau das Gegenteil dieser bösen Frauen: Er war der Wertemensch schlechthin, eine moralische und ethische Instanz. Das galt auch für seine Frau Ilse. Regelmäßig besuchte ich sie in der SeniorenresidenzBremer Heimstiftung, bis Heinrich Albertz im Mai 1993 verstarb, immerhin vierzehn Jahre nach Friedrich Ebert junior. Seither habe ich leider den Kontakt zu Ilse und ihren zwei Töchtern und dem Sohn verloren. Aber ich glaube, dass Ilse mit fast hundert Jahren noch im Seniorenheim lebt und regelmäßig von ihren Kindern besucht wird. Dabei weiß ich, dass die Kinder mich nicht kennen. Ich hatte leider nie eine Veranlassung gefunden, diese drei kennenzulernen. Jetzt ist es egal. Sie sind alle bereits fast im Rentenalter und ich werde sie nicht mit einer Vergangenheit belästigen, die sie nicht wahrgenommen hatten, nicht wahrnehmen konnten. Vielleicht werden sie in absehbarer Zukunft das Manifest lesen, das die Rolle ihres Vaters in der Geschichte endgültig untermauert. Heinrich Albertz war immer mein großes Vorbild und Friedrich Ebert senior ebenfalls, obwohl ich ihn nicht kennengelernt hatte. Aber sein Vermächtnis macht ihn zu einem wirklich großen Menschen. Seine Wirkung wird auch in den kommenden hundert Jahren deutlich zu spüren sein. Ich werde das veranlassen und Heinrich immer wieder zurate ziehen, auf dem Friedhof in Bremen-Horn. Friedrich Ebert junior hingegen war eine sehr, sehr komplizierte Persönlichkeit, eine tragische Gestalt, ein historischer Unhold, um es auf den Punkt zu bringen, ein humanistisches Wrack, der viel verstand von Rhetorik, aber nichts von Kommunikation. Ihr fragt euch natürlich, was das Ganze mit dem DOM zu tun hat. Nun, der DOM hatte sich 1933 neu geschaffen, was Friedrich Ebert bereits 1925 vorausgesagt respektive geschrieben hatte, nämlich, dass das Deis9 dem Omnipotate10 geopfert wurde. Was er nicht wusste war, dass es eigentlich schon 1878 mit der Geburt von Stalin und 1898 mit Hitler begann und 1912 mit der Geburt von Kim Il-Sung aus Nordkorea einen weiteren Höhepunkt fand, als diese Zecken am Arsch unserer Zeit, unsere Identität in Angriff nahmen. Seither lebe ich in Unruhe. Auch das Gespräch zwischen Heinrich Albertz und Friedrich Ebert junior änderte nichts daran. Eher im Gegenteil, auch wenn Friedrich Ebert junior als nachfolgende, jedenfalls sich operationalisierende Zecke, also erfolgreich bissfreudig dann doch verhindert werden konnte, hauptsächlich, weil Friedrich Ebert, der Vater, Vorsorge getroffen hatte. Junior und Senior sind eben nicht naturgegeben Freunde ihrer selbst, das gilt für alle Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Brüder und Schwestern, Schwager und Schwägerinnen, Cousins und Cousinen, Schwippschwager und … na ja! Das ist nur bei Vätern und Töchtern anders, glaube ich jedenfalls. Wir wussten, dass der DOM erst dann endgültig auswerten würde, wenn die Erfassung aller objektivierbaren Daten eine axiomatische Kausalität zur Folge haben würde. Das ist immer sein Prinzip gewesen, auch beim alten DOM war es so, nur der hatte eine andere Definition von Axiom: Einein sich wahre Aussage11 ist die, die die Wahrheit des alten DOMs entsprach. Eine Inquisition zum Beispiel hatte überhaupt keine axiomatische Dimension, sie entsprach nur der Wahrheit des DOMs, die Geburt von Hitler, Stalin oder Kim Il-Sung indes schon, hatte dann der neue DOM begriffen und gewartet, bis die Katastrophe für die Bereinigung der Geschichte sorgte. Seither fühle ich mich jedenfalls viel wohler, auch wenn die Zeit manchmal nicht vergehen will. Aber das Gespräch am 2. Juni 1967 hatte nun eine neue Dimension der axiomatischen Kausalität erreicht. Wirklich ins Leben gerufen hatte Friedrich Ebert senior ein Vermächtnis, das der Junior unter Verschluss gehalten, weil er es nicht verstanden hatte. Unbewusst vielleicht doch, denn es führte ja nun ohne Ausweg in den Verlust seiner Existenz. Aber er kannte eben auch nicht das Ganze, also das, das uns zu Bewusstsein geführt hatte. Niemand ist dem DOM gewachsen, nur der DOM12 selbst kann sich vernichten. Einmal in der Geschichte hat er das getan, weil es sein musste, weil es eine axiomatische Kausalität war. Und weil ICH sonst nicht existieren würde.

Friedrich Ebert senior hat in seiner Kurzfassung, die er seinem Sohn vererbt hatte, eine Zusammenfassung seiner Schriften vermacht, die in seiner Gesamtheit nicht aufgetaucht, wahrscheinlich in den Kriegsjahren vernichtet worden war. Manchmal wusste der DOM aber offenbar nicht unbedingt, was er tat. Ich, meine Existenz, ist ein Beispiel dafür. Jedenfalls ist für philosophisch vorgebildete Menschen, wie Heinrich Albertz ohne Zweifel einer war, nachvollziehbar, wenn Friedrich Ebert in seiner Kurzfassung von Begriffen sprach, die von Menschen, die sich mit dieser ontologischen Ebene des Lebens nicht beschäftigt haben,böhmische Dörfersind. Da geht es zum Beispiel umAnima Mundi13, umArchetypen, als Urbegriffe wieAnimusunsAnima14, es geht in der Konsequenz darum, dass der GAU15 im universalen Kontinuum bereits begonnen hat. Friedrich Ebert hatte die Begründung seiner Sichtweise zusammengefasst, sich aber in den Fußnoten immer auf seine komplexe Abhandlung berufen, exakt mit Seitenzahl und Zuordnung zum Leitsatz des jeweiligen Kapitels. Daher konnte ich das Ausmaß der Lücken auch ziemlich klar in Zahlen ausdrücken, leider (noch) nicht in eine inhaltliche Dimension. Diese Abhandlung war nicht mehr vorhanden. Friedrich Ebert junior hatte alle Häuser im Osten Deutschlands von oben bis unten durchsucht, in denen sein Vater diese Dokumente hätte verstecken können. Aber weder in den zwei Stadtwohnungen in Leipzig und Ostberlin und auch nicht in der Villa in Potsdam tauchten diese Papiere auf. Friedrich Ebert junior konnte diese Räumlichkeiten erst durchsuchen, als er als Bürgermeister von Berlin und Parteifunktionär der SED dafür die Macht hatte, denn selbstredend waren diese Wohnungen und das Haus Volkseigentum geworden, in denen Werktätige wohnten. Das Ferienhaus auf der Insel Usedom der Familie Ebert ergab ebenso wenig ein Suchergebnis, wie seine Villa in Hamburg-Blankenese, die ebenfalls ergebnislos durchsucht worden war. Hier war sein eigentlicher Hauptwohnsitz, in dem sich Friedrich Ebert senior in seiner Lebenszeit nicht nur aufgehalten, wenn er dienstlich im Hamburgischen unterwegs war. Seine Haupttätigkeit zwang ihn aber meist nach Berlin.

In Görlitz war er bekanntermaßen jedoch nie, das wusste ich und natürlich auch sein Sohn. Offenbar hatte nur der DOM da andere Informationen, wenn der DOM überhaupt über Informationen verfügte. Friedrich Ebert junior hatte die Kurzfassung seines Vaters für Quatsch gehalten, wusste mit den Begriffen nichts anzufangen, und vermutete, dass sich sein Vater einen Scherz erlaubt hatte, um ihn, seinen Sohn, den er weder geliebt noch in seiner Gegenwart geduldet hatte, zu quälen und zu entmündigen. Friedrich Ebert junior kannte seinen Vater kaum, erzogen wurde er von einer Kinderfrau, denn die Mutter hatte Besseres zu tun im republikanischen Berlin, nämlich Feste zu besuchen, neueste Modetrends zu sponsern und ihren Mann repräsentativ zu begleiten. Daher hatte der Sohn die für ihn unverständlichen Begriffe zwar nachgeschlagen, auch diverse Erklärungen und Erläuterungen gefunden, der geistige Nebel blieb. Ein Duden ersetzt eben nicht Erkenntnis. Heinrich Albertz hatte es mit wenigen, durchdringenden und dennoch wohlgesetzten Worten geschafft, dem Sohn seinen Vater zu erklären. In jener Nacht am 2. Juni 1967. Es waren tatsächlich Tränen geflossen. Das ist sehr, sehr selten gewesen in jenen Jahren, dass zwei Männer weinten, nur, weil sie eine gemeinsame Erkenntnis hatten. Viele Männer haben tolle Erkenntnisse, täglich, stündlich, ja, jede Minute. Aber Tränen fließen dabei kaum. Vielleicht sind Tränen ja ein Indiz dafür, Wahrheit zu entzünden. Frauen entzünden daher immer mehr Stoff, der die Welt zur Explosion bringt, zumindest aber ihre Tränendrüsen. Also waren diese beiden Männer zu Frauen geworden, kryptisch jedenfalls, denn mir war das Ganze ein wenig zu weinerlich. Man kann ja Erkenntnis einfach so nehmen wie sie ist, nicht wahr. Dem DOM jedenfalls hatte ich niemals eine Träne hinterhergeweint, weder dem alten noch dem neuen. Ich weine nur, wenn ich träume, wie gesagt, sehr selten.

Heinrich und Friedrich hatten sich dann darauf geeinigt, dass Heinrich das Kreuz zu tragen hatte. Schließlich war er derjenige, der Erkenntnis eingeleitet hatte, wohl schon in sich trug, sonst hätte er sich auf meine Einladung nicht eingelassen. Ich fand das in Ordnung und verzichtete deshalb darauf, Friedrich Ebert junior kurz nach dem Grenzübergang Friedrichstraße totzuschlagen, obwohl … Heinrich Albertz wusste in jener Nacht natürlich nicht, dass er selbst im Jahre 1972 in München und Mogadischu ein Indiz für die Richtigkeit Friedrich Ebert seniors Theorem beitragen würde.

Und ich war froh, dass ich nicht schon wieder töten musste. Habe ich auch später nie wieder getan oder beabsichtigt!


1 geb.: 22.01.1915, verst.: 8.05.1993

2 geb.: 18.12.1913, verst.: 8.10.1992

3 Staatssicherheit der DDR

4 Komitee für Staatssicherheit der Sowjetunion

5 Central Intelligence Agency der USA

6 Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionnage, Frankreich

7 Secret Intelligence Service, United Kingdom

8 Eine der wenigen bekannten und verurteilten Aufseherinnen des Konzentrationslagers Ausschwitz.

9 Deismus geht davon aus, dass Gott am Anfang und am Ende Sein hat, aber keinen Einfluss auf die Zeit dazwischen nimmt.

10 Allmacht

11 eben jenes Axiom

12 Deis (Deismus ist eine Glaubensausrichtung, die zwar an eine göttliche Schöpfung glaubt, nicht aber auf eine göttliche Einwirkung auf das irdische Geschehen Deis ist das Gesetz vor der Wirklichkeit, während der Theist Gesetz und Wirkung gleichsetzt), Omnipotate (Omnipotenz ist die Fähigkeit, alle Dinge und Prozesse zu beeinflussen, auch jenseits jeder Naturwissenschaft, also ein scheinbarer Widerspruch zum Deismus, aber genauer betrachtet eine Dialektik, also die andere Seite einer Göttlichkeit – Omnipotate entscheidet über die Ausrichtung im Prozess der Wirklichkeit), Mystica (ist die absolute Wirklichkeit, nicht mit der Wahrheit zu verwechseln, denn die ergibt sich aus Deismus und Omnipotenz Mystica ist der operationalisierte DOM, der aber noch immer keine Sprache hat)

13 die Weltseele, das „kollektive Unterbewusstsein“ (nach C.G. Jung) oder die Verbindung Mensch – Kosmos (Kosmologie)

14 „Animus“ ist der Geist, der dem Element „Anima“ die Wirkung, also die Wirklichkeit („anima mundi“) ermöglicht.

15 Größte Anzunehmende Unfall

Das erste Kapitel ist Marie

Tchernobyl hat unsere Pilze verseucht. Aluminium unsere Gehirne. Japan und Norwegen rotten die Wale aus und Russland die Freiheit. Die Amerikaner sind klimadumm und die Polen und Rumänen kriminell. Schwarze Menschen sind immer die Opfer, außer sie treiben Sport. Sinti und Roma sind auch immer die Opfer, aber sie erzeugen selbst Angst-Opfer.

Marie war davon überzeugt, auch wenn sie keinen einzigen Norweger, Japaner, Russen, Amerikaner, Polen, Rumänen, einen schwarzen Menschen, Sinti oder Roma jemals kennengelernt hatte. Eigentlich hatte sie sowieso nur sehr wenige Menschen kennengelernt, und die mochte sie ausnahmslos nicht, jedenfalls an die sie sich erinnern konnte. Das waren Deutsche, oder Eingedeutschte, woher auch immer – so wie sie.

Mit Pilzen kannte sie sich aus – und mit Gehirnen. Da gibt es eine ganze Menge an Symmetrien, fand sie. Das Wort „Symmetrien“ hatte sie in der Zeitung gelesen und besser gefunden als „Ähnlichkeiten“ oder „Übereinstimmungen“. Pilze und Gehirne. Manche sind sogar optisch identisch, aber das ist nicht die wesentliche Wesensgleicheit. Marie fand den Geschmack ähnlich, irgendwie nussig. Die Gehirne, die sie bisher verspeist hatte, waren dennoch in sich sehr, sehr unterschiedlich. So unterschiedlich wie Maronen, Steinpilze, Boviste oder Krause Glucken – oder Trüffel. Korallenpilze, die, die den Gehirnen optisch am nächsten kamen, waren Marie geschmacklich unbekannt. Natürlich. Sie sind ja ziemlich giftig. Gehirne nicht.

Schweinegehirne. Marie liebte sie. Sie fand, dass sie geschmacklich von Gehirn zu Gehirn sehr deutlich variierten. Schweinepersönlichkeitsgeschmack, nannte sie es.

Im Frühjahr und im Sommer fand sie natürlich eine ganze Menge Gemüse, wie sie es nannte. Brennnesseln, Farnschößlinge, Giersch, Benediktenkraut, Blutwurz, Bilsenkraut und anderes Grünzeug, von dem sie wusste, dass sie nicht nur essbar, sondern sehr nahrhaft waren. Woher sie das wusste, wusste sie hingegen nicht. Daher war sie der Überzeugung, dass sie aus einem der Armenländer Osteuropas kam, wo die Natur noch voll zur Ernährung der Bevölkerung genutzt wurde. Jedenfalls glaubte sie das. Gegen Herbst kamen natürlich Beeren, Blaubeeren und wilde Erdbeeren zum Beispiel dazu, und Hagebutten, Haselnüsse und Bucheckern.

Mehr benötigte sie nicht.

Pilze und Gehirne, Kräuter und Waldgemüse, Nüsse und Beeren, in dieser Reihenfolge ging es ihr am besten; dann war sie sogar glücklich, vor allem, wenn sie ganz klein wenig getrockneten Fliegenpilz untermischte.

Sie hatte gelernt, auch die bösen Gewächse für sich zu nutzen. Efeu, Sumach, Mutterkorn, Blutweiderich, Schierling, Eisenhut, Eibe oder Alraune.

Wie der Fliegenpilz sind diese Gewächse sehr giftig, aber sie helfen in kleiner Dosierung gegen Hautpilz, Läuse, Krätze, aber auch gegen Husten, Schnupfen, Durchfall oder Wundbrand. Der Fliegenpilz gegen Depressionen machte Lachen.

*

Die Schlachterei neben ihrem Wald verwertete fast alles vom Tier zum menschlichen Verzehr, aber begrenzt die Gehirne. Sie wusste, dass es durchaus Speisen gab, die Schweine- oder Rinderhirn enthielten. Norddeutsche Gerichte wie Pinkel oder Knipp, auch Grütze genannt, was sie zutreffend aber auch witzig fand. Grütze!

Auch in Wurst und Pastete war häufig Hirn enthalten. Aber das meiste an Hirnen ging wohl anderer Verwertung zu: Tierfutter, vermutete sie. Denn die Container mit Schlachtabfällen standen auf dem Hof, offene Container ohne Kühlung. Ungefähr so wie der Fischgammel in den Fischereihäfen an den Küsten. Auch das kannte Marie. Es war aber schon eine Weile her, dass sie Herings- oder Kabeljaumilch zu sich nehmen musste.

Hier in der Schlachterei waren die Abfälle hübsch sortiert: Schweinegehirne, Rindergehirn und anderer Abfall, der in der Regel schon stank. Auch die Rinderhirne waren meist Matsch und wirklich unästhetisch. Aber die Schweinegehirne waren fest, nicht irgendwie glitschig, wie man es sich so vorstellte, jedenfalls die frischen, die gerade aus der Schlachtung kamen. Und sie nahm sich immer nur das Beste, denn niemals nahm sie mehr als ein Gehirn mit. Sie benötigte natürlich nur ein einziges für sich. Manchmal für eine Woche, manchmal aber auch für vierzehn Tage.

Marie hatte gelernt, dass sie diese tierischen Proteine benötigte. Nur Waldgemüse, Beeren und Nüsse reichten einfach nicht aus. Das wusste sie schon seit Langem. Ohne sie bekam sie Muskelkrämpfe, Durchfall und/oder Hautausschlag. Auf ihrer langen Reise, die ja nun schon einige Jahrzehnte andauerte, hatte sie sich daher immer wieder Orte gesucht, in denen sie irgendwie Zugang zu solchen Proteinen hatte, entweder Fisch oder Fleisch. Fisch mochte sie eigentlich lieber, und er hatte den gleichen positiven Effekt auf ihre Gesundheit. Jedenfalls wenn es sich um frischen Fisch handelte. Aber natürlich auch sogenannter Fischgammel. Milch, Rogen, Schwimmblase und andere Fischinnereien, die jedoch nur gut ausgekocht mit diversen Kräutern genießbar waren.

Hier, in der Göhrde, zwischen Lüchow und Dannenberg, hatte sie einen idealen Platz gefunden, der ihr regelmäßig die Zufuhr dieser tierischen Proteine ermöglichte, ohne dass sie selbst einem Tier schaden musste.

Das war zwar auch beim Fischgammel in Bremerhaven so gewesen, dort war sie aber ständig in Gefahr, entdeckt zu werden. Der Fischereihafen Bremerhavens ist zwar riesengroß mit einer ganzen Reihe von brachliegenden Flächen, aber es war nachts immer etwas los. Entweder kamen Fabrikschiffe, meist aus Island oder Norwegen, die entladen und versorgt werden mussten, und/oder es fanden sehr frühmorgens die Auktionen statt, die dann eben auch Ausschussware hinterließen, die ihre Bedürfnisse nach Fischproteinen befriedigte. Auch viele Fischer waren sturzbetrunken unterwegs und kreuzten ihre Wege; meist konnten diese sich allerdings nicht an sie erinnern, und wenn, war sie die weiße Deliermaus in Menschengestalt.

Aber in Bremerhaven hielt sie sich nur ein halbes Jahr auf. Der Winter war hier zu nasskalt. Sie war meist nur ein halbes Jahr geblieben, im bayerischen Wald, im Breisgau, im Sieger- und Emsland, auch im Harz und Teutoburger Wald. Die Wälder waren immer ertragreicher gewesen, fand sie, nur die tierischen Proteine hatte sie hier nicht in ausreichender Menge gefunden. Außer, wenn sie selbst tötete. Und das hatte sie nur ein einziges Mal getan. Und da war sie im Recht!

In der Göhrde fand sie nun aber alles, was sie benötigte und auch mehr Schutz, vor Menschen, vor Wetter und vor dem DOM.

Es waren eben Pilze und Gehirne. Sie sättigten trotz Nanosievert aus Tchernobyl, jedoch abnehmend, dafür ohne Aluminium, denn Deos und Zahnpasta mit Aluminium nehmen Schweine selten zu sich.

Marie fühlte sich als Gestrandete. Wenn jemand sie kennen würde, würden diese sie ebenfalls als Gestrandete bezeichnen. Diejenigen meinten jedoch „gestrandet an den Grenzen des Sozialstaates“. Sie selbst fühlte sich gestrandet an der Küste der Welt, am Strand des Lebens. Gestrandet in einer Art von Paradies, dort, wo andere Urlaub machen, auch wenn sie einen Badestrand nun nicht gerade vor ihrer „Haustür“ hatte. Die Gutbürger nannten das „Revival“ oder „Buchinger“ und gönnten sich alle fünf Jahre vierzehn Tage in der Natur oder in Esspause. Mit Guide und merkwürdigen Kosten, die bestimmt nicht der Nahrung geschuldet waren.

Marie ist heute sechzig Jahre, drei Monate und sieben Tage alt. Sechsundvierzig Jahre und eben jene drei Monate und sieben Tage lang lebt sie nun in diesem Deutschland. An ihrem vierzehnten Geburtstag war sie am Bahnhof in Passau angekommen und hatte seither jeden Tag in ihrem Bewusstsein gespeichert.

Sie war zwar hier angekommen in Passau, wusste aber nicht oder nicht mehr, woher sie gekommen war. Sie glaubte Moldawien, Bulgarien oder vielleicht kam sie aus der Ukraine. Sie wusste es nicht. Ihr Deutsch war jedenfalls nicht das, das man in Passau sprach. Sie war sehr krank, erinnerte sie sich. Kam im Flieger auf dem Münchener Flughafen an. Aber woher, hatte sie vergessen. Sie wusste nur, dass sie plötzlich einen unerwarteten Überlebenswillen spürte, dass sie alles ablehnte, was mit Alkohol oder Drogen zu tun hatte, obwohl ihr klar war, dass sie in einem Rotlichtmilieu der übelsten Sorte gelandet war.

Die ersten drei Wochen im Passauer Bordell gab es eine Ansprache: „Dumme kleine Fotze, mach die Beine breit“, oder „Blas mir einen, aber schnell!“ Daran konnte sie sich erinnern. Aber auch diese deutsch-bayerische Konversation hatte sie nun seit fünfundfünfzig Jahren nicht mehr benutzt, jedenfalls nicht in Interaktion zur eigenen Spezies. Sicher hatten die anderen Mädchen mit ihr anders gesprochen, Marie wusste es aber nicht mehr. Sie wusste nur, dass sie in Deutsch dachte. Und in Deutsch Zeitungen las. Immer wieder, so ungefähr einmal im Monat. Manchmal gelang es ihr auch, ein-, zweimal in der Woche eine Zeitung zu ergattern. Leider nur die „BILD“-Zeitung, weil die Schlachtereiarbeiter eben nicht die „ZEIT“ oder die „TAZ“ lasen. Aber Marie kannte auch diese Zeitungen. Vier-, fünfmal im Jahr machte sie sich in die Städte Dannenberg oder Lüchow auf, sie lebte sozusagen genau in ihrer Mitte. Nachts natürlich und durchstöberte die „blauen Tonnen“, anfangs die Stapel der Papierabfuhr, während ihre Wildsaufreunde die grauen Mülltonnen umstießen und deren Inhalt bevorzugten. Die Wildsauen interessierten sich nicht sehr für die Tagespresse. Aber richtig Freunde waren sie auch nicht geworden, die Bachen und sie, und die Keiler schon gar nicht. Vielleicht weil sie ihre, oder vielmehr die Gehirne ihrer Verwandten als Hauptnahrungsquelle nutzte.

Hier in der Göhrde hatte sie ihr Zuhause gefunden. Es hatte viele Jahre gedauert, um ein endgültiges Zuhause zu bekommen. Hier fühlte sie sich wohl. Hier war sie wirklich unentdeckt. Hatte sich nach und nach ihre Höhle gebaut, die nicht entdeckt wurde, nun schon viele Jahre. Wie viel Jahre hier in der Göhrde wusste sie indes nicht. Sie hatte sich darauf konzentriert, die Zeit als Ganzes zu dokumentieren in ihrem Hirn, nicht die Abschnitte. Das wäre zu viel für ihr kleines Hirn, hatte sie empfunden.

Dabei hatte sie sich die Räume einverleibt. Jeden Raum seit über sechsundvierzig Jahren. Den Weg von München nach Passau, in einem Lkw, die drei Wochen in einem Bordell mit gewalttätigen Zuhältern, stinkenden Freiern und eifersüchtigen Huren um sie herum.

Aber auch die Wege, die keine Wege waren. Sie war durch den Bayerischen Wald gestiefelt, ohne Stiefel zu haben. Sie hatte sich die Füße wundgetreten und zum Gegenschmerz sich die Fingernägel bis zur Wurzel abgekaut. Jeden Tag hatte sie gestohlen, vor allem in kleinen Dörfern, wo die Menschen die Türen nachts aufließen und auf die Wachsamkeit der Nachbarn hofften.

Sie war einen Weg gegangen, auf dem sie jeden Schritt als Geschenk des Lebens und gleichzeitig als Bestrafung empfand für eine Schuld, die sie nicht wirklich definieren konnte. Es war irgendwie eine Balance, auch wenn sie immer wieder vor Barrieren stand, die sie überwinden musste. Es war nicht nur Hunger, Kälte und Nässe. Es waren auch Menschen, oder Dinge, die von Menschen gemacht wurden. Autobahnen zum Beispiel. Oder Kanäle, abgezäunte Militärgebiete, hochsicherheitsgeschützte Privatbesitze.

Aber Marie war klein und wendig. Sie kam irgendwie überall durch, auch wenn sie manchmal Umwege gehen, schleichen musste. Sie stahl nur das, was sie wirklich benötigte. Niemals so viel, dass die Menschen die Polizei riefen. Sie stahl vor allem, wenn Sperrmüll entsorgt werden sollte, oder aus den Kästen für Altkleidersammlungen. Sie staunte immer wieder, was diese Menschen alles so wegwarfen. Zum Glück für sie.

Das tat sie auch heute noch in Dannenberg, aber sehr, sehr reduziert. Im Herbst vor allem, wenn sie Wintersachen benötigte. Sie hatte sich einen Steinofen gebaut, rote Ziegelsteine gestohlen, aber immer nur zwei-, dreimal von dieser, mal von jener Baustelle, mehr konnte sie auch nicht tragen.

Kein Mensch wusste von ihr! Niemand! Und nun war sie über sechzig Jahre alt und bemerkte, dass sie sich in den nächsten Jahren zum Sterben bereit machen musste.

Obwohl sie kerngesund war. Jedenfalls schätzte sie es so ein. Die letzten Schmerzen, die sie gespürt hatte, waren die der Zuhälter, die sie schlugen und die der Freier, die sie vergewaltigten. Sie hatte natürlich häufig gefroren und gehungert. Sie hatte sich verletzt an diversen Stacheln und Dornen. Ja, sie hatte sogar einmal mit einem Keiler gehadert, der ihr eine schlimme Wunde in die Seite verpasst hatte. Anfangs hatte sie schiere Furcht, dass ihre Niere betroffen sei, denn dann hätte sie keine Überlebenschance gehabt, glaubte sie damals. Am Ende war sie fast ein Skelett, Bucheckern hatten sie aufgebaut. Nichts anderes als Bucheckern und ihre giftigen Kräuter, die sie auf die Wunde gelegt oder wohldosiert zu sich genommen hatte. Aber das waren nicht die Schmerzen, die die Zuhälter ihr angetan hatten, die waren nicht zu toppen.

Auf den Fliegenpilzgenuss hatte sie selbstverständlich in dieser Zeit verzichtet, als der Unfall mit dem Keiler passiert war, auch wenn es ihr schwergefallen war. Sie wusste, dass die Kräuter nicht gegeneinander kämpfen durften in ihrem Körper, sondern miteinander. Ein Rausch im Kopf würde die Mixtur versauen. VerSauen!

Sie hatte sich gerächt an diesem Wildschwein, denn außer Trüffeln mochten Wildschweine Bucheckern am liebsten. Sie fühlte sich großartig, als sie ihren bösen Feinden ihr zweites Lieblingsessen wegfraß. Und für Trüffeln benötigte sie mittlerweile Wildsauen nicht mehr. Ihr Geruchssinn hatte sich lange dem Wald angepasst. Jeden Pilz kannte sie. Jede Trüffel. Sie hatte in der WELT gelesen, dass es dafür Experten geben würde, die ganz, ganz viel Geld verdienen würden. Sie wäre die Beste, wusste sie, aber nicht, was sie mit Geld anfangen sollte.

Die Bucheckern-/Kräuterkur half dann irgendwann, sie kam langsam wieder zu Kräften. Es war Frühjahr und Sommer, im Herbst oder Winter hätte sie nicht überlebt. Aber es blieben Narben. Heute wusste sie, dass doch ihre Niere betroffen gewesen war. Sie hatte bemerkt, dass sich ihr Urin veränderte, gelber wurde, dunkel. In ihrer Fantasie hatte eine Niere ihre Arbeit eingestellt.

Sie selbst hatte sich dann wieder ins Leben zurückgerufen. Sie hatte den Eber gesucht, der sie verletzt hatte. Sie hatte sich sein Gesicht gemerkt. Er konnte ihr nicht entkommen. Und sie fand ihn und rang ihn zu Boden. So klein und unscheinbar sie war, hatte sie gelernt, ihre Muskeln zu benutzen, auf die einzig richtige Art, dem Raum und der Zeit in Einklang genügend. Der Eber hatte keine Chance. Er musste sterben und Marie aß sein Gehirn, ein Schweinegehirn, frisch und wild. Die besonders wertvollen Teile des Schweines, wie Filet, Schinken und Kotelettrippen hatte sie in ihrem Backofen zubereitet. Dann schnitt sie den Rest in Streifen und trocknete das Fleisch in den Bäumen und aß sechs Monate lang getrocknete, gelagerte, gesalzene (das sie immer wieder aus dem nahen Salzstock abschöpfen konnte, das natürlich für andere Zwecke vorgehalten wurde) tierische Proteine. Nur wegen dem Geschmack holte sie sich zwischendurch mal ein Schweinegehirn. Es war ihr schönster Winter. Aber dennoch würde sie nie wieder ein Tier töten, keinen Keiler, keine Ratte, keinen Igel, keinen Käfer und kein Insekt!

Die Schweinegehirne der Schlachterei waren eh schon tot; daran konnte sie nichts mehr ändern, und konnte sie essen, des tierischen Eiweißes zuliebe.

Die Wildschweine ließen sie ab sofort in Ruh’. Marie glaubte, sie hatten verstanden, wie sie mit ihnen umgehen würde, wenn ein Keiler es noch einmal wagte …

*

Und nun, ja nun, dachte sie daran, ob es Sinn gemacht hatte, ein Leben wie das ihre zu leben. Sie hatte ihr Dasein bislang niemals hinterfragt, auch nicht, als sie die Zeitungen der sogenannten Zivilisation von vorne bis hinten durchgelesen hatte. Manchmal dauerte das mehrere Tage, weil sie natürlich jeden Buchstaben genoss, einschließlich des Impressums und der merkwürdigen Werbung an mancher Stelle. Sie lernte daraus, die Sprache und die Dimension des möglichen Denkens. Daher las sie jede Zeitung mehrmals. Sie glaubte, dass sie mehrere Artikel wohl auswendig präsentieren konnte. Es gab nur kein Forum dafür, deshalb wusste sie es natürlich nicht. Sie fühlte sich als Metasapiens16.

Kultur war der Renner in ihrer Betrachtung des Seins, des anderen Seins. Und Politik. Sie stellte sich einen Japaner vor, einen Russen und einen Sinti. Sie hatte kein Bild. Einen schwarzen Menschen hatte sie ein-, zweimal in einer der Zeitungen gesehen, aber auch, dass es da ein Braun gab, das nicht wirklich schwarz war. Warum gibt es eigentlich keine „Braunen“, hatte sie jahrelang gerätselt. Dann war sie darauf gekommen. Es gab da eine semantische Barriere und die Brücke war der Geist: Braun ist eine Gesinnung, Schwarz ist auch eine Gesinnung, aber eine scheinbar legitime. Aber die schwarze Gesinnung hat gar nichts mit den schwarzen Menschen zu tun und die braune Gesinnung ist das Gegenteil brauner Hautfarbe! Und weiße Hautfarbe scheint völlig unpolitisch zu sein, es sei denn, weiße Menschen sind Politiker.

Der Geist ist offenbar beliebig. Raum und Zeit nicht!

Der DOM lässt grüßen, dachte sie. Aber sie machte keine Witze über den DOM. Eigentlich machte sie überhaupt keine Witze. Sie wusste, obwohl sie manchmal auch herzlich lachen konnte, wenn sie das Feuilleton einiger Zeitungen las, dass der DOM nicht mit Humor zu bekämpfen war. Dass er indess bekämpft werden musste, wusste sie, nicht nur, weil der sterbende Keiler es ihr verraten hatte. Der Keiler hatte es nur verifiziert. Den Begriff verifizieren hatte sie studiert. Er tauchte immer wieder in den Zeitungen auf. Verifizieren verstand sie als sich unbedingt festlegen – der Keiler hatte sie unbedingt festgelegt, dass der DOM ihr eigentlicher Feind war, nicht der Mensch. Nicht der einzelne Zuhälter, der ihr persönlicher Feind geworden war. Und schon gar nicht der Keiler. Der war ihr Gegner auf Augenhöhe geworden. Und ihr Partner, als er starb. Sie aß ihn mit Respekt!

Warum aber Geist, Raum und Zeit ein Monster wie den DOM hervorrief, konnte Marie nicht erklären. Sie hatte sich eine Zeit lang bei den Externsteinen aufgehalten, im Weserbergland, ein halbes Jahr. Die waren nix, hatte sie gedacht, ebenso die ganzen bayerischen Pilgerorte. Nix, nirgendwo war der DOM oder irgendein Gegenspieler zum DOM, den gab es offenbar gar nicht! Wer sollte das auch schon sein? Nix, keine Seelenwanderung, die irgendwie erspürbar war. Der Keiler war bisher der einzige Seelenwanderer, den sie erlebt hatte.

Nein, der DOM war keine Person. Und der DOM hatte seine Grenzen immer dann, wenn Raum, Zeit und Geist im Einklang waren. Wenn heute heute bleibt und morgen morgen – der Raum sich nicht in die Zukunft biegen muss und der Geist akzeptiert, dass die Zukunft nur ein Plan ist, die Idee aber im Hier und Jetzt stattfindet.

Eigentlich war sie dem DOM noch nicht wirklich begegnet, aber wenn sie zum Beispiel die „BILD“-Zeitung las, spürte sie den DOM deutlich.

Nun war sie eben sechzig Jahre alt und dachte, es wäre nun Zeit, sich auf’s Sterben vorzubereiten. Sie wollte ihren Tod lange vorbereiten, aber nicht auf irgendein Datum festlegen. Aber sie wollte dafür sorgen, dass ihr Tod nicht ohne Wirkung bleiben würde. Sie wollte sich nicht etwa rächen, sie wusste nicht wofür und gegen wen sich ihre Rache wenden könnte. Sie wollte auch nicht ein noch neueres Testament, ein religiöses Vermächtnis hinterlassen. Sie hatte in all den Jahren kein einziges Wort aufgeschrieben, worauf hätte sie das auch tun sollen. Papier (außer bedrucktes Zeitungspapier, das sie aber für das Zünden von Holz in ihrem Ofen benötigte) besaß sie nicht. Computer kannte sie nur aus den Berichten in den Zeitungen.

Aber sie kannte die Sprache der Bäume. Über das Qi hatte sie gelesen in einem Artikel, der von traditioneller chinesischer Medizin berichtete. Sie spürte zwar nicht das Qi der Menschen, aber das der Bäume. Zum Beispiel war sie sich ganz sicher, dass sie die Bucheckern nur deshalb gerettet hatten, weil sie die Bucheckern des Baumes gegessen hatte, an und mit dem sie lebte. Es war eben eine Buche, zu deren Füßen sie ihre Höhle gebaut und tunlichst unterlassen hatte, die Wurzeln zu beschädigen, die ihrem Höhlenbau im Wege standen. Nun durchzogen einige mehr oder weniger stämmige Wurzeln ihre untere Heimstatt. Hier hatte sie nur geschlafen, als sie arg verletzt war. Sie hatte befürchtet entdeckt zu werden, womöglich von Förstern oder Jägern. Normalerweise schlief sie weit höher, soweit, dass sie immer den Himmel zwischen den Baumwipfeln sehen konnte. Die unteren Höhlen beherbergten eher die Lebensmittel, die sie gesammelt hatte und andere Gegenstände, die sich dennoch bei ihr in den letzten Jahren, seit sie sich in der Göhrde aufhielt, angesammelt hatten. Schuhe zum Beispiel (die sie nur besaß, um sie zu besitzen, warum, wusste sie nicht, aber im Wald tragen konnte sie sie bestimmt nicht) und Wolldecken für kalte Herbste und Winter, wichtige Plastikplanen gegen Regen und Unwetter aller Art, aber auch Zeitungsausschnitte (sie hatte sich eine Schere organisiert, nicht nur für die Zeitungen, sondern auch für Finger-, Fußnägel und Haare); Dinge eben, die erst einmal trocken bleiben sollten. Die Wurzeln sorgten für ein kühles, aber deshalb trockenes Klima, weil sie die Feuchtigkeit aufsogen und in den bestimmt hundert Jahre alten Baum nach oben schickten. Marie war sicher, dass dazu auch der Hauch ihres Atems gehörte und sie daher in eine Art Symbiose mit ihm lebte.

Wichtiger waren ihr jedoch ihre Tinkturen, die sie hier lagerte. Benediktenkraut, Blutwurz, Bilsenkraut, aber eben auch Efeu, Sumach, Mutterkorn, Blutweiderich, Schierling, Eisenhut, Eibe oder Alraune und natürlich Fliegenpilzsud, getrocknet, alles in Dosierungen, die sie überblicken konnte. Insgesamt hatte sie in ihrer Höhle einhundertsechsundvierzig Tinkturen gelagert. Gläser, deren Beschaffung ihr anfangs am meisten zu schaffen gemacht hatten.

Obwohl sich ziemlich bald eine einfache Lösung abzeichnete. Die Schlachterei hatte natürlich ein Labor. Hier hatte vor allem der Kreisveterinär seinen Job zu machen, Proben zu nehmen, Gutachten zu schreiben, über den Gesundheitszustand der zu schlachtenden oder geschlachteten Tiere. Die regelmäßige Entnahme von Reagenzgläsern war auf die Dauer nicht auffällig, vor allem, wenn es nur ein-, zweimal im Monat geschah. Dass sich Marie allmählich unverdächtigen Zugang zum Verwaltungsgebäude und der Schlachterei beschafft hatte, war nur eine Frage der Zeit gewesen.

Selbst benutzte sie die Tinkturen nur, wenn sie sehr litt, also bei ihrer Verletzung zum Beispiel, oder Krankheiten, die sie unvermittelt befielen, vor allem, wenn es draußen stürmte, schneite oder stark regnete. Dann zog sie sich zurück in die tiefsten Gänge ihrer Höhle, eben dort, wo auch ihre Tinkturen standen.

Eigentlich war sie selten längere Zeit hier unten, manchmal, wenn sie sich verstecken musste, weil Waldarbeiter, der Förster oder eine dieser blöden Jagdgesellschaften in der Nähe waren. Das waren genau siebzehn Ereignisse in mehr als vierzig Jahren, davon höchstens drei in bedrohlicher Nähe. Ihr Albtraum war dennoch, dass diese Menschen auf die Idee kommen würden, ihren Baum, ihre Buche zu fällen. Aber offenbar konzentrierten sich die Waldläufer mehr auf Nadelbäume oder Rehböcke, wieso, wusste sie nicht. Ein einziges Mal hatte sie eine ziemlich lärmende Familie erlebt, Mutter, Vater und drei Kinder, Marie schätzte zwischen acht und dreizehn Jahren, die offenbar (ihre) Pilze suchten.

Anfangs hatte Marie sie als feindlichen Eingriff in ihre Lebenswelt eingestuft. Dann aber, als sie bemerkte, dass die Familie sich ohne Gefahr beobachten ließ, hätte sie sich beinahe eingemischt. Als Vater Pilzsucher seinen drei Kindern zum Beispiel erklärte, was ein Pilz ist. Dass der eigentliche Pilz das Mützel sei und unterirdisch lebt. Weder Pflanze noch Tier ist und dass der sichtbare Pilz nur der Fruchtkörper ist, um sich fortzupflanzen. Als er dozierte, dass der Pilz im Einklang mit dem Baum lebt und nicht sein Schmarotzer ist, hätte sie ihn beinahe umarmt.

Und sich so sehr gesehnt. Als Mutter Pilzsucherin dann ergänzte, dass nur die essbaren Fruchtkörper langsam herausgedreht werden dürften, um das Mützel nicht zu beschädigen und die giftigen nicht zerstört, sondern einfach nur in Ruhe gelassen werden dürften, liefen Marie die Tränen heraus wie ein Wasserfall.

Nun, nur hier, ein einziges Mal in ihrem Leben, wenn man mal vom Sterbevorgang des Keilers absah, hatte sie Liebe erlebt.

Die Zeitungen waren voll von diesem Begriff Liebe, aber offenbar hatten die Redakteure davon keine Ahnung, am wenigsten die „BILD“-Zeitungsredakteure, die Liebe offenbar mit irgendwelchen körperlichen, meist sexuellen Handlungen in Verbindung brachten.

Sie hatte nun langsam begriffen: Die Kinder wurden von ihren Eltern geliebt und diese bekamen offenbar auch ein wenig Liebe von ihren Kindern zurück, wenn auch nicht so intensiv.

Mein Baum, dachte sie, ist mein Vater und meine Mutter zugleich. Ich bin kein Schmarotzer! Ich gebe und nehme von meinem Baum. Sein Qi gibt mir Erkenntnis – ach, könnte er mir doch die Wirklichkeit erklären!

Und den DOM!

*

Marie war etwas erschrocken, als ich mich zu erkennen gab. Irgendwie hatte sie zwar mit mir gerechnet, später stellte sich dann heraus, dass sie mich verwechselt hatte, klar mit dem DOM, aber das ist ja nun auch schon Geschichte. Alle, mit denen ich in Kontakt trete, glauben, ich sei der Vasalle vom DOM! Bin ich aber nicht! Bin nur sein Geschöpf!

Marie hatte es nach wenigen Sekunden erkannt. Klar, bei ihr war es viel, viel einfacher als bei Heinrich und Ilse. Die beiden musste ich überzeugen, dass ich mit dem DOM nicht kollaborierte. Heinrich und Ilse kannten den DOM allerdings auch nicht, sie fühlten wohl seine Existenz, konnten aber den DOM nicht identifizieren, weil erst das Gesagte Identität bekommt.

Marie indes kennt den DOM, auch wenn sie ihn nicht identifizieren kann. Und sie kennt mich, auch wenn sie natürlich nicht weiß, dass ich ihr seinerzeit im Bayerischen Wald gezeigt hatte, welche Pilze, welche Kräuter und Waldgemüse genießbar sind und welche Gewächse andere Kräfte besitzen.

Das machte mir richtig Spaß. Es war wie derNürnberger Trichteroder wie ein trockener Schwamm. Ich schüttete hinein und Marie reagierte wie Nesselfieber. Sie pulsierte. Sie weiß nun nichts mehr davon. Das darf sie auch nicht! Menschen reagieren merkwürdig, wenn ihnen bewusst wird, dass sie nicht selbst Erkenntnis erlangen, sondern von außen mit der Stirn auf das Augenscheinliche gestubst werden – oder mit der Nase.

Tiere sind da stolzloser, wohl, weil sie bessere Nasen haben!

Lange hatte ich Marie aus den Augen verloren, es gab eben anderes zu tun, aber nun redeten wir die ganze Nacht!


16 ein Mensch (Homo Sapiens), der übergeordnet (Meta) beobachtet

Kapitel zwei sind Ragna, Max und Sophie

1967 war er dreizehn Jahre alt, hatte also keine Ahnung von der „großen“ Politik, vom Umbruch, der sich in Deutschland abzeichnete. Aber er war Ende Mai bis Anfang Juni 1967 in Berlin, also während des Schahbesuchs Reza Pahlavis. Die evangelische Jugend hatte, selbstredend in Unkenntnis der zu erwartenden Demonstrationen, sei es aus christlich-pietistischer Naivität oder der völligen Ignoranz gegenüber dem real existierenden politischen Bildungshunger von pubertierenden Konfirmanden, diese Reise als Gemeindepatenschaft mit der Michaeliskirchengemeinde in Schöneberg organisiert.

Dreißig Jugendliche, paritätisch fünfzehn männliche und fünfzehn weibliche, machten sich auf, per Schlafsack im Gemeindehaus in Berlin-Schöneberg zu übernachten, drei Wochen lang. Selbstredend galt das nur für die fünfzehn Jungs. Die fünfzehn Mädchen waren im Damenstift der Gemeinde drei Straßen weiter untergebracht. Die frommen Organisatoren irrten auch hier. Für hormonellen Hunger gab es weder in Westdeutschland noch in Berlin irgendeine Barriere, die das Zusammenkommen der konkaven und konvexen Population einer Spezies verhindern würde, also rein passgenau gesehen.

Ragna war aber nicht wirklich interessiert, jedenfalls nicht an den fünfzehn Jungs, die mit ihr nach Berlin reisten. Sie hatte von der Kommune 3 gehört und gelesen, hatte die Nacktbilder gesehen, die große Freiheit, die sie sich versprach, „Als Frau, als lustbetonte Frau, die ja durch ihre Lust erst ihre sexuelle Domäne entwickeln konnte“ (diesen Satz hatte sie auswendig gelernt). Natürlich interessierte der dreizehnjährige Max sie überhaupt nicht! Er war ja kein Mann, also ein Junge halt, der für sie als (fast) richtige Frau kaum von Interesse sein konnte.

Dennoch hatte Max eine gewisse Attraktivität. Zufällig gingen sie in die gleiche Schule, Realschule Klasse R 8 b, und waren eher durchschnittlich an den Leistungsanforderungen der Lehrer interessiert. Ragna war drei Monate jünger als Max, was sie aber natürlich durch eine geschickte Radierung im Schülerausweis in neun Monate älter revidiert hatte.

Max hatte nämlich eine Tante in Berlin. Ragna nicht. Sie hatte eigentlich gar keine Tanten, Onkels oder so etwas, weil ihre Eltern aus Ostpreußen stammten. Und da gab es wohl keine Onkels und Tanten, oder überhaupt Verwandte. Ihre Eltern jedenfalls trafen sich niemals mit Verwandten und wenn sie von ihnen sprachen, dann sagten sie zum Beispiel‚ „die sind in Theresienstadt geblieben“ oder „in Ausschwitz“. Ragna hatte daraufhin in den Schulatlas geschaut und eingesehen, dass die Verwandten wohl zu weit weg wohnten, um sie zu besuchen. Vielleicht waren sie ja arm und konnten sich eine solche Reise nicht leisten. Arm waren sie, also ihre Familie nun nicht gerade, fand sie. Vater war Kranfahrer im Hafen und machte mit Überstunden und Nachtschichten einen „guten Schnitt“, wie er manchmal sagte, aber für eine Fahrt, zum Beispiel nach Theresienstadt in Polen, reichte es offenbar auch nicht. Aber einer Fahrt mit der Evangelischen Jugend nach Berlin hatten die Eltern zugestimmt. Vater hatte wohl ein paar Schichten mehr gemacht als sonst.

Max hingegen hatte viele Verwandte, das sagte er jedenfalls. Eine davon lebte nun in Berlin und Ragna und Max hatten sich neben der Schule auch in der evangelischen Jugend getroffen, rein zufällig, fand Ragna. Eigentlich hatten sie sich nicht getroffen, sondern sie waren neben der Schule auch im Konfirmandenunterricht zusammengekommen und der Diakon hatte ihnen vorgeschlagen, in die Jugendgruppe zu kommen. Das hatten sie beide getan, wie auch eine Reihe von anderen Kindern ihrer Schule.