Kerry Greenwood

Tod am Strand

Miss Fishers mysteriöse Mordfälle

Roman

Aus dem australischen Englisch von Regina Rawlinson

Insel Verlag

1

Wie gut Horaz die Brücke hielt
In der tapfern alten Zeit

Thomas Babington Macaulay, Horatius
Lieder des alten Rom

Der Elefant brachte das Fass zum Überlaufen.

Gleich einem Zerberus, allerdings mit weniger Köpfen ausgestattet, hielt Mr Butler nun schon den ganzen Tag die Stellung. Er wies Besucher ab, vertröstete Lieferanten und schickte gnadenlos alles in die Wüste, was sonst noch unbefugt eindringen wollte. Die Ehrenwerte Miss Phryne Fisher unterzog sich einem feierlichen Ritual. Die Türglocke durfte nicht klingeln, die andächtige Konzentration nicht gestört werden. Eine weihevolle Stille musste bewahrt bleiben.

Angesichts des besonderen Anlasses war die gesamte Familie aus dem Haus beordert worden. Miss Ruth und Miss Jane durften sich im Lichtspielhaus für ihre Allgemeinbildung die Wochenschau und zur Erbauung einen Cowboyfilm ansehen, anschließend zum Lunch in einem gediegenen Café einkehren und sich am Nachmittag im Museum ergehen. Die Hündin Molly war mit einem Knochen ruhiggestellt worden, der mindestens vom Oberschenkel eines Ochsen, wenn nicht von dem eines Mammuts hätte stammen können. Mrs Butler war, nachdem sie in ihrer Funktion als Köchin und Haushälterin noch einen unter einer Wolke aus Musselin gut geschützten kalten Mittagsimbiss herausgestellt hatte, in ihrer besten Jacke zum Hutkauf in die Stadt aufgebrochen. Dorothy, Miss Phrynes rechte Hand und enge Vertraute, wohnte den Riten selbstverständlich bei, genau wie der Kater Ember. Dreimal schon war Dot auf Zehenspitzen die Treppe heruntergekommen, um Mr Butler mitzuteilen, dass bis jetzt alles reibungslos verlaufe.

Und Mr Butler hütete die Tür. Wacker wies er jeden ab, der ungebeten des Weges kam: drei Hausierer (mit selbsttätigem Waschpulver, Fliegengift und einer ausgeklügelten neumodischen Mausefalle), sieben Damen der Gesellschaft sowie eine besorgte Mitarbeiterin aus dem Bürgermeisteramt mit einer weiteren läppischen Detailfrage zum bevorstehenden Blumenkorso. Eingeschüchtert hinterließ einer nach dem anderen seine Visitenkarte, machte auf dem Absatz kehrt und zog leise das Gartentor wieder hinter sich zu.

Während Mr Butler, halb an den Verandapfosten gelehnt, eine kleine Verschnaufpause einlegte, sich den Schweiß von der Stirn wischte und darüber nachsann, wie lange dieser Ansturm wohl noch anhalten würde, stieg der Elefant mühelos über den Zaun und baute sich Rüssel an Nase vor ihm auf.

Der Dickhäuter war erstaunlich groß und hatte kleine, kluge Augen, die zwischen tiefen Runzeln eingebettet lagen. Stumm und steif starrten Tier und Mensch einander an. Mr Butler verschlug es vor Verblüffung die Sprache. Er hätte höchstens ein »Husch!« herausbringen können, doch das erschien ihm angesichts der frisch angepflanzten Dahlien wenig ratsam.

Reglos standen sie voreinander, wie auf ein anglo-indisches Gemälde gebannt. Bis die Elefantendame, denn um eine solche handelte es sich, offenbar zu dem Schluss gelangte, dass der erste Schritt, die neue Bekanntschaft freundschaftlich zu vertiefen, von ihr kommen musste. Sie hob den Rüssel, nahm Mr Butler vorsichtig das Taschentuch aus der kraftlosen Hand und tupfte ihm behutsam die Stirn ab. Dabei gab sie ein eigentümliches Quieken von sich. Es klang mitfühlend.

»Danke schön«, sagte Mr Butler, ein gebrochener Mann.

»Ist Phryne zu Hause?« Als Mr Butler mit dem Blick der Stimme folgte, erblickte er eine nicht mehr ganz taufrische Frauensperson mit feuerrotem Haar, die breitbeinig auf dem Elefantennacken saß. »Sieht mir ganz so aus, als hätte Flossie sich in Sie verguckt. Ich hab aber auch noch nie einen netteren Elefanten besessen.«

Mr Butler nahm seine fünf Sinne zusammen. »Miss Fisher ist unabkömmlich«, antwortete er. »Sie empfängt heute keine Besucher.«

»So ein Pech«, sagte die Frau. »Ich bin Dulcie Fanshawe, von der Elefantentruppe Fanshawe. Aber das hätten Sie sich fast denken können, was? Kann Flossie vielleicht einen Eimer Wasser haben? Und ich eine Tasse Tee? Wir sind nämlich gerade erst aus dem Zug gestiegen, und der Zirkus unten am Strand wird erst aufgebaut.«

»Falls Sie dafür sorgen, dass sich Ihr Tier … äh … dass Flossie sich ruhig verhält, ließe sich das einrichten«, sagte Mr Butler. Zwar war Miss Dulcie Fanshawes Haarfarbe eindeutig künstlich und die Hose ein Skandal, aber ihr warmes Lächeln kam von Herzen. Und einem darbenden Menschen oder auch Elefanten würde Miss Phryne niemals ihre Hilfe versagen.

»Sie macht keinen Rabatz«, versprach Dulcie. »Elefanten sind sehr leise Tiere.«

»Wenn Sie sich dann bitte hinter das Haus begeben wollen …«, sagte Mr Butler. »Die Küchentür steht offen. Ich muss hier Wache stehen, bis Miss Fisher wieder zu sprechen ist.«

»Was treibt sie denn so Wichtiges?«, fragte Miss Fanshawe. Sie ließ sich von Flossie herunterheben und fasste nach einem wedelnden Elefantenohr.

Mr Butler weihte sie ein. Sie grinste. »Und wie lange geht das schon?«

»Seit heute Morgen um neun.« Mr Butler beugte sich vor, um sich noch einmal die Stirn trocknen zu lassen. Wie geschickt Flossie doch mit ihrem Rüssel war. Sie roch nach Heu.

»Ach Gottchen, Sie Ärmster. Komm, Flossie, gib dem netten Mann sein Taschentuch zurück, und dann besorgen wir dir was zu trinken.«

Flossie reichte ihm brav das Tuch, fuhr ihm zärtlich über das Haar und folgte Miss Fanshawe hinter das Haus.

Mr Butler bezog wieder seinen Posten. Die Zeit verging. Der Mittagsimbiss war längst in aller Eile und unter hitzigen Diskussionen im Stehen eingenommen worden. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Mädchen zurückkamen, genau wie Mrs Butler, die allmählich mit den Vorbereitungen für das Abendessen beginnen musste und ihrem Mann sicher auch den neuen Hut vorführen wollte. Wenn Miss Phryne sich nicht sputete, würde er nicht mehr verhindern können, dass sie gestört wurde.

Plötzlich fiel ihm Molly mit dem Dinosaurierknochen wieder ein. Sie war noch im Garten. Wie würde die schwarz-weiße Mischlingshündin wohl auf Flossie reagieren? So oder so, er war zur Untätigkeit verdammt.

Aber zuletzt vernahm er aus der Diele hinter der streng bewachten Tür dann doch die ungeduldig herbeigesehnten Geräusche, die ihm verrieten, dass Jacken angezogen, Hüte aufgesetzt und Sachen zusammengepackt wurden, begleitet von weiblichem Geplauder. Endlich.

Der Ritus war vollzogen, die Anprobe von Miss Fishers neuem Kleid geschafft. Mr Butler verabschiedete Madame Fleuri, eine streitbare Kämpferin für die Sache der Mode, ihre beiden Schneiderinnen sowie die drei Näherinnen mit einer Verbeugung, Miss Fisher und Dot winkten ihnen zum Abschied nach.

Im selben Augenblick, als Mr Butler die Haustür schloss, erwachte Molly im Spargelbeet aus tiefstem Verdauungsschlaf, erblickte den ersten Elefanten ihres Lebens und verlor völlig die Contenance. Jaulend floh sie ins Haus und verkroch sich unter dem Sessel ihres Frauchens. Erst nach geraumer Zeit schob sie zitternd die kleine schwarze Nase wieder unter den Fransen hervor.

Miss Phryne Fisher trug ein flammend rotes Hauskleid. Sie hatte es achtzehnmal an- und wieder ausgezogen, während sie mit endlosen Modevorträgen traktiert wurde und reglos dastehen musste, damit man Stoffbahnen über sie breiten und abstecken, ihr vom Leib reißen und erneut abstecken konnte. Sieben Stunden lang. Nach dem überhasteten Mittagsimbiss war sie hungrig, durstig, ausgelaugt. Eine hysterische Hündin hatte ihr, wo das Haus eben erst wieder zur Ruhe gekommen war, gerade noch gefehlt.

»Molly?«, sagte sie matt. »Was hast du?«

»Wahrscheinlich ist ihr die Begegnung mit Flossie nicht bekommen«, sagte Miss Fanshawe, die in diesem Moment von Mr Butler hereingeführt wurde. »Die Zirkushunde sind an Elefanten gewöhnt, deshalb hatte ich gar nicht daran gedacht, wie wohl ein Stadthund reagieren würde. Tut mir leid, dass ich an so einem anstrengenden Tag einfach bei dir reinplatze, Phryne, aber Flossie brauchte unbedingt was zu trinken, und da ist mir eingefallen, dass du ja hier wohnst.«

»Dulcie Fanshawe!« Phryne sprang auf. Molly rührte sich nicht vom Fleck. Solange ihr nicht irgendjemand eine schlüssige Erklärung für einen Elefanten liefern konnte, würde sie bleiben, wo sie war. »Komm, setz dich, trink etwas, wie geht es dir? Wir haben uns ja seit London nicht mehr gesehen!«

»Ich muss gleich wieder los«, sagte Miss Fanshawe. »Komm mit, ich möchte dir Flossie vorstellen. Ich will sie in deinem schönen kleinen Garten nicht so lange allein lassen. Zu viele leckere Pflanzen.«

Phryne begleitete sie nach draußen. Flossie hatte anscheinend keine Lust auf das appetitliche Grün. Sie soff und soff aus einem Eimer, der nie leer wurde, weil aus einem Schlauch ständig Wasser nachfloss.

»Ich hab einen kleinen Strandspaziergang mit ihr gemacht, und sie musste dauernd den Schaum probieren«, erklärte Dulcie Fanshawe. »Zu viel Salz ist für Elefanten ungesund, aber leider kommt der Zirkus unten ans Wasser. Jetzt geht's dir wieder besser, was?«, sagte sie zu dem glucksenden Tier. »Arme alte Flossie! Ich hab sie einem fürchterlichen kleinen Wanderzirkus abgekauft. Das reinste Dreckloch. Sie musste die ganze Zeit Fußfesseln tragen. Siehst du die Narben? Sie war schon halb tot, fast gestorben an einer Lungenentzündung, vernachlässigt und einsam. Ich hab sie für 'n Appel und 'n Ei bekommen, beziehungsweise für 'n Appel und die Drohung, den Besitzer wegen Tierquälerei anzuzeigen. Angezeigt hab ich ihn natürlich trotzdem. Wenn's nach mir gegangen wäre, hätte er selber ein paar Monate mit einer Fußkette in dreckigem Stroh stehen müssen, damit er am eigenen Leib erfährt, wie das ist. Ein grässlicher Kerl. Danach hab ich Flossie erst mal eine Woche gesund gepflegt. Mit Rani und Kali hat sie sich auf Anhieb gut verstanden. Es gibt wirklich keinen lieberen Elefanten. Und keinen, der so gequält wurde. Menschen!«

»Ja, wir sind wahrhaftig eine missratene Spezies. Aber wie hat es dich nach Australien verschlagen?«, fragte Phryne.

»Mit meinen drei Damen habe ich endlich eine anständige Elefantennummer beisammen, und zwar eine ziemlich beliebte«, sagte Miss Fanshawe bescheiden. »Und wir haben's alle gern warm. Flossie ist immer noch schwach auf der Brust, das arme Mädchen. Deshalb haben wir das Engagement in Australien angenommen. Schön hier«, sagte sie. »Kali mag das Bier, und ich mag das Klima.«

Mr Butler brachte ein Tablett mit Getränken in den Garten. Flossie quiekte vor Freude über das Wiedersehen, und er tätschelte ihr etwas hölzern den Rüssel.

»Ein kühler Cocktail, Miss Fisher«, sagte er. »In Anbetracht der Tortur, die Sie hinter sich haben.«

Phryne probierte ein Schlückchen. »Himmlisch«, sagte sie. Es schmeckte nach Kirschen. Ein prickelnder, delikater, durch und durch erfrischender Frühlingsgruß im Glas.

Miss Fanshawe trank einen großen Schluck und blinzelte. »Aber holla! Dafür würde ich mir die Strapazen und die Hitze glatt noch mal antun!«

Erfreut begab Mr Butler sich ins Haus. Die Dame mochte vielleicht keine Dame sein, aber von Cocktails verstand sie etwas. Mrs Butler, die nach erfolgreichem Hutkauf wieder zurück war, saß am Küchentisch und schälte das Gemüse für das Abendessen. Miss Phrynes Adoptivtöchter, die schmächtige, blonde Jane und die dunkle, etwas handfestere Ruth, gingen ihr zur Hand und vertrieben sich den Hunger mit Butterbroten. Mr Butler hätte sich gern ein wenig dem Nichtstun hingegeben, aber in Gegenwart der Mädchen sah er sich nicht dazu imstande, auch wenn sie noch so brav waren und wirklich gar keinen Ärger machten.

»Raus mit euch«, sagte er zu ihnen. »Im Garten steht ein Elefant.«

Wortlos stürzten sie zu Tür.

Sein neuer Cocktail war gut angekommen. Ein langer Tag neigte sich allmählich dem Ende zu. Mr Butler setzte sich, lockerte seinen Hemdkragen und verabreichte sich das unfehlbare Stärkungsmittel für Butler: ein gutes Gläschen Portwein. Seine Frau ließ empört das Kartoffelmesser sinken.

»Also wirklich, Mr B, das gehört sich nicht«, tadelte sie ihn. »Die Mädchen anzuschwindeln, nur weil du deine Ruhe haben willst.«

Mr Butler sah sie mit einem Schmunzeln an, das ans Selbstgefällige grenzte – er hatte aber auch wirklich einen sehr aufreibenden Tag hinter sich –, und schwieg. Mrs Butler musterte ihn genau. Nach vierzig Jahren Ehe traute sie diesem Schmunzeln nicht so recht über den Weg. Sie schälte weiter. »Wir haben doch nicht wirklich einen Elefanten im Garten, oder?«, fragte sie.

»Aber ja, Mrs B.« Er erlaubte sich noch einen Schluck. »Und ob.«

Wohlgefällig ließ Phryne Fisher den Blick über ihre kleine Wahlfamilie gleiten, die sich, wie aus dem Ei gepellt, zum Abendessen um den Tisch versammelt hatte. Eine einzige Zierde. Dot in ihrer liebsten braunen Strickkombination. Die Mädchen in hübsch zueinander passenden Sommerkleidern. Ember, der beim Anblick des Elefanten mit keinem Schnurrhaar gezuckt hatte und nun elegant hinter dem verführerisch nach Soße duftenden Silbertablett her strich, das von Mr Butler hereingetragen wurde. Molly, die mit dem Versprechen, der Elefant wäre tatsächlich fort, unter dem Sessel hervorgelockt worden war und nervös unter dem Tisch kauernd auf Leckerbissen hoffte. Mr Butler, den der Portwein regeneriert hatte. Und dazu ein vorzügliches Essen.

Phryne aß gern – und vor allem gut, denn sie konnte es sich leisten. Und der gehetzte Mittagsimbiss war viel zu kärglich ausgefallen. Endlich konnte sie den Tag bei einem guten Bordeaux friedlich ausklingen lassen.

»Woher kennen Sie Miss Fanshawe?«, fragte Jane. »Und wussten Sie, dass der nächste Verwandte des Elefanten der Klippschliefer ist?«

»Aus London, und nein«, antwortete Phryne. »Was ist denn ein Klippschliefer?«

»Ein kleines Tier, das wie ein Kaninchen aussieht. Und nicht im Mindesten wie ein Elefant, schon gar nicht, was die Größe angeht. Wir haben ja gesehen, wie riesig die sind. Dabei hat Miss Fanshawe auch noch erzählt, dass Flossie für einen Elefanten eher klein geraten ist.«

»Ich habe sie im Zirkus kennengelernt«, sagte Phryne. »Der Zirkus war schon immer meine große Liebe. Eines Abends kam es zu einem Zwischenfall, bei dem ich mich nützlich machen konnte. Deshalb wurde ich hinterher noch zu einem Umtrunk eingeladen …«

»Nicht so schnell«, fiel Jane ihr ins Wort. »Was war denn das für ein Zwischenfall?«

»Wirklich nichts Weltbewegendes«, sagte Phryne wegwerfend. Jane sah sie an. Dot und Ruth sahen sie an. »Na schön. Es passierte während einer Raubtiernummer, ich saß in der Loge, direkt an der Manege. Eine schwarze Pantherin – Princess hieß sie – war an dem Tag offenbar mit der falschen Pfote zuerst aufgestanden. Jedenfalls wurde es ihr plötzlich zu langweilig, brav auf ihrem Podest zu sitzen und Männchen zu machen, und sie bildete sich ein, dass es doch um einiges spannender wäre, ihren Dompteur mit einem Prankenhieb zu Boden zu strecken und ihm anschließend den Kopf abzubeißen. Sie riss schon den Rachen auf. Da habe ich dem Eisverkäufer seinen Spüleimer entrissen und Princess das Wasser ins Gesicht geschüttet.«

»Wie geistesgegenwärtig!«, sagte Jane.

»Ich dachte mir, so ein Panther ist auch nur eine Katze. Katzen hassen Wasser, und noch mehr hassen sie es, ungepflegt auszusehen«, sagte Phryne. »Mit geschmolzenem Speiseeis im Fell konnte Princess ihrem Publikum nicht mehr in die Augen schauen, und sie suchte ihr Heil in der Flucht, die anderen Katzen gleich hintendrein. Dem Dompteur war nicht viel passiert. Ich halte im Übrigen sowieso nichts davon, diese wunderschönen Kreaturen alberne Tricks vorführen zu lassen. Das ist würdelos. Hätte ich die Pantherin nicht aufgehalten, hätte man sie erschießen müssen, und das wäre wirklich eine Schande gewesen. Wegen dieser Geschichte wurde ich jedenfalls nach der Vorstellung zu dem Umtrunk eingeladen und habe Dulcie kennengelernt. Vorher hatte ich allerdings noch eine Begegnung mit Kali, einer sehr großen und gar nicht freundlichen Elefantendame. Als ich über die Wiese zu den Wohnwagen ging, kam ein kläffender Hund angelaufen und schnappte nach dem riesigen Tier – er muss lebensmüde gewesen sein. Sie holte einmal mit dem Rüssel aus, und – schwupp! – flog der Hund im hohen Bogen durch die Luft. Wie mit einem dumpfen Paukenschlag prallte er gegen die Zeltwand und verschwand jaulend auf Nimmerwiedersehen. Während ich noch stocksteif dastand, um Kali nicht auf mich aufmerksam zu machen, hörte ich auf einmal Dulcie sagen: ›Es ist die Hitze. Die macht sie nervös.‹ Und da hob Kali mich auch schon hoch und setzte mich mütterlich sanft auf ihren Rücken. Es war ein rundum merkwürdiger Abend«, schloss Phryne und gönnte sich einen Bissen Rinderbraten.

»Was Sie nicht sagen«, spöttelte Dot.

»Bei den Hindus heißt die Göttin des Todes Kali«, belehrte Jane die Tischgesellschaft. »Normalerweise wird sie mit Totenschädeln in der einen und einem Schwert in der anderen Hand dargestellt, und sie tanzt auf einem Berg abgeschlagener Köpfe.«

»Reizender Name.« Dot konnte sich die Ironie nicht verkneifen. »Genau die Information, die junge Damen hören sollten.«

»Wissen ist Macht«, sagte Phryne anerkennend. »Dulcie und Elefanten passen zusammen wie Toast und Honig. So wie manche Menschen gut mit Kindern oder Hunden umgehen können, hat sie ein Händchen für Elefanten. Dabei kommt sie aus einem durch und durch gutbürgerlichen Elternhaus. Ein braves Mädchen, das eine gute Schule besucht hat, der Vater Pfarrer im Ruhestand. Aber wie heißt es so schön? Und erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.«

»Väter sind wichtig«, sagte Ruth zur Überraschung aller.

»Ja«, pflichtete Phryne ihr bei. »Da ist wohl etwas Wahres dran. Aber es gibt solche und solche. Meiner ist ein alter Knurrkopf.«

»Mein Vater ist in Ordnung«, sagte Dot und legte sich eine Röstkartoffel nach. »Ein fleißiger, ehrlicher Mann. Wenn Mum ihm lange genug in den Ohren liegt, geht er sogar in die Kirche. Natürlich muss das Abendessen um Punkt fünf auf dem Tisch stehen, aber das hat er auch verdient, so hart, wie er arbeitet. Er hat nie mit uns geschimpft oder uns geschlagen.«

»An meinen Vater kann ich mich kaum noch erinnern«, bekannte Jane. »Ich habe immer bei meiner Großmutter gelebt. Sie hat gesagt, meine Eltern wären fahrendes Volk, aber nette Leute, auf ihre Art. Sie haben mich einfach bei ihr abgeladen und sind verschwunden, und als ich vier war, sind sie bei einem Unfall auf einer Farm ums Leben gekommen.«

»Ich habe meinen Vater gar nicht gekannt«, sagte Ruth. »Wie er wohl gewesen sein mag?«

Phryne biss sich auf die Zunge. Nachdem der Mann Ruths Mutter sitzenlassen und sich noch vor der Geburt des Mädchens aus dem Staub gemacht hatte, ohne die Geburtsurkunde zu unterschreiben, konnte man ihn ihrer Meinung nach getrost vergessen. Doch Ruth schien die Vaterlosigkeit sehr zu beschäftigen. Das Kind las zu viele Liebesromane.

»Vielleicht war er ja ein guter Mensch«, sagte sie sanft. »Aber das werden wir nie erfahren. Stell ihn dir einfach als einen guten Menschen vor.«

»Mum hat gesagt, er war Seemann.«

»Es gibt auch anständige Matrosen«, sagte Phryne. »Zumindest den einen oder anderen. Auf jeden Fall geben sie ideale Ehemänner ab. Kommen alle halbe Jahre ins Haus geschneit, dann wird tüchtig Wiedersehen gefeiert, und bevor sie einen anöden oder einem auf die Nerven gehen können, sind sie schon wieder auf großer Fahrt. Aber Mutmaßungen helfen nicht weiter. Wollen wir doch mal sehen, was für eine Nachspeise Mrs Butler für uns gezaubert hat. Ah! Obstsalat mit Eiscreme. Ob Elefanten Eis mögen?«

»Das müsste aber ein riesiger Becher sein«, meinte Jane.

Zu einer Unternehmung wie einem Kinobesuch konnte sich an diesem Abend niemand mehr aufraffen. Die Kräfte reichten gerade noch aus, um das Grammophon anzustellen und in einer Illustrierten zu blättern. Phryne musste in ihrem Detektivroman immer wieder einige Seiten zurückgehen, weil sie plötzlich über Figuren stolperte, die sie nicht wiedererkannte, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie ins Bett gehörte. Die Mädchen spielten Karten. Dot strickte. Molly, die ihre Angst, ein gewaltiges graues Untier könne in ihr Revier eindringen, noch immer nicht ganz abgeschüttelt hatte, schlief in der Küche, neben den Herd geschmiegt, mit dem Hinterteil zur Wand.

Ember hatte sich längst ins Boudoir zurückgezogen, wo keine schwatzenden, streitenden und mit spitzen Objekten hantierenden Menschen mehr störten, und lag kreisrund zusammengerollt auf dem Bett, als Phryne das rote Hauskleid abwarf, sich ein ausgiebiges Maiglöckchenbad gönnte, ein rotseidenes Nachthemd überstreifte und ihr Zimmer wieder in Besitz nahm.

Mr und Mrs Butler machten sich noch eine heiße Milch und begaben sich in ihre Unterkunft, die Mädchen auf ihr farbenfroh eingerichtetes Zimmer. Um zweiundzwanzig Uhr lagen alle in wohlverdientem, tiefem Schlummer.

Dass nach Mitternacht auf der einen Seite des Hauses ein Schiebefenster geöffnet wurde, hörte niemand.

Miss Mavis Sutherland an Miss Anna Ross

21. August 1912

Liebe Annie,

vielen Dank für Deinen Brief. Wie aufregend das alles klingt! Dass bei Dir und Deiner Mutter drei Matrosen wohnen, ein Dudelsackpfeifer, ein Geiger und ein Trommler! Welcher gefällt Dir am besten? Der Fiedler, Mr James Murray (der Name klingt ja nicht besonders schottisch)? Aber nein, der bestimmt nicht. Du schreibst ja, dass er rothaarig ist. Bei Männern wirken rote Haare so unvorteilhaft. Ganz anders als Deine kastanienfarbenen Flechten, die man kaum als rot bezeichnen kann. Welcher ist es also? Der blonde Trommler, Mr Neil McLeod, oder Mr Rory McCrimmon mit den dunklen Augen? Komm, Annie, gesteh. Es muss wahnsinnig aufregend sein, drei Musikanten im Haus zu haben. Raus mit der Sprache. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen.

Hier ist es so langweilig wie immer. Aus dem Londoner Stadthaus ist noch alles ausgeflogen, aber bald kommen die Herrschaften wieder, jetzt, wo es langsam Herbst wird. Letzte Nacht hatten wir schon Eisblumen an den Fenstern. Im sonnigen Australien, wo es niemals schneit, muss es herrlich sein. Im Februar, wenn hier überall Schnee liegt und es so dunkel ist, fehlt mir das gute alte Melbourne am meisten. Ich mache jetzt lieber Schluss, damit ich die Leerung nicht verpasse. Herzliche Grüße an Deine Mutter!

Alles Liebe,
Deine Freundin
Mavis