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Michael Seitz

Die Hexe von Burg Weißenstein





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Über den Autor

Michael Seitz, Jahrgang 1976, hat seine Kindheit und Jugend in München und im ländlichen Niederbayern verbracht. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und hielt an diesem Traum fest. Während andere ein »vernünftiges Studium« absolvierten, schrieb er in seiner wenigen freien Zeit, die ihm als Gesundheits- und Krankenpfleger blieb, in jeder Minute an seinen Manuskripten. Der Autor lebt seit 2005 in Wien. Er schreibt vorwiegend historische Romane und Gegenwartskrimis. Er genießt es, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern durch Wien zu flanieren und in Buchgeschäften zu schmökern. Seit Kurzem besitzt die Familie einen Kater namens »Mizzi«. Seitz wird von der Literaturagentin Lianne Kolf vertreten. »Man muss schon verrückt sein, wenn man Schriftsteller werden will!«, so Seitz’ Lebensmotto.

Weitere Bücher

Der Psychiater des Königs (historischer Roman)

Die verlorenen Kinder (Knaur* 2017)

Der Falter (Knaur* 2018)

 

 

 

 

 

Die Hexe von Burg Weißenstein

 

 

Historischer Roman

 

 

Michael Seitz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Lektorat: M. Enderle

Copyright by Michael Seitz 10/18 - Neuausgabe

Die Originalausgabe erschien im September 2013 im Morsak-Verlag/Grafenau

Covergestaltung: Cover-Kiste/Beate Meng unter Verwendung eines Fotos von Pixabay

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.

Dramatis Personae

Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.

Auf Burg Altnussberg

Johannes von Bärnstein, Ministerial zu Altnussberg, steht im Dienste des Ritters von Degenberg*. Einst tötete er mehr Hussiten als jeder andere Ritter. Über den mysteriösen Tod seiner Frau hingegen kommt er niemals hinweg.

Lambert von Bärnstein, sein Sohn, inzwischen zum Ritter geschlagen, kehrt nach Jahren in Burghausen auf die Burg zurück. Die Geister der Raunächte, die Schatten der Vergangenheit, erwarten ihn bei seiner Heimkehr. Unfreiwillig gerät er zwischen die Fronten eines Krieges.

Agnes von Bärnstein (†), Christin und Heilerin, Lamberts Mutter, Schwester des Grafen von Törring*. Ihrem gewaltsamen Tode gingen einst merkwürdige Zeichen voraus.

Katharina Armannsperger, entfernte Cousine Lamberts, verlor ihre Eltern bei der Pest, lebt seither auf Burg Altnussberg.

Anna Gruber, Magd, aufgrund eines nervösen Leidens, das die Leute den „bösen Blick“ nennen, gerät sie in den Verdacht der Hexerei. Sie liebt Lambert.

Wittelsbach, von

Albrecht der III.* (†), Herzog von Bayern-München,

ehemaliger Kampfgefährte Johannes von Bärnsteins. In jungen Jahren liebte er eine Zubermagd, namens Agnes Bernauer*, die als vermeintliche Hexe in der Donau ertränkt wurde.

Albrecht der IV.*, sein Sohn, Herzog von Bayern-München, ursprünglich für eine Priesterlaufbahn bestimmt, strebt nach der Einheit des Landes Bayern.

Christoph von Wittelsbach*, sein ungestümer Bruder, Lambert von Bärnsteins bester Freund, gemeinsam mit den Rittern vom Böcklerbund will er um seinen Anteil am Erbe kämpfen.

Ritter vom Goldenen Einhorn (oder auch „Böckler“ genannt)

Hans der IV. von Degenberg*, mächtigster Ritter im Südosten des Landes, Reichsfreiherr und Turniervogt, Anführer der Ritter vom Böcklerbund. Er fürchtet unter dem neuen Herzog um die alten Rechte der Ritterschaft.

Elisabeth von Degenberg*, geb. von Törring, seine Gemahlin, Lamberts Cousine, die aus politischen Gründen mit dem Degenberger verheiratet wurde. Im Laufe der Jahre hat sie ihren Weg gefunden, sich mit den Kümmernissen einer Frau zu arrangieren.

Konrad von Neunussberg*, kämpfte bei Konstantinopel gegen die Osmanen, als väterlicher Freund steht er Lambert zur Seite. Leben heißt für ihn, stets nach der Wahrheit zu trachten.

Fatima, bekehrte Sarazenin, lebt an Konrads Seite.

Hans von Kollnburg*, Ritter

Dietrich Rammelsteiner*, Ritter

Johann Stauff zu Ernfels*, Ritter

Habsburg, von

Friedrich der III.*, genannt die Erz-Schlafmütze, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation

Maximilian*, sein achtjähriger Sohn, Herzog des oberen Österreichs und zukünftiger Kaiser, trauert über den Tod seiner Mutter, schwärmt von Rittertum und Heldenmut.

Geistliche

Augustinus von Falkenstein, Dominikaner und Inquisitor, Verbündeter Herzog Albrechts des IV., führte bereits den Hexenprozess gegen Agnes Bernauer.

Bruder Leopoldus, ein Mönch von krankem Gemüt

Bruder Ferdinand, diente einst als Sekretarius auf Burg Altnussberg Lamberts Vater.

Bruder Sebastian, Beichtvater der Degenbergerin

Prolog

 

1

Einen Moment ihrer Unachtsamkeit nutzend, leckte der Welpe mit seiner weichen Zunge über das Ohrläppchen seiner Herrin. Die junge Edelfrau frönte inmitten des Burghofes dem schaurigen Spektakel. In einem jähen Anflug des Erschreckens drohte das Jungtier ihren Armen zu entgleiten. Das Winseln des Hundes kündete von der Unruhe, die mit dem Erscheinen der Delinquentin von den Menschen auf das Tier übergriff. Jungen begannen, Schneebälle nach der Verurteilten zu werfen. Der Welpe kläffte; die Edelfrau kämpfte darum, ihn mit beiden Händen festzuhalten. Silberne Ohrringe blitzten an ihren Ohrläppchen … – Mathilda wandte ihren Blick von der Edelfrau ab und endgültig der Delinquentin zu, die von den Bütteln durch den Schnee teils geschleift, teils getragen wurde.

»Welch ein Frevel! Was haben diese Teufel bloß mit ihrem blonden Haar gemacht?«

»Gib endlich Ruh´, Mathilda! Wen kümmert`s?«, erwiderte eine Frau mit grobschlächtigem Gesicht, deren Nase auf groteske Weise an einen Falken erinnerte.

»Diese Locken, die ausgesehen haben wie reines, gesponnenes Gold!« Mathilda seufzte und bemerkte, dass sie mit sich selbst redete.

»Zum Teufel, Mathilda! Ein Engel wird sie früh genug!«

Tatsächlich glichen die wenigen verbliebenen Haare auf dem Hinterkopf des Mädchens einem Heiligenschein. Der zierliche Körper glitt, nur mit dem Büßerhemd bekleidet, durch den Schnee. Die Büttel stellten sie auf die Füße, schlugen sie mit Stöcken, woraufhin sie ins Wanken geriet. Um ihr Handgelenk schlingerte ein Armband. Von den blauen Perlen, die einst neckisch angemutet haben mochten, blätterte die Farbe. Das Mädchen ließ sich in seiner Not abermals zu Boden fallen. Die Büttel ergriffen es unter den Schultern, trugen es an den Menschen auf dem Burghof vorbei in Richtung des Blutgerüstes.

»Wie soll ein Frauenzimmer in Zeiten wie diesen ihre Unschuld bewahren?«, haderte Mathilda.

Da der Comeatus-Zwang die Burgherren verpflichtete, fahrenden Händlern Unterkunft und Schutz zu gewähren, wimmelte es auf dem Burghof von Waffenknechten. Mathilda las die Sehnsüchte in den Blicken der Männer: Um dem armen Geschöpf ein letztes Mal zu Leibe zu rücken, hätte manch einer sein Seelenheil aufs Spiel gesetzt! Ein Dutzend Männer stand neben der Schankstube und trank in der Eiseskälte warmes Bier und grölte Lieder.

Die Morgenröte verhieß Regen. Der Henker musste sich beeilen, dachte Mathilda in einem Anflug von Zynismus, wollte er nicht riskieren, dass auch die anderen Frauen, Männer und Kinder sich in der Eiseskälte den Tod holten! Die Waffenknechte schritten mit Lanzen ein, um die Schaulustigen vom Blutgerüst fernzuhalten und damit die Prozedur in ihrem Ablauf zu stören. Mathilda beobachtete angewidert die Edelfrau, die unermüdlich einen weißen Fleck auf der Brust des Welpen inmitten des schwarzen, glatten Fells kraulte. Die Lefzen offenbarten Reißzähne, die von der Gefährlichkeit des ausgewachsenen Jagdhundes dereinst kündeten. Die Frau wirkte völlig unberührt, ihre Gesichtszüge versteinert.

Das Krächzen eines Habichts entlockte dem Hund ein Jaulen.

»Gott sei ihrer Seele gnädig!«, schrie die junge Frau mit dem grobschlächtigen Gesicht an Mathildas Seite. Die Delinquentin versuchte, sich den Männern mit Händen und Füßen zu entwinden. Diese hatten sichtlich Mühe – fluchten lauthals; Mathilda konnte ihnen ansehen, dass ein Mann ihnen in dieser Hinsicht weniger Mühe bereitet hätte als eine zierliche Frau, die sich wie eine Schlange wand. Eine Frau, die eigentlich noch ein halbes Kind war – eine Sechzehnjährige, die einfach nur leben wollte – deren Überlebenswille ihr übermächtige Kräfte verlieh …

Der Habicht schwebte tief über dem Burghof. Mathilda konnte die Maserung auf seiner Brust mit bloßem Auge erkennen.

»Gott … Seele …«, meldete sich Karli zu Wort, und Mathilda wurde sich seiner Anwesenheit bewusst. Er sprach mit tumber Zunge – äffte gleich einem Echo das Gesagte nach.

»Ist schon gut!«, versuchte Mathilda den kleingewachsenen Mann zu beruhigen. Sie bereute, dass sie ihn auf die Burg mitgebracht hatte. »Die rote Göttin wird dem armen Wesen beistehen.« Sie streichelte über den klobig anmutenden Kopf Karlis, dessen Miene sein kindliches Gemüt verriet. Eine dicke Träne rann über eine seiner Backen. Erst das Krächzen des Habichts riss ihn aus seinem starren Entsetzen.

»Gick, gick, gick!«, ahmte er die Laute des Vogels nach, der zwischen den beiden Türmen seine Kreise zog.

»Gleich hat sie dieses irdische Jammertal hinter sich«, sagte die Frau neben Mathilda. Im letzten Winter hatte sie den Henker geheiratet. – Die Tochter eines Abdeckers, der von der Entsorgung von Tierkadavern lebte – und der Sohn des Henkers! Zwei Jungvermählte vom selben Stand, wie der Brauch es vorschrieb! Jetzt las Mathilda in ihrem Antlitz dunklen Grimm. Die Henkerin, wie die Menschen sie seit ihrer Heirat nannten, verschränkte die Arme in dem Moment, da die Türen des Pferdestalls auseinander schwangen.

Ein Raunen ging durch die Menge. Die Jungen hörten auf, Schneebälle nach der Verurteilten zu werfen. Am Vortag hatten sie am selben Platz, wo die Enthauptung stattfinden sollte, einer Katze das Fell über die Ohren gezogen. Der Kadaver des Tieres lag noch an Ort und Stelle.

»Der fremde Ritter!«, hauchte die Frau des Henkers voller Ehrfurcht.

Die Maschen eines Kettenhemdes funkelten im Licht der Januarsonne. Rabenschwarzes Haar lugte unter seiner Kapuze hervor. Auf der rechten Wange des feingeschnittenen Gesichtes offenbarte sich eine Narbe, die von einer Verletzung durch einen Säbel herrühren mochte.

»Wie ein Ritter und Mönch sieht er aus!«, befand die Henkerin.

»Ein wahrer Teufel!«, fluchte Mathilda.

»Er soll eben erst aus der Stadt Konstantinopel zurückgekehrt sein. Die Stadt befindet sich jetzt in den Händen der Ungläubigen.«

»Warum ist er nicht in Konstantinopel geblieben?«

»Angeblich verbringt er die meiste Zeit im Stall und redet mit den Pferden. – Ein sonderbarer Mensch, wenn Ihr mich fragt …« Die Henkerin verstummte, als die Büttel die Verurteilte auf die Planken des Holzgerüstes niederrangen. Die Arme und Hände auf den Rücken gefesselt, bewegte sie den Kopf unruhig auf und ab, als versuchte sie dadurch, dem nahenden Ende auszuweichen. Der Burggeistliche rezitierte lateinische Formeln. Das Mädchen weinte, ohne dass Tränen aus den Augen kamen.

»Möge die schwarze Göttin des Todes dich in ihrem Reich aufnehmen«, murmelte Mathilda.

»Ihr seid eine alte Hexe!«, ereiferte sich die Henkerin.

Der Burgherr trat vor, eine Schriftrolle zwischen seinen Händen ausbreitend: »Wie das hohe Gericht befunden hat, soll der Henker am heutigen Tage seines Amtes walten. Dafür, dass du in der Nacht des Heiligen Thomas in einer Scheune auf der Burg heimlich ein Kind geboren und mit bloßen Händen erwürgt hast, sollst du durch das Schwert sterben.« Drei Tage zuvor hatte er beim Prozess als Beisitzer das Urteil bestätigt. Jetzt betrachtete er seine Fingerspitzen, als sehne er sich nach einem Gefäß, um sich die Hände darin reinzuwaschen.

»Mögest du auf diese Weise von deiner Schuld Erlösung finden!«

Der Geistliche erteilte der jungen Frau die Absolution, wie er es häufig tat, seit die Pest den Rittern, die aus Konstantinopel kamen, in die Heimat gefolgt war. Die Waffenknechte griffen an den Salzsäumerstraßen, die an der Burg vorbei nach Böhmen führten, fast täglich lichtscheues Gesindel auf.

Der Henker trug eine lederne Maske, die den Ausdruck auf Stirn, um Nase und Augen verhüllte. Allein Mundwinkel und Kinn traten zum Vorschein. In seinem Nacken zeigte sich langes, schwarzes Haar, zu einem Zopf geflochten.

»Die bösen Geister haben das Frauenzimmer zu ihrer Tat getrieben. Jetzt muss sie büßen!« Die Henkerin bekreuzigte sich.

»Ein halbes Kind …« Mathilda unterdrückte ihre Tränen.

Der Henker setzte einen Schritt zurück, drehte sich aus den Hüften – eine Bewegung, die in ihrer Eleganz einem Tanz ähnelte. Er hob einen Bihänder und sprach mit wohltönender Stimme die Formel:

»Kurze Not, sanfter Tod – find´ Gnad´ bei Gott!«

Der Stahl der Waffe blitzte im gleißenden Licht der Sonne. Dann sauste die Klinge in hohem Bogen nieder. Die Delinquentin wich zur Seite aus. Die Waffe verfehlte ihr Ziel. Schreie der Empörung und des Entsetzens wurden laut. Der Henker holte ein zweites Mal aus, ein drittes Mal … Schließlich trugen die Büttel einen Pflock heran. Einer ergriff den Kopf der Verurteilten und drückte ihn in eine Mulde. Der Henker holte erneut aus. Ein letztes Mal dachte Mathilda an die Lockenpracht, die den Liebreiz der Sechzehnjährigen zu Lebzeiten ausgemacht hatte, als der Stahl durch Fleisch und Knochen drang …

Ein Aufschrei ging durch die Menschenmenge. Der Kopf flog in den dafür vorgesehenen Weidenkorb. Eine Blutfontäne schoss aus dem Hals. Der Körper der Delinquentin kippte zur Seite. Ein letztes Zucken, ähnlich den Symptomen der Fallsucht, erfasste die Glieder des Mädchens.

Der Henker hob den Weidenkorb. »Habe ich recht gerichtet?«, rief er in die Menge. »Ich danke meinem Vater, der mich diese Kunst gelehrt hat …« Und riss sich die Maske vom Gesicht. Dunkle Brauen umspielten die stahlblauen Augen seines markanten Gesichtes.

Die Jungen warfen Schneebälle in seine Richtung. Schreie hallten über den Burghof. Kinder umklammerten ihre Mütter. Männer drängten mit Fäusten nach vorne. Das Weibervolk bedachte den Scharfrichter mit Flüchen und Hasstiraden. Waffenknechte schritten ein, ihn zu schützen.

Karli riss sich aus Mathildas Umklammerung. Sie rang nach Atem. Die Trance wich von ihr. Sie hörte sich wie in einem Traum seinen Namen rufen.

Die Henkerin lachte. »Narren und Kinder!«

»Bleib stehen, Karli! Komm zurück …«

»Den Hintern versohlen«, schlug die Henkerin vor. Mit einer Geste ihrer flachen Hand verlieh sie ihren Worten Nachdruck.

Mathilda erkannte das drohende Verhängnis: Während ihres Falles hatte die Delinquentin ihr Armband verloren. Die blauen Perlen lagen verstreut im Schnee. Der kleingewachsene Mann und der Welpe erreichten den Leichnam fast gleichzeitig …

Das Haar der Edelfrau löste sich, fiel auf ihre Schultern, wirbelte verheißungsvoll um ihr Gesicht. Ihre Lippen öffneten sich zu einem stummen Schrei. Der Welpe, der die Gunst des Moments genutzt hatte, ihrer Umklammerung zu entfliehen, erreichte die Blutlache um den mittlerweile bewegungslosen Leib. Die Zunge hing ihm gierig aus dem Maul. Karli hechtete nach den Perlen, stopfte sich die Taschen damit voll – kroch auf allen Vieren neben dem Hund. Ein Waffenknecht verpasste Karli einen ersten Tritt gegen die Brust, woraufhin er sich schmerzgekrümmt auf dem Boden wand. Der Hund bekam einen Schlag mit einer Lanze ab und winselte erbärmlich …

»War es nicht eine schöne Hinrichtung!«, schrie die Henkerin hinter Mathilda. »Ein herrlicher Anblick … – majestätisch!«

Mathilda rannte auf Karli zu, kämpfte sich durch die Menschenmenge. Im Osten tränkte die Sonne den Himmel blutrot, während Mathilda sich schützend über ihren Sohn warf. Karli hatte das Bewusstsein verloren. Er lag wie ein Schlafender in ihren Armen.

 

2

»Die Gerechtigkeit ist eine Hure!«, schrie der Junge.

»Du glühst, mein Junge«, sagte der Ritter, der ihn neben dem Tor zum Pferdestall abfing. Er befühlte die Stirn des Jungen.

»Ich habe sie geliebt«, weinte dieser. »Gott verzeih mir! Ich wollte sie niemals alleine lassen …«

Vor dem Tor lagen zwei Männer im dunklen, farblosen Gewand der Bauern, die sich vor Hustenanfällen krümmten. Die Waffenknechte haben ihnen die Rippen gebrochen, schloss der Ritter. – Bei dem Aufruhr kein Wunder! Und er dachte an die Schlacht bei Konstantinopel, die einer Hölle gleichgekommen war …

Der Junge schluchzte. »Was habe ich nur getan? Es ist meine Schuld!«

Er mochte kaum älter als sechzehn sein, schätzte der Ritter. Höchste Zeit, ihn in Sicherheit zu bringen!

In einem Koben erspähte er den Hengst. Seidiger Glanz lag über dem schwarzen Fell des Tieres, dessen Schnauben von der allgemeinen Unruhe kündete. – Aus dem Wind der Wüste geschaffen, hatte der Sultan ihn angepriesen. Und für einen Moment wünschte der Ritter sich dahin zurück, wo die Gärten das Auge durch das Grün ihrer Palmenblätter bestachen. Dort, wo der Duft von Jasmin und Rosenblüten die Nase betörte. – Das war vor dem Krieg gewesen …

Sie sanken neben einem der Strohballen in die Knie.

»Eines Tages wird die ganze Wahrheit ans Licht kommen«, sagte der Junge.

Der Ritter streichelte durch sein Haar.

Der Junge hob wie zum Trotz seine Schwurfinger. »Auge um Auge, Zahn um Zahn!«

Dann setzte die Wirkung der Kräuter ein, die der Ritter ihm vor Stunden verabreicht hatte. Die Augen fielen ihm endlich zu. Der Ritter küsste ihn auf die Stirn.

Es geschah, während der Habicht als schwarz gefiederter Schatten im Morgenrot verblasste.

 

Erstes Buch Heimkehr

Erstes Buch Heimkehr

Erstes Kapitel

Anna

1

»Fürchtet ihr den Schwarzen Mann?«

Ein Dutzend Kinder hatte sich dem Jungen gegenüber aufgestellt. »Nein, nein, nein!«

»Wenn er aber kommt?«

»Dann laufen wir davon!«

In dem Moment, da die Kinder Anna erkannten, stoben sie in sämtliche Richtungen auseinander.

Ihr Sichtfeld drohte – ähnlich der Oberfläche eines Sees, über dem Regentropfen niedergingen – zu verschwimmen. Das Lid über dem rechten Auge flatterte. Anna atmete durch, marschierte an der inneren Ringmauer entlang.

»Wo finde ich Mathilda?«, fragte sie einen Jungen, der neben der Backstube saß.

»Was willst du von ihr?«, antwortete er. Seine Augen verwandelten sich in Schlitze. Er schien ihre Erscheinung von Kopf bis Fuß zu taxieren. Sie spürte seine Blicke. Anhand ihrer Schürze und des mit Löchern übersäten Gewandes mochte er schließen, dass ein Handel mit ihr sich als wenig einträglich erwies; eindeutig besaß sie weder Würfel noch Murmeln!

»Bitte …«

Ein überlegenes Grinsen zierte sein Gesicht. Er schlug das linke Bein über das rechte, von dem der Vorderfuß fehlte. »Bei der Zisterne. Ein paar junge Hunde ertränken, wenn mich nicht alles täuscht!« Und schnitzte auf einem Schweineknochen weiter. Zwischen seinen Fingern entstand ein Gebilde, das große Ähnlichkeit mit den Kufen eines Schlittschuhs aufwies. Viele Jungen, die Gliedmaßen bei Unfällen verloren hatten, hielten sich mit Tauschgeschäften über Wasser.

Bauern sägten in der Mittagshitze an Balken. Gehämmer aus der Schmiede dröhnte in ihrem Schädel. Anna stapfte über Holzspäne, Tierknochen, irdene Scherben, Getreidehülsen. Fliegen umkreisten die Innereien eines Schweins, die neben der Küche verwesten.

Früher, in ihrer Kindheit, hatte sie mehrere Paar Schuhe besessen. Daran erinnerte sie sich in Momenten wie diesen, wenn die Gerüche von Stall, Schweiß, Fäulnis und Schimmel ihre Gegenwart beherrschten. Eine Schicht aus Staub bildete seit den Tagen der Pest eine Art zweite Haut auf ihr. Mägde wuschen das Mädchen regelmäßig in einem Zuber, schruppten es mit Bürste und Seife, erinnerte sie sich. – In dem Dorf am Fuße des Burgbergs dagegen fanden zweimal jährlich Badetage statt. Einmal im Frühjahr, der zweite im Herbst. Männer und Frauen liefen, wie Gott sie schuf, in die Badestuben, aus Angst, Diebe könnten ihre Kleidung stehlen. Die Priester und Gottesfürchtigen mieden derlei Treiben. Sein Geruch verriet den frommen Christen.

Anna zog es vor, in den Wald zu entfliehen. Im Dickicht, wo sie sich unbeobachtet wähnte, legte sie dann ihre Kleidung ab. Sie genoss es, das Wasser des Waldgebirgsbaches auf ihrer Haut zu spüren. – Verzweifelt wünschte sie sich in diesen Momenten in die Vergangenheit zurück – in das prächtige Bürgerhaus zu Passau, wo der Vater das Regiment führte. O Herr Jesus, was hätte sie nicht alles gegeben für ein heißes Bad …

 

 

2

»Du siehst blass aus, Mädchen – müde, abgekämpft! Wie lange nur hast du nicht geschlafen?«

Anna klopfte sich Staub von der Schürze, kontrollierte den Knoten an der Hüfte. »Mathilda …«, stammelte sie und blieb stehen.

Die alte Hebamme nickte ihr zu. »Wie sehr muss Gott die Narren lieben!«, antwortete sie und deutete auf Karli. Der kleingewachsene Mensch nagte hartnäckig an einer Haselnuss.

Haselnussstauden, die dem Burgberg seinen Namen gaben, rankten zwischen innerer Ringmauer, Turm und Zisterne. Die Burg hieß seit jeher Altnussberg. Anna spürte einen Kratzer durch einen Zweig an einem ihrer Knöchel. Sie biss die Zähne zusammen. Seit dem Tod von Vater und Mutter hatte sie gelernt, Schmerzen zu ertragen, indem sie ihnen schlichtweg keine Aufmerksamkeit schenkte …

Die Hebamme betrachtete mit sorgenvoller Miene das schmale Gesicht der jungen Frau. Sommersprossen zierten Stirn, Nase und Wangen. Unter den Augen zeigten sich dunkle Ringe. Im letzten Herbst hatte der Onkel, in dessen Haushalt sie lebte, ihr in einem Anfall von Zorn den linken Arm ausgerenkt. Mathilda war zu Hilfe gerufen worden und hatte Hand angelegt, das Gelenk zusammenzufügen. Es dauerte anschließend den ganzen Winter, bis Anna den Arm ohne Einschränkung wieder gebrauchen konnte.

»Die Wehen haben eingesetzt«, berichtete Anna atemlos.

»Wie ich mir gedacht habe!«

»Ich flehe Euch an, Mathilda.« Anna spürte Röte in ihre Wangen aufsteigen. Die Tante erwartete ein Kind! Trotz ihrer sechzehn Jahre verursachten derlei Dinge ihr Kopfzerbrechen. Seit der Zeit, da ihr Körper sich in den einer Frau verwandelte, nahm sie mit Unbehagen die gierigen Blicke des Onkels zur Kenntnis. Bei Gelegenheiten, da sie von einem Gewand in ein anderes schlüpfte, beobachtete er lüstern jede ihrer Bewegungen.

»Die Wehen dauern seit gestern Abend.«

»Habe ich deinem Onkel nicht geraten, die Sarazenin zu holen?«

»Ja.«

»Aber?«

»Die Tante fürchtet …« Anna stockte. »Sie fürchtet, allein die Anwesenheit der Ungläubigen könnte einen Fluch über das Haus bringen. – Und das Ungeborene im Leib verhexen!«

Die Hebamme zog ein braunes Etwas aus einem Korb, den sie neben Karli abgestellt hatte. Der kleingewachsene Mensch schleuderte die Haselnuss mit einem trotzigen Schnauben gegen die Ringmauer. Voller Neugier wandte er sich dem Kaninchen zu.

»Warum sollte die Sarazenin schwarzen Zauber anwenden?«

Anna spürte Erleichterung, da von besagten Hundewelpen jede Spur fehlte. Der Junge hatte sich also nur einen Spaß erlaubt – sie in ihrer Einfalt verhöhnt!

»Erst heute Nacht hat die Frau des Zimmermanns ihr Neugeborenes verloren. Ich habe versucht, ihr zu helfen. Aber ich konnte nichts tun! Allein die rote Göttin weiß um den Schmerz einer Mutter, die ein Kind verliert …«

»Ich flehe Euch an, Mathilda! Die Tante wird ihre Wut an mir auslassen.«

»Dazu wird sie ohnehin erst einmal kaum in der Lage sein, denke ich.«

»Aber der Onkel … – Er wird …«

»Er wird was?«, hakte die Hebamme nach.

»Er wird es auf Zauberei schieben.«

»Sag ihm, die meisten Dinge sind alles andere als Hexerei…«, versuchte Mathilda zu beschwichtigen.

»Ich flehe Euch an, Mathilda!« Anna spürte den Impuls, sich vor der Hebamme auf die Knie zu werfen. Seit ihrem sechsten Lebensjahr musste sie sich den Vorwurf, sie sei eine Hexe, anhören. Die Totgeburten der Tante, Jahr für Jahr, bestärkten Anna im Glauben an ihre eigene Schuld. – Sie verdiente ihre Strafe! Erst recht, wenn es ihr nicht gelang, Mathilda umzustimmen …

»Der Onkel bringt mich um, wenn auch dieses Kind wieder stirbt!«

»Darum habe ich ihm geraten, die Sarazenin zu holen. Fatima verfügt über Künste, die meine Fähigkeiten als Hebamme bei Weitem übersteigen. – Die Sarazenin ist eine Meisterin, wie ich gehört habe!«

Mathilda beugte sich nach einem der faustgroßen Findlinge, die neben der Zisterne lagen. Karli tat einen Aufschrei. Anna ahnte, worauf der Akt hinauslief. Ihr Lid über dem rechten Auge begann zu flattern. Die Pupille drehte sich unverwandt in Richtung Nasenspitze. Anna wusste, durch ihr Aussehen erweckte sie damit den Eindruck, vor sich hin ins Leere zu stieren. Das, was die Leute den »bösen Blick« nannten, kam über sie …

»Ich kann nicht mehr für dich tun«, sagte die Hebamme. »Beim besten Willen! Ich wünschte, ich könnte es.« Karli versuchte ihr den Stein zu entreißen, was ihm – allein schon seiner Körpergröße wegen – misslang.

»Das Kind stirbt sonst …« Annas Gesichtsfeld verschwamm. »Ich habe solche Angst …«

»Du Ärmste«, sagte die Hebamme – und: »Menschen sind verschieden. Nimm Karli als Beispiel! Nur fragt das Leben uns selten nach unseren Wünschen. Und immer wenn die Menschen verzweifeln, glauben sie an ein düsteres Schicksal – oder eben an Hexerei! Die Menschen suchen nach Erklärungen, weil ihr Verstand ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Sie können nicht aufhören zu denken. – Das ist es, was die Narren ihnen voraushaben, was ich vorhin gemeint habe. – Und jetzt stiehl mir nicht länger meine Zeit! Du siehst, ich habe noch zu tun …«

Anschließend hatte Anna der Hebamme den Rücken gekehrt. Ein letzter Blick auf das Kaninchen vertrieb jeden Gedanken an ihre eigene Angst. Das böse Auge, wie sie es in ihren Gedanken bezeichnete, beruhigte sich von selbst. Und es schien ihr, als ob die Hebamme diese Reaktion vorausgeahnt hatte.

Anna schritt über den Burghof.

Zeiten und Bilder, da sie selbst Kaninchen besessen hatte, offenbarten sich vor ihrem inneren Auge …

Sie lebte mit ihren Eltern in einem Haus aus Ziegelstein. Im oberen Stockwerk befand sich eine Kammer, die Anna ihr Eigen nannte. Der Vater besaß im Erdgeschoss sein Reich, in dem sich Stoffballen an Stoffballen reihte.

Drei Flüsse liefen in jener Stadt zusammen.

Zwei Burgen thronten auf ihren Anhöhen.

Und ein Löwe zierte ihr Wappen …

Die weltlichen Herrscher lagen sich unentwegt in den Haaren mit dem Erzbischof. Anna wusste von derlei Dingen, weil sie auf dem Schoß des Vaters sitzen durfte, wenn dieser Geschäftsfreunde empfing. Schiffe brachten über die Flüsse Waren aus aller Herren Länder. Viele belächelten ihren Vater – den Stoffhändler –, konzentrierte sich ihr eigenes Geschäft doch auf den Handel mit Salz, welches sie Weißes Gold nannten.

Anna liebte es, sich auf den Dachboden zurückzuziehen. Sie nahm die Kaninchen aus dem Stall, streichelte durch ihr Fell, kraulte sie an Brust und Rücken. Zusammen mit ihrer Cousine Antonia brachte sie Stunde um Stunde an jenem Ort zu – bis zu dem Tag, da die Pest die Bürger von Passau heimgesucht hatte.

Der Rat der Stadt gab Befehl, die Tore zu schließen, verbunden mit der Hoffnung, dass keine weiteren Kranken hinzukämen, die Seuche sich nicht unnötig ausbreitete. Den Menschen wuchsen schwarze Beulen an Achseln, Leisten und Hals. In den Straßen herrschten Plünderung und Brandschatzung. Der Geruch von Rauch wechselte mit dem von Fäulnis und Eiter. Der Bischof weihte die Flüsse, worauf die Lebenden die Toten darin versenkten.

Ein weißes Kreuz zierte das Tor zu Annas Elternhaus als Zeichen, dass der Schwarze Tod sich auch hier seine Bewohner geholt hatte …

Gerüchte besagten, Ritter, die aus Konstantinopel gekommen waren, hätten die Krankheit in die Heimat mitgebracht, als Strafe für den verlorenen Krieg um die Stadt am Bosporus. Die einst mächtigste Stadt der Christenheit befand sich in Händen der Ungläubigen. Die Pest war ein Geschenk des Teufels …

»Fürchtet ihr den Schwarzen Mann?«, schrien die Kinder in den Gassen Passaus einander zu. – Annas Eltern waren wenige Nächte nach ihrem fünften Geburtstag gestorben. In ihrer kindlichen Fantasie stellte Anna sich einen dunklen Gesellen vor, der von Haus zu Haus ging, um ein Licht nach dem anderen auszulöschen.

 

3

Die beiden Dreiecke bildeten einen Stern auf den Dielen.

Anna betrachtete ihren eigenen Schatten neben dem Gebilde. Sie betrat das Haus des Onkels. Angeblich, so behauptete die Tante, vertrieb das Symbol Geister und Dämonen. – Sie stellte sich vor, wie dessen Zauberkraft sie von dem Fluch, der seit Kindertagen auf ihr lastete, befreite. Ein Wunschgedanke, der Gänsehaut auf ihren Armen verursachte …

Sie blieb im Flur stehen.

»Da bist du ja endlich! Wir haben schon auf dich gewartet, Mädchen«, sagte eine Frau in gebrochener Sprache.

»Lasst sie um Gottes willen nicht zu mir in die Kammer kommen, Fatima! Ich flehe Euch an …« Das Wimmern der Tante drang durch den Türspalt.

»Ich habe Mathilda zuerst nicht finden können …« Anna suchte nach einer Erklärung, die sie sich zurechtgelegt hatte auf ihrem Weg von der Burg. Jetzt, vor der Tür zur Schlafkammer, ließ ihre Erinnerung sie im Stich.

»Wo ist die Hebamme?«, schrie die Tante. »Bring sie gefälligst herein! Ich weiß, dass sie bei dir ist. Mathilda hat uns noch nie im Stich gelassen …«

»Sie ist jedenfalls nicht hier in dieser Stunde«, antwortete die Sarazenin in aller Seelenruhe.

Anna spürte die Hitze, die ihr entgegenschlug. Gestern Abend hatte Fatima als Erstes ein Feuer über dem Herd entfacht. Die Luft stand selbst im Hausflur wie ein unsichtbares Element, dass Atmen und jede Bewegung zur Tortur gerieten.

»Wir werden mit dir vorlieb nehmen, Mädchen.«

Die Tante klagte: »Um Himmels willen, seid Ihr denn von allen guten Geistern verlassen, Fatima? Sie ist eine Hexe!«

Die Sarazenin ließ sich nicht beirren. »Nun komm schon herein!«

»Oh, Kind, ob lebendig oder tot …«, lamentierte die Tante, »komm heraus, denn Christus ruft dich ans Licht …«, und stemmte sich mit den Beinen gegen die mit Stroh gefüllte Matratze, als Anna eintrat. Die Decke rutschte von ihren Brüsten. Wie ein Kürbis wölbte sich der Unterleib in Richtung des Schoßes …

»Holt meinen Gemahl!«, flehte die Tante. »Holt ihn vom Feld. – Dann soll er mir eben beistehen – in Gottes Namen…«

Ein Wunschgedanke, an Torheit nicht zu überbieten, dachte Anna. Wann hatte jemals ein Mann einer Geburt beigewohnt? Eher weinte die Statue der Heiligen Jungfrau, die sich in einer Nische der Burgkapelle befand, Tränen von Wasser und Blut!

Ehe Anna sich versah, drängte die Sarazenin sie zum Bett. »Du wirst uns jetzt beistehen müssen, Mädchen. Oder weißt du eine andere Lösung?«

»O Gott, ich kann es nicht …«, entfuhr es Anna. Im Grunde bereitete allein die Vorstellung, ein Kind zu zeugen, ihr Bauchschmerzen. In Nächten, da sie Stöhnen und Wimmern vernahm, das ihr bedeutete, dass Onkel und Tante beieinanderlagen – wie Mann und Frau – empfand sie mehr Angst als Neugier. Ging ihr Mann in die Dorfschenke, hörte Anna die Tante beten. Und Anna fragte sich, ob sie Gott dann unter anderem um Vergebung für die Sünde der Wollust anflehte. Sie hatte gehört, dass der Allmächtige die Pest auch als Strafe dafür über den Menschen verhängt hatte.

Fatima schien ihre Gedanken zu erraten. »Du musst keine Angst haben. Es ist alles weniger schlimm, als du denkst. – Wie heißt du eigentlich?«

Anna nannte ihren Namen.

»Dann heißt du also genauso wie die Mutter der Jungfrau Maria«, stellte Fatima zu Annas Erstaunen fest. »Ich trage übrigens den Namen der Lieblingstochter des Propheten Mohammed, musst du wissen.«

Die Tante geriet in Wut. »Was fällt Euch ein, Fatima, in meinem Hause von Eurer teuflischen Religion zu sprechen? Dabei sagen die Leute, Ihr wärt eine bekehrte Heidin …« Eine Wehe setzte der folgenden Hasstirade ein Ende.

»Du wirst sehen, Mädchen, ich betreibe keine schwarze Magie. Der Gott der Christen und Allah sind meine Zeugen.«

Die Tante wand sich auf der Matratze. »Zum Teufel – helft mir endlich, dieses Kind zur Welt zu bringen, Fatima …«

»Es liegt wahrscheinlich mit dem Steiß voran«, sagte die Heilerin.

»Das ist mit völlig gleich …«

»Solange dies der Fall ist, kann es den natürlichen Weg nicht gehen.«

»Es soll atmen, wenn es geboren wird. Nur wenn es atmet, kann der Geistliche es taufen. Damit es wenigstens in geweihter Erde liegen kann … – Wenn es denn schon sterben muss!« Ein Heulkrampf erfasste sie. »Wie lange wünsche ich mir schon ein Kind? Wie lange schon bleibt mir dieser Wunsch verwehrt? Mein Gemahl wird mir vorwerfen, ich hätte nicht alles Menschenmögliche getan, es zu retten! Es ist immer dasselbe … – Ich flehe Euch an, Fatima, schickt die Hexe aus der Kammer!«

Fatima widersprach: »Ich brauche ihre Hilfe, um das Kind in Eurem Leib zu drehen.«

»Meine Nichte ist von einem Dämon besessen, seit mein Bruder und seine Frau starben. Der Beweis dafür ist ihr Blick!«

»Es gibt keine Dämonen. – Es gibt nur schlechte Gedanken, die Wirklichkeit werden. Und das auch nur, wenn man um jeden Preis an sie glauben will.«

Anna spürte ein Flackern über dem Lid des rechten Auges. Reflexartig wandte sie ihren Blick in Richtung des Herdes. Kupferne Pfannen und Töpfe hingen darüber an der Wand. Der verbeulte Stahl spiegelte ihr Gesicht verzerrt wider.

»Der Teufel soll Euch holen, Fatima!«, fluchte die Tante.

Fatima wusch sich die Hände in einer Schüssel mit heißem Wasser. Anna beobachtete den Vorgang, dem eine Ruhe und Gelassenheit innewohnte, als handelte es sich um ein Ritual. Etwas Mystisches haftete dem Akt geradezu an. Fatima murmelte Worte in einer fremden Sprache, die wie ein Gebet klangen. Anna dachte an die Priester, die die Wandlung vornahmen und dazu lateinische Verse rezitierten. Anna verstand auch diesmal keine Silbe vom Gesagten, doch tief in ihrer Brust spürte sie einen Druck, dass sie meinte, daran zu ersticken.

Fatima ließ eine Hand über ihre Schulter gleiten. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt erschien die Sarazenin inmitten der bäuerlichen Stube. Ihr Haar glänzte schwarz wie das Gefieder eines Raben. In den Augen lag jene Dunkelheit, von der die Leute sagten, ihnen wohnten böse Geister inne, wie sie auch die Raunächte über das Land brachten. Anna hatte Frauen im Dorf munkeln hören, die Sarazenin verwandelte sich in den Raunächten, von welchen es zwölf im Jahr gab, in eine Wölfin. Angeblich war sie in der Nähe der Burg bei einem derartigen Zauber gesichtet worden. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters, das Falten in ihrer dunklen Haut hinterlassen hatte, muteten ihre Bewegungen grazil an. Ihr Haar verbreitete einen Duft von Rosenblüten, den Anna sich nicht erklären konnte. Silberne Schellen hingen an den Ärmeln und am Saum ihres Gewandes. Deren Klang begleitete sie auf Schritt und Tritt.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren!«, sagte Fatima.

»Lasst mich nicht sterben …«, wimmerte die Tante.

Fatima gab sich unbeeindruckt, wandte sich Anna zu. »Hier, Mädchen, halt gut fest.« Fatima führte ihre Hände gegen die Innenseiten der Knie der Gebärenden. Anna spürte den Druck, den die Tante erzeugte, und versuchte an die Decke zu starren, was ihr schon nach kürzester Zeit misslang. Sie sah ein Rinnsal von Blut und Fruchtwasser, das aus dem Muttermund sickerte wie aus einer offenen Wunde.

»Halt fest!«, stöhnte die Sarazenin.

Die Tante starrte gen die Decke.

Anna biss die Zähne zusammen, presste die Beine der Gebärenden auseinander, während diese versuchte, die Kraft der Wehen mit einem Hecheln zu vertreiben. Fatima versenkte eine Hand zwischen den Beinen.

Ein gellender Schrei tönte durch den Raum.

»Dieses Kind hält uns sein Ärschlein hin«, stöhnte Fatima. »Ich glaube, ich spüre die Nabelschnur …«

Die Prozedur schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann zog sie den Arm zurück. Anna begann den Geistlichen zu verstehen, der den Schoß des Weibes als durch und durch schmutzig bezeichnete. Der Anblick von Blut erregte Übelkeit in ihr. Inzwischen hatte eine Ohnmacht die Gebärende ergriffen.

Die Sarazenin schwitzte. Fatima trat zum Tisch. Sie wusch sich in der Schüssel die Hände und Unterarme, tupfte sich den Schweiß mit einem Tuch von der Stirn. Anschließend öffnete sie eine Schatulle.

»Ich verwende eine Mixtur aus Arnika und Rosmarin«, erklärte Fatima. »Beides verstärkt die Wehen. – Und der Salbei hilft gegen Entzündungen im Wochenbett.« Sie löste die feinen Körner in lauwarmem Wasser auf, während die Tante zu sich kam.

»Eine Engelmacherin seid ihr, Fatima. Verflucht sollt Ihr sein… – Und die Hexe hat uns wieder einmal kein Glück gebracht! – Ich habe es gewusst. Ich habe Euch gewarnt…«, wimmerte sie.

»Sprecht ein Gebet!«, befahl Fatima.

Der Befehl zeigte Wirkung. »Heilige Maria, Muttergottes, du bist gebenedeit unter den Weibern …«

Fatima flößte das Gemisch durch einen Schlauch aus Ziegenleder in die Scheide ein. Gleich darauf folgte eine Wehe, begleitet von neuerlichem Wimmern und Geschrei. Der Muttermund öffnete sich einen Fingerbreit. Anna erkannte etwas, das aussah wie ein schwarzer Flaum auf krebsroter Kopfhaut…

Dann schloss der Spalt sich wieder.

Das Lid über Annas rechtem Auge flackerte. Ihr Blick verschwamm.

In das Antlitz der Heilerin traten Sorgenfalten. Fatima blinzelte einen Schweißtropfen – oder handelte es sich um eine Träne? – hinfort.

»… heilige Maria, hilf mir – jetzt und in der Stunde unseres Todes …«

Im Zwielicht der Kammer – erschien es Anna – lauerte plötzlich eine Gestalt. Das Gefühl, das über sie kam, glich dem in jenem Sommer, da die Pest wütete. Die Stimmen der Kinder, die in den Gassen ihr Spiel trieben, hallten durch ihren Kopf…

Fürchtet ihr den Schwarzen Mann?

Anna versuchte den Gedanken zu verdrängen, doch er hielt sich hartnäckig. Sie dachte an den Fremden, den sie sich als Kind vorgestellt hatte – jenen dunklen Gesellen, der von Haus zu Haus ging – an die weißen Kreuze, die überall dort die Türen kennzeichneten, wo er die Bewohner mit Heimtücke geholt hatte. Und sie spürte die Gewissheit. Er befand sich auch diesmal mitten unter ihnen. Wie damals in Passau. Es gab kein Entrinnen. Der Tod fragte nicht.

 

4

Zwischen den Fichten brannte ein Feuer. Rauchschwaden zogen tänzelnd gen die Scheibe des Mondes. Anna weinte. – Die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen.

Die Flammen erloschen mit den ersten Sonnenstrahlen. Ein tiefer – von Albträumen begleiteter – Schlaf übermannte sie. Als sie Stunden später erwachte, breitete der Nachthimmel sich wiederum über ihr aus. In den Sternen glaubte sie, die Gestalt des toten Säuglings zu erkennen. Zum Teufel mit der Missgeburt, hatte die Tante geflucht.

Fatima hatte das Kind, nachdem es bereits tot zur Welt gekommen war, neben die Herdstelle gelegt. Maria Gruber, so hieß ihre Tante, verfluchte Anna als eine Teufelsbuhlin. Die Sarazenin hatte dies ignoriert und Annas Tante geraten, den Leichnam über drei Tage hinweg dort liegenzulassen. Zudem sollte ihr Gemahl dafür sorgen, dass das Feuer bei Tag und Nacht brannte. »Du wirst sehen, die Brust des Mädchens wird sich heben – und euer Geistlicher wird dies für göttlichen Odem halten. – Er muss das Kind dann einfach taufen …« Die Tante, die um das Seelenheil des Kindes fürchtete, setzte ihre letzten Hoffnungen auf diesen Rat der Sarazenin. Eine ähnliche Form von Hoffnung hatte Anna eine Stunde später zu ihrer Flucht in die Wälder bewogen. Sie fürchtete Zorn, Verzweiflung und Gewalttätigkeit des Onkels. Er würde sie halbtot prügeln. Alles konnte von jetzt an nur noch besser werden, beschwor sie sich. Regen setzte ein. Die Tropfen fühlten sich wie glühende Nadelstiche auf der Haut ihres Gesichts an.

Ihre Flucht lag mittlerweile drei Tage zurück. Und manchmal erschienen ihr die Geschehnisse in der Kammer noch wie ein Traum, aus dem sie jeden Augenblick erwachen musste. Anna kniete vor dem erloschenen Feuer nieder. In der Ferne erspähte sie die beiden Türme der Burg. Gott sei Dank hatte keiner der Wächter dort oben den glühenden Punkt in der Dunkelheit gesichtet! Das Torhaus tauchte vor ihrem geistigen Auge auf – samt den Waffenknechten, die das Gittertor bewachten. In ihrer Vorstellung glich die Zugbrücke der Zunge eines feuerspeienden Drachens – ein Drache, der sie auffressen konnte … Ihre Apathie wich. Sie hatte Angst davor, zurückzukehren. Es war diese Vorstellung, die Anna darin bestärkte, zu verdrängen, welche Strafen auf Lehensflucht standen.

Von jetzt an gab es keinen Weg zurück.