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Bruno Heini

Engelsknochen

Kriminalroman

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Zum Buch

Ohne jede Spur Niki, die Sängerin ihrer früheren Rockband, bittet Kaufhausdetektivin Palmer um ein dringendes Treffen – doch Niki taucht nicht auf. Laut ihrer Familie ist sie spontan verreist. Das macht Palmer misstrauisch, denn Niki würde nie einen vereinbarten Termin unentschuldigt sausen lassen. Währenddessen wird in der Zeitung über ein gefundenes Skelett berichtet. Die stets argwöhnische Palmer hat sofort einen entsetzlichen Verdacht. Stammen die Knochen von Niki? Palmer steht unter Schock. Trotz privater Sorgen nimmt sie die Ermittlungen auf, bis Palmer selbst unter Verdacht gerät, in Nikis Verschwinden verwickelt zu sein. Wird es ihr gelingen, den wahren Täter zu entlarven? Palmer kombiniert clever und stößt schon bald auf eine heiße Spur. Dabei enttarnt sie mehr als eine kriminelle Machenschaft – und muss um ihr Leben kämpfen.

Bruno Heini wurde in Luzern geboren, wo auch sein zweiter Thriller »Engelsknochen« spielt. Sein Debüt »Teufelssaat« schaffte es auf Anhieb in die Schweizer Taschenbuch-Hitparade. Bruno Heini arbeitete als Gastronomieunternehmer, wo er zahlreiche Auszeichnungen, wie beispielsweise den »Europäischen Branchen-Oscar« empfangen konnte, und hielt Referate zu Marketingthemen, ehe er sich dem Schreiben von Thrillern zuwandte. Seine Leidenschaft ist die Jazzmusik.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Teufelssaat (2016)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © zardos4711/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5604-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

1

Der kleine Kerl war total aus dem Häuschen, als Samantha endlich zur pinkfarbenen Leine griff, um Milky, ihren einjährigen Havaneser, Gassi zu führen. Mit ihren neun Jahren war Samantha erstaunlich pflichtbewusst, wenngleich ihre Mutter sie heute Abend zweimal hatte auffordern müssen. Sie sollte ihn einmal pro Tag persönlich ausführen, das hatten sich die Eltern ausbedungen, bevor sie den Widerstand aufgaben. Keine Ausnahmen. Samantha hatte übers ganze Gesicht gestrahlt und mindestens hundertmal mit dem Kopf genickt.

Eben erst war der Regen abgeflaut, und beide waren ganz aufgeregt. Milky, weil er es bei jedem Wetter liebte, etwas nachzujagen, einem Ball, einem Blatt im Wind oder einem unsichtbaren Feind. Samantha hingegen war noch immer aufgewühlt, da sie befürchtet hatte, die heutige Folge ihrer Lieblingsserie zu verpassen, sollte es zu lange regnen.

Aber nun war alles gut.

Ihr dunkelblonder geflochtener Zopf tanzte auf dem Kragen der Regenjacke, als sie, von der Löwenstraße her kommend, die breite Treppe zur Hofkirche emporhüpfte, während Milky oben bereits auf dem Kopfsteinpflaster losrannte. Nur da und dort tropfte es noch mit einem leisen Platschen vom Dach des Wohnhauses eines der Chorherren. Die sattgrüne Wiese roch moosig. Samantha schlenderte rechts bei den Gräberfeldern am Gotteshaus vorbei und spazierte über den Kapuzinerweg zielstrebig zur alten Grünanlage hoch, während ihr zotteliger Freund mit offener Schnauze, ganz so, als lächelte er, vor und zurück hetzte. Hier und dort hielt er jäh inne und beschnupperte das eine oder andere. Meistens gingen sie bis ins Dreilindenquartier zum Park der Musikhochschule hoch und erst dann wieder nach Hause. Aber Samantha befürchtete, ihr Spaziergang dauerte bereits jetzt zu lange. Würde die Zeit reichen, sein Fell rechtzeitig trocken zu kriegen, bevor »Hannah Montana« anlief?

»Milky!«, rief sie bestimmt.

Aber der schwarze Havaneser tauchte nicht auf.

Samanthas Vater, gelernter Metzger, der heute als Werbeverkäufer arbeitete, hatte diesem Hundenamen von Anfang an nichts Positives abgewinnen können. »Milky« für einen Hund mit schwarzem Fell! Erst erklärte er, dann appellierte er an ihre Vernunft. Die Kleine aber flehte, schmollte und stampfte beleidigt mit dem Fuß auf den Boden. Schließlich griff Samantha zu einem schlagenden Argument. Sie ließ über ihre Wangen die traurigsten Tränen der Welt kullern. Augenblicklich gab ihr Vater seinen Widerstand auf.

»Milky!«, rief Samantha wieder.

Sie wusste, wie verspielt der Kleine war, und hatte Mitleid mit dem lustigen Kerlchen. Noch eine weitere Minute wollte sie ihm lassen, das müsste dann aber reichen. Nach drei weiteren Atemzügen rief sie bereits wieder seinen Namen, denn sie hielt die Warterei bereits nicht mehr aus. Als er auch diesmal nicht auftauchte, stiefelte sie ihm nach, den Park hoch, am alten Steinkreuz vorbei.

Sie verschärfte die Tonart, schrie seinen Namen, so laut es ging, und klatschte dabei in die Hände.

Nichts.

Sie schnaubte und spähte durch den ganzen Park.

Noch einmal beorderte sie ihn her, jetzt zunehmend schrill und besorgt.

Wo steckte der Bengel?

War ihm etwas zugestoßen?

Sie erstarrte.

War der Dummkopf etwa am oberen Ende des Parks die Treppe hochgehetzt und auf die Hauptstraße hinausgesprungen?

Samanthas Atem ging schnell, als sie den Weg emporeilte.

Noch bevor sie die Treppe erreicht hatte, sah sie ihn.

Wie angewurzelt blieb sie stehen und blickte zur Wiese neben den Bäumen.

Gänsehaut breitete sich über ihren Körper aus. Ihre Lippen formten einen Kreis, doch sie brachte keinen Laut hervor.

»Milky?«, fragte sie unsicher.

Nun hob ihr kleiner Hund den Kopf, dunkelbraun gefärbt von nasser Erde. Er machte einen Satz aus dem Erdloch und hopste zu Samantha. Allerdings schnellte sein Kopf bei jedem Sprung schräg zur Seite, da er etwas in seiner Schnauze trug. Einen Meter entfernt legte er Samantha seinen Schatz vor die Füße, setzte sich, hielt den Kopf schräg und hechelte mit heraushängender Zunge. Treuherzig blickte er Samantha an, wedelte mit dem Schwanz und wartete auf ein Kompliment.

Samantha schlug die Hände vors Gesicht. Nach einigen Sekunden getraute sie sich, zaghaft die Augen zu öffnen.

Im nassen Rasen vor Milky lag ein grausiges Ding.

Ein riesiger weißer Knochen.

Samantha presste beide Fäuste an ihren Mund und begann zu weinen.

Als sie sich etwas gesammelt hatte, schritt sie zögerlich zum ausgebuddelten Loch. Aus sicherer Distanz und mit gestrecktem Hals wagte sie einen ängstlichen Blick.

Ihr zog sich der Magen zusammen, denn im gleichen Moment wünschte sie sich, sie hätte darauf verzichtet.

2

Ein Tag zuvor. Montag. Es war kurz nach halb zehn Uhr morgens. Der Sturmwind peitschte Gewitterregen durch die Straßen, als missfiele dem Himmel, was hier unten geschah. Palmer hatte es beinah bis zum Bahnhof geschafft, hatte in einer Toreinfahrt Schutz gefunden und erblickte nun zwei Passanten, die tapfer gegen eine kalte Sommerböe ankämpften. Ein Lastwagen preschte durch die Straße und spritzte beide nass, bevor sie sich unter einem Vordach aneinanderdrängten, eine Aktentasche noch immer schützend über dem Kopf.

Ein Blitz spaltete das nasse Grau, und für den Bruchteil einer Sekunde erstrahlte Palmer in gleißendem Licht.

Vor längerem hatte ein Vibrieren in der Hosentasche eine eingehende SMS angekündigt. Aber Palmer war gerannt und getraute sich erst jetzt, halbwegs im Trockenen, das Handy aus der Tasche zu fischen.

›Chef, es eilt‹, las Palmer, während ein Windstoß den Regenschirm zerstörte.

Durch das Unwetter und den Lärm der Stadt drang aus der Ferne die Sirene eines Polizeiwagens. Schon schoss die verästelte Zeichnung des nächsten Blitzes über den Himmel. Donner grollte.

Palmer drückte sich gegen die Hauswand, während der Sturmwind die Haare platt an den Kopf presste.

›Diebesbande im Anmarsch! Chef, wir brauchen dich. Echt‹, hatten die Warenhausdetektive geschrieben. Dem zarten »Pling« der ersten Nachricht vor knapp 30 Minuten wäre es beinahe nicht gelungen, Palmer wachzurufen. Heute war ihr arbeitsfreier Tag, so dass sie sich gestern Abend tiefgründig miteinander unterhalten hatten, Palmer und Johnny Walker. Allerdings lagen die Zeiten weit zurück, als Palmer nicht mehr wusste, wo sie die Nacht von Donnerstag auf Montag verbracht hatte.

Aber dies war einer jener Notfälle, die keine Rücksicht nahmen auf Brummschädel und freie Tage. Also war Palmer sofort nach der SMS aus dem Bett gesprungen, hatte einen kurzen Anruf in die Sicherheitsabteilung des Warenhauses getätigt und kämpferisch Befehle erteilt.

Mistwetter.

An den Verkehrsschildern rüttelte der Wind. Er versetzte allen Passanten einen seitlichen Schubser, wenn sie um eine Hausecke bogen, so dass sie um ihr Gleichgewicht rangen. Palmer löste sich fröstelnd aus der geschützten Ecke, klammerte im Weiterrennen mit der linken Faust die Regenjacke vor der Brust zusammen, stürzte mit eingezogenem Kopf durch die Pforte und stand exakt in dem Augenblick im Eingangsbereich des Warenhauses, als ein gewaltiger Donner über der Stadt krachte.

Nass bis auf die Haut, neigte sich Palmer nach vorne und schüttelte, so gut es ging, ihre kurzen blonden Haare trocken. Dann strich sie sich einige Strähnen aus der Stirn. Auch nach Monaten kam es noch immer vor, dass sie innerlich zusammenfuhr, wenn sie sich in die Haare fasste und beinahe ins Leere griff. Zeitlebens hatte ihre goldene Mähne bis zur schlanken Taille gereicht, bis sie eines Tages in einer heftigen Gemütsbewegung der Schere zum Opfer fielen. Palmer war es leid gewesen, dass man sie bei ihren Arbeitsleistungen auf ihre blonden Haare reduzierte. Noch über Wochen flackerte dann und wann ein Gefühl auf, als hätte der Friseur einen Teil ihrer Identität weggeschnitten. Erst als ihre Freundinnen beteuerten, ihr Kurzhaarschnitt passe wunderbar zu den blauen Augen, freundete sie sich mit ihrem neuen Look an.

Palmer drückte eine Kurzwahltaste am Handy und fragte:

»Welche Etage?«

»Ist okay, Chef«, beruhigte ihr Stellvertreter, »inzwischen haben wir alles unter Kontrolle. Die ersten vier haben wir im Büro eingeschlossen. Die Polizei ist unterwegs. Der Rest der Bande hat sich verzogen, als wir aufgetaucht sind.«

Palmer sog die Luft ein, dann glättete sich ihre Stirn. »Gute Teamarbeit. Wie groß ist der Schaden?«

»Soweit wir dies beurteilen können, waren wir rechtzeitig vor Ort. Alles übrigens genauso, wie du’s vorausgesagt hast.«

Palmer grinste entzückt. »Okay, bis morgen«, sagte sie, »Kompliment. Habt ihr gut gemacht. Ich freue mich für euch.« Sie verabschiedete sich mit netten Worten. Insgeheim verstimmte sie dieser Einsatz ein klein bisschen, denn sie hätte gern wieder mal ausgeschlafen an ihrem freien Tag. Die Freude aber überwog. Und sie fühlte sich geschmeichelt, dass ihre Abteilung in einer brenzligen Situation wie selbstverständlich Hilfe gesucht hatte bei ihr.

Sogleich tippte sie »Cappuccino???« ins Handy ein. Da sie schon mal im Stadtzentrum war, wollte Palmer ihre rare Zeit für ein Treffen mit Juli nutzen. Vielleicht hatte sie Glück, und ihre Freundin weilte gerade in Luzern und jettete mal nicht als Fotomodell um die Welt.

Julis Antwort ließ nur Sekunden auf sich warten.

»Nööö, geht leider nicht, Shooting auf den Malediven. Melde mich.«

Palmer senkte langsam den Kopf. Schade, dachte sie.

Den Vordächern entlang huschte sie in die Konditorei zwischen Hauptpost und dem Geschäft mit Luxusuhren am Bahnhofplatz, erstand eine Haselnussschnecke und setzte sich dann ins Café. Kaum hatte sie die nasse Jacke ausgezogen, stand bereits ein heißer Espresso mit Keramikdeckel vor ihr auf dem Tisch, denn die Bedienung kannte Palmer seit langem und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab.

In Palmers Brust breitete sich ein Wärmegefühl aus.

»Wie aufmerksam von dir«, sagte sie zur Bedienung.

Diese quittierte mit einem Lächeln und einem »Schön, dass du hier bist«.

»Ist Niki letzten Freitag noch aufgetaucht, nachdem ich gegangen bin?«, fragte Palmer sie. »Wir waren verabredet, aber ich habe vergeblich gewartet.«

»Wir haben sie schon länger nicht mehr gesehen«, sagte sie und stellte sich neben Palmer. »Hast du nicht gesagt, heute ist dein freier Tag? Dann kreuzt du doch sonst hier nicht auf. Schön, dass du wieder bei Othello arbeitest. Die wären auch zu blöd gewesen, auf deinen guten Riecher zu verzichten.«

In der Tat war Palmer trotz Bedenken auf das Jobangebot des ehemaligen Arbeitgebers eingegangen. Im Unterschied zu früher und unter einem neuen Direktor war sie jetzt zur Leiterin der Warenhausdetektive aufgestiegen. Zur Genüge hatte sie ihr Können bewiesen.

»In einem Notfall dürfen meine Leute mich auch an freien Tagen rufen«, antwortete Palmer. »Zwei Diebe haben sich viel zu leicht überführen lassen.«

Die Bedienung nickte zwar, aber dies widersprach ihrem fragenden Gesicht.

»Dies bedeutet für uns, dass gleich eine professionelle Bande das Haus heimsuchen wird«, fuhr Palmer fort. »Der Trick geht so: Die einen lassen sich mit geringfügigem Diebesmaterial erwischen, wofür kein Richter der Schweiz eine Strafe ausspricht. Kleine Diebstähle scheinen ein Menschenrecht zu sein. Also: Die ertappten Diebe beschäftigen alle diensthabenden Warenhausdetektive. Diese führen die Diebe ab, hinter die Kulissen. Dann tauchen ihre Komplizen auf und klauen unbehelligt echt Wertvolles, weil die Detektive in den Hinterräumen beschäftigt sind. Aber nicht bei uns. Heute haben meine Kollegen den Braten gerochen. Sie markierten rechtzeitig wieder auf den Abteilungen Präsenz.«

»Othello tut aber auch alles, dass man dieses Zeug unbedingt haben will. Würdest du mich laufen lassen?« Sie lächelte ironisch.

»Auch ich kann mir nicht alles leisten.« Palmer wedelte den Gedanken fort wie eine Fliege. »Ich verstehe sogar, dass der eine oder andere der Verlockung erliegt. Andererseits stößt mich diese Unersättlichkeit ab. Nein, nein, es ist richtig, dass ich Diebe fasse. Und zwar alle. Die Leute brauchten ja gar nicht erst das Warenhaus zu betreten, wenn die Sachen außerhalb ihres Budgets liegen.«

»Aber dann hättest du deinen Job nicht.«

Palmer zwang sich zu einem Lächeln.

Dann griff sie zum Handy und drückte Nikis Kurzwahl. Sofort sprang die Mailbox an. Palmer probierte es noch einmal. Wieder nichts. Dann simste sie: »Ruf mich bitte zurück. Jetzt.«

Palmer wartete.

Nichts geschah. Auch nicht nach Minuten.

Ungeduldig blickte sich Palmer um, während die Gewitterfront vor dem Schaufenster weiterzog. Das war sie von Niki nicht gewohnt. Niki hatte Termine immer pünktlich eingehalten. Ihre Schwächen, mit denen sie ihren damaligen Bandkollegen auf den Keks ging, lagen anderswo. Und alle hatten damals damit zu leben. Denn sie war nun mal die Sängerin, also jener Teil einer Band, welchen die Medien und die Öffentlichkeit wahrnahmen.

Palmer schnaubte kurz. Sie fragte sich, weshalb Niki so dringend um ein Treffen für Freitag gebettelt hatte, dann aber unentschuldigt ferngeblieben war und auch heute auf nichts reagierte. Allerdings hatte es früher auch schon dann und wann Zeiten gegeben, in denen Niki mit ihren Freundinnen fahrlässig umgegangen war. Auch Juli war zurzeit nicht gerade ihr größter Fan. Irgendwas muss da gewesen sein zwischen den beiden.

Palmers Kiefer mahlten.

Sie wählte Nikis Festnetznummer und war bereit, es zehn Minuten lang klingeln zu lassen, bis die Freundin den Anruf entgegennehmen würde.

Doch bereits nach dem dritten Läuten kam Palmer durch.

»Weshalb rufst du nicht zurück?«, fragte sie sofort.

»Kenn ich Sie?«, fragte eine Frauenstimme.

Palmers Mundwinkel zuckten und sie zog die Augenbrauen hoch.

»Sie sind nicht Niki. Können Sie bitte Niki ans Telefon rufen?«, sagte Palmer.

»Niki ist nicht hier. Aber wer ist dort?«

»Palmer.«

»Palmer? Chris Palmer? Sind Sie das?«, fragte die Frauenstimme.

»Mit wem spreche ich?«

»Toll. Ich habe Ihre Band immer bewundert. Da ich jetzt selber ein Star bin mit meinem Song, sind wir eigentlich Kolleginnen. Ich sag deshalb einfach mal du zu dir. Was hältst du von meinem Lied?«

»Sorry, wer spricht dort?«, fragte Palmer verwirrt.

»Jessica. Mein Song läuft dauernd im Radio.«

Als es Palmer dämmerte, klang ihre Stimme entschlossen: »Ihr Song? ’tschuldige, aber ich hätte schwören können, der sei von Niki. Niki meinte dies übrigens auch.« Palmers Unterkiefer schob sich nach vorne. »Würden Sie jetzt bitte Niki ans Telefon holen?«

»Die ist nicht hier. Die ist in Afrika«, sagte Jessica. »So schön, mit dir persönlich zu sprechen. Können wir uns mal treffen? Ich hätte da einige Fragen, so von Musikerin zu Musi…«

Palmer unterbrach die Verbindung.

Eigentlich wollte Palmer nicht unfreundlich sein. Aber sie erinnerte sich an die kleine Vorgeschichte.

Niki hatte vor einigen Tagen angerufen und geschäumt vor Wut. Sie hatte sich darüber beschwert, Jessica habe ohne Einwilligung von Niki den noch unveröffentlichten Song »Dance With Me« von ihr rausgebracht. Hierauf hatte Palmer den Radio angedreht. Es dauerte dann nicht lange, bis Jessicas Liedchen ertönte. Der Text, oder besser die aneinandergereihten Worthülsen waren dann auch belanglos genug, um es in die Hitparade zu schaffen. Aber ab dem ersten Ton der fröhlichen Melodie war für Palmer klar, Jessica war keine Musikerin, sondern halt bloß ein hübsches Ding mit dünnem, aber herzigem Stimmchen. Doch den Leuten schien es zu gefallen.

Palmer ärgerte sich nun trotzdem, dass sie das Gespräch abgebrochen hatte. Denn sie hätte gerne mehr über Nikis Aufenthaltsort erfahren. Afrika? Weshalb behauptete diese Jessica, Niki sei in Afrika?

Palmer war von Niki einiges gewohnt. Aber Niki war immer pünktlich gewesen. Dies machte Palmer stutzig. Erst recht, da Niki sie so dringend um einen Termin gebeten hatte. Nein. Niki ließ keinen Termin sausen, weil sie nach Afrika verreist war. Sie hätte entweder das Treffen gar nicht vereinbart oder sich abgemeldet, wenn sie verhindert wäre.

Da Palmer keine Geschäftsnummer von Nikis Ehemann hatte, rief sie die Auskunft an, ließ sich verbinden, wartete, bis jemand den Anruf entgegennahm, um dann aber sogleich zu erfahren, dass Aschwanden zwar anwesend sei, jedoch gerade ein anderes Telefonat führe.

Großzügig legte Palmer Münzen für den Kaffee auf den Tisch und verabschiedete sich mit einem »Pass gut auf dich auf.«

Es hatte zu regnen aufgehört.

Aber Palmer ging nicht nach Hause, denn sie wollte sich Klarheit verschaffen.

3

Die Sempacherstraße lag zentral in einem geschäftigen Wohnquartier. Ein mehrstimmiger Akkord erklang, nachdem Palmer mit dem Aufzug in den dritten Stock gefahren war und bei ›Dr. jur. Beat Aschwanden, Advokatur und Wirtschaftsberatung‹ geklingelt hatte.

Sie betrat die Kanzlei.

Eine Sekretärin blickte von der Tastatur hoch und fragte, wie sie weiterhelfen könne, erhob sich jedoch nicht, um Palmer am Empfangstresen zu begrüßen. Eine schmallippige Frau, die offenbar aus Prinzip auf Make-up verzichtete. Ihr Gesicht sah so aus, als sei sie ständig empört.

»Nein, leider telefoniert Herr Aschwanden noch immer. Ob er anschließend Zeit für Sie hat, weiß ich nicht. Darf er Sie später anrufen?«

Palmer drehte den Kopf zur Tür, die sich eben geöffnet hatte.

»Hallo, Frau Palmer, was führt Sie zu uns?«, fragte Aschwanden, legte einen dünnen Stapel Papiere auf den Schreibtisch der Empfangsdame und richtete ihn bündig zur Tischkante aus, während ein breites Lächeln einen goldenen Backenzahn enthüllte.

Die glänzenden schwarzen Schuhe, das weiße Hemd mit Windsor-Kragen und die hellblaue Seidenkrawatte trugen das Ihre dazu bei, dass er aussah wie Mitte 50. Aber sie wusste von Niki, dass er 48 Jahre alt war und somit zwanzig Jahre älter als sie selber. Groß, schlank, die Lesebrille an einer Kette um den Hals, perfekt gebräunt und mit einem kleinen Leberfleck auf der linken Wange. Bei einer Frau wäre er als Schönheitsfleck durchgegangen, bei ihm war’s halt ein Leberfleck. Allerdings verströmte er eine Aura von stählerner Kraft, so als müsse er ein ganz wichtiger Mensch sein. Und er hatte einen Ausdruck um die Augen, der ihn auch dann so wirken ließ, als lächelte er, selbst wenn er es nicht tat.

»Was verschafft mir die, äh, Ehre?«, sagte er. Wenn er sprach, bewegten sich seine Lippen kaum. Er stellte sich in geschäftsmäßigem Abstand vor Palmer, die Hände so in die Hüften gestemmt, dass sie eine goldene Rolex zum Vorschein brachten.

Palmer kannte Aschwandens grundsätzliche Bedenken ihr gegenüber. Er missbilligte jeden weiteren Kontakt von Niki zur Musikszene. Dies hatte er sich ausbedungen, als er Niki heiratete. Als Treuhänder lebe er von Vertrauen und Glaubwürdigkeit und das Musikbusiness sei schließlich als ausschweifend berüchtigt, hatte er seine Forderung begründet. Niki war darauf eingegangen und hatte sich vollständig aus der Musikszene verabschiedet.

Palmer begrüßte ihn mit einem Lächeln, fragte jedoch sogleich:

»Wo steckt Niki?« Unbewusst wippte sie bereits mit dem Fuß.

Aschwanden verdrehte die Augen und blickte weg. »Monika, äh, Niki findet gerade zu sich selber.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah Palmer streng in die Augen. »Letzten Donnerstagabend bin ich mit Jessica, meiner, äh, Freundin, nach Hamburg geflogen. Am Freitagabend habe ich Niki telefonisch im ›Titlisblick‹ erreicht, unserem Wochenendhaus in Engelberg. Da hat sie mir mitgeteilt, sie verreise für einige Tage nach Marokko. Als wir gestern Abend zurückkamen, war sie jedenfalls nicht mehr zu Hause.«

»Entschuldigen Sie, aber das kann nicht sein. Sie hatte dringend um ein Treffen mit mir gebettelt, ist jedoch nicht erschienen und war nicht mal telefonisch erreichbar. Bis heute.«

»Wundert Sie das?«

Palmer wusste, dass dicke Luft herrschte zwischen Niki und ihrem Ehemann. Und sie kannte Nikis Zickigkeit zur Genüge. Auch als Sängerin in Palmers Band hatte sich Niki einiges geleistet. Zwar verfügte sie über eine Hammerstimme, aber als Persönlichkeit war sie kein Hauptgewinn. Eine Schönheit, die ihren Kopf durchsetzte und sich schnell langweilte. Okay, Palmer kannte mit ihr auch gute Zeiten, insbesondere auf Tourneen, wenn das Publikum so richtig abging und auch Niki gut drauf war. Dann war sie ein richtiger Schatz. Von solchen Momenten zehrte dann die ganze Band über die darauffolgenden Durststrecken.

»Wovon hatte Niki denn die Nase voll, dass sie sich nach Afrika absetzt?«, fragte Palmer.

Aschwanden lächelte traurig und schüttelte den Kopf.

Offenbar war Niki mal wieder abgetaucht, weil sie von allem, insbesondere ihrem Ehemann, genug hatte. Aschwanden war zwar überhaupt nicht Palmers Welt, trotzdem tat er ihr leid. Für getrennte Schlafzimmer hatten sie sich schon bald nach der Hochzeit entschieden. Und es war kein Geheimnis, dass Niki ihn sich nur der Kohle wegen ausgesucht hatte. Bereits nach einigen Monaten hatte Niki durchblicken lassen, ihr fehle es im Leben mit Aschwanden an nichts, außer an Abwechslung und Action.

»Kaum langweilt sie sich, schaut sie sich in der weiten, äh, Welt um«, sagte er jetzt. »Sie hat einfach zu viel Zeit und erträgt die Stille nicht. Vermutlich nicht mal sich selber. Ich habe sie x-mal am Handy angerufen, aber sie hat nicht geantwortet, jedes Mal ist die Mailbox angesprungen. Mit Zurückrufen tut sie sich schwer. Schon seit längerem

Niki war eine Frau, nach der die Männer ihre Hälse reckten. Aber es ging ihr nicht um Abenteuer. Palmer konnte sich vorstellen, wie sich Niki einen Spaß daraus machte, irgendwohin zu verreisen und für einige Tage ihr Handy auszuschalten. Aber für Palmer blieb die Frage unbeantwortet, weshalb Niki sie so dringend treffen wollte, dann aber, ohne sich abzumelden, nicht aufgetaucht war.

»Was will sie denn in Marokko?«

»Sie hat zwei Wochen im Mandarin Oriental gebucht, in Marrakesch. Auf unserer Hochzeitsreise ist sie dort auf Wolke sieben geschwebt.« Er atmete tief durch, dann ergänzte er: »Niki kommt bestimmt bald zurück. Das tat sie noch jedes Mal.«

»Aber Niki hasst Fliegen. Das weiß ich genau.«

Er schüttelte den Kopf. »Ihre Flugangst hat sie nie überwunden. Sie wird wohl mit dem Zug gefahren sein. Über Frankreich und, äh, Spanien. Ist durchaus machbar.« Er starrte auf seine Handrücken. Dann hob er seinen Blick und lächelte. »Allerdings steht ihr Wagen nicht in der Garage, das irritiert mich schon etwas. Vielleicht hat sie ihn im Bahnhofparkhaus abgestellt.«

»Ist sie im Hotel eingetroffen?«

Aschwanden drehte sich zu seiner Sekretärin und übertrug ihr die Aufgabe, im Hotel nachzufragen. Dann prüfte er, ob sein Krawattenknoten richtig saß und streckte Palmer die Hand hin, um sich zu verabschieden. »Gleich kriege ich Besuch. Muss mich noch kurz vorbereiten. Ich ruf Sie später an, um Nikis Ankunft zu bestätigen.« Er drehte sich um und winkte im Weggehen mit der Hand über dem Kopf. »Frau Eiholzer nimmt Ihre Nummer entgegen. Schönen Tag noch.«

Palmer fragte sich, ob er die in der Geschäftswelt übliche Nummer des Vielbeschäftigten abzog. Sie drehte sich zur Sekretärin, stieß langsam die Luft aus und fragte sich selbst: Scheint ihn das alles gar nicht groß zu kümmern?

Ihr schwante Böses.