Details

Grüne Glasscherben - Eine Kindheit im Norden


Grüne Glasscherben - Eine Kindheit im Norden

Lebenslinien 1934 - 1952
1. Auflage

von: Lonny Neumann, Jürgen Graetz

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 06.06.2014
ISBN/EAN: 9783863945473
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 192

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

»Lesen verdirbt den Charakter« und »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« sind Leitsätze der Großeltern - kleiner Leute - für die Erziehung von Lore, die mal was Besseres werden soll.
Je mehr sie aber behütet wird, umso mehr strebt sie >overkieksch< ein eigenes Leben an, Krieg und Nachkrieg bestimmen den Alltag der Heranwachsenden und lehren sie, dass auch der Satz der Vatergeneration »Mit den Wölfen muss man heulen« falsch ist.
Sie bricht aus der vorgegebenen Welt aus; engagierte Lehrer und geliebte Gedichte helfen ihr auf der Suche nach dem eigenen Weg.

LESEPROBE:
Fast jede Nacht heulten die Sirenen. Großmutter riss das Kind mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Lore sollte übereinander anziehen, was sie besaß: zwei Leibchen, zwei Kleider, den Wintermantel. Vor Müdigkeit zitternd, manchmal den großen Puppenjungen im Arm, folgte sie der Großmutter in den Keller.
Es war ein normaler Keller, in dem die Asseln herumkrochen, nur durch ein dünne Decke von den Wohnungen darüber getrennt. In Regalen standen Gläser mit Eingewecktem. Zu einem Haufen in die Ecke geschüttet, keimten die Kartoffeln, lagen Wruken. Hier saß nun die Großmutter, das schwarze Wolltuch über den feinen Strohhut mit dem Veilchenbukett gebunden, schweigsam neben der lahmen Nachbar-Anna. Manchmal rieselte der kalte, feine Sand unter den Detonationen, die die große Stadt Stettin erschütterten. Sobald die Bomber ihr Werk getan, flogen sie den gleichen Weg zurück, um vielleicht schon morgen wiederzukommen.
Die Sirenen heulten zur Entwarnung. Großmutters Angst, einer der Flieger könnte über uns noch eine übrig gebliebene Bombe fallen lassen wie zum Spaß, zur eigenen Freude, war wieder beschwichtigt.
Trotz der schützenden Panzersperren belud Großvater an einem der kommenden kalten Apriltage den kleinen Handwagen mit ein paar Decken. Großmutter rückte den guten dick gekochten Himbeersaft - für einen besonderen Anlass gedacht - heraus. Aus allen Häusern kamen die Leute, spannten sich vor ihre mit ein paar Habseligkeiten beladenen Handwagen. Großmutter band die Kasserolle an einer Strebe fest wie sie es bei den Flüchtlingen gesehen hatte, die im Winter mit dem Treck durch die Stadt gezogen waren.
»Dat hem’w noch nicht erlebt«, brabbelte sie wieder und wieder und vergaß wie manchmal in den folgenden Wochen ihren Vorsatz, mit dem Mädchen Hochdeutsch zu sprechen.
Die blanke Angst trieb alle aus den Häusern, aus der Stadt. Ein Zug aus beladenen Handwagen bildete sich, zog den Walkmüllerweg entlang.

Lonny Neumann
Geboren 1934 in Strasburg/Uckm., Oberschule Prenzlau, Lehrerstudium in Potsdam. Lehrerin in Potsdam und in der Internatsoberschule Seewalde, Studium und Sonderkurs am Literaturinstitut Leipzig 1975-1978
Seit 1980 Leben und Schreiben mit Unterbrechungen in Potsdam, 1992 - 93 wissenschaftliche Mitarbeit an der Universität Potsdam, Kasack-Ausstellung mit Archivgut aus Marbach, 1995 Gast an der Ausländeruniversität in Perugia
1999 und 2004 Wiepersdorf-Stipendium
Veröffentlichungen:
Erzählungen, Kinderbücher, Rundfunkarbeiten. „Vier Stationen hinter der Stadt&quot; im Mitteldeutschen Verlag
1990 Novemberblätter: Tagebuch: „Was tun? Was tun!&quot; FHS Potsdam (1990)
„Hermann Kasack-Leben und Werk&quot;, in Ausstellungsnachbereitungen und Büchern. (Peter-Lang-Verlag, Frankfurtfurt a. M. 1993)
„Hermann- Kasack in Potsdam&quot;; Buntbuch, Frankfurt/Oder u. a.
„Literatur in Potsdam nach 1945&quot; (1998)
„Der andere Lehrer&quot;, Essayistisches über reformpädagogische und Seewalder Versuche, Universität Potsdam (1996)
„Der Stein&quot;, Tag- und Traumfragmente., Roman, Auwald 2000
„Grüne Glasscherben&quot;. Kindheit im Norden, Märkischer Verlag 2006
Texte für den Rundfunk, Beiträge in Zeitschriften und Anthologien, (Signum. Ort der Augen), auch in „Zeitstimmen&quot;. Brandenburgisches Tagebucharchiv im Internet.
noch einmal Hermann Kasack in Potsdam (Literaturport 2010)
Fast jede Nacht heulten die Sirenen. Großmutter riss das Kind mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Lore sollte übereinander anziehen, was sie besaß: zwei Leibchen, zwei Kleider, den Wintermantel. Vor Müdigkeit zitternd, manchmal den großen Puppenjungen im Arm, folgte sie der Großmutter in den Keller.
Es war ein normaler Keller, in dem die Asseln herumkrochen, nur durch ein dünne Decke von den Wohnungen darüber getrennt. In Regalen standen Gläser mit Eingewecktem. Zu einem Haufen in die Ecke geschüttet, keimten die Kartoffeln, lagen Wruken. Hier saß nun die Großmutter, das schwarze Wolltuch über den feinen Strohhut mit dem Veilchenbukett gebunden, schweigsam neben der lahmen Nachbar-Anna. Manchmal rieselte der kalte, feine Sand unter den Detonationen, die die große Stadt Stettin erschütterten. Sobald die Bomber ihr Werk getan, flogen sie den gleichen Weg zurück, um vielleicht schon morgen wiederzukommen.
Die Sirenen heulten zur Entwarnung. Großmutters Angst, einer der Flieger könnte über uns noch eine übrig gebliebene Bombe fallen lassen wie zum Spaß, zur eigenen Freude, war wieder beschwichtigt.
Trotz der schützenden Panzersperren belud Großvater an einem der kommenden kalten Apriltage den kleinen Handwagen mit ein paar Decken. Großmutter rückte den guten dick gekochten Himbeersaft - für einen besonderen Anlass gedacht - heraus. Aus allen Häusern kamen die Leute, spannten sich vor ihre mit ein paar Habseligkeiten beladenen Handwagen. Großmutter band die Kasserolle an einer Strebe fest wie sie es bei den Flüchtlingen gesehen hatte, die im Winter mit dem Treck durch die Stadt gezogen waren.
»Dat hem’w noch nicht erlebt«, brabbelte sie wieder und wieder und vergaß wie manchmal in den folgenden Wochen ihren Vorsatz, mit dem Mädchen Hochdeutsch zu sprechen.
Die blanke Angst trieb alle aus den Häusern, aus der Stadt. Ein Zug aus beladenen Handwagen bildete sich, zog den Walkmüllerweg entlang. Unbeachtet blieben Weiden und Gärten, die Mühle.
Die Flieger kamen wieder, noch bevor der Zug die Feldscheune des Bauern Ewald erreichte. Hier wollten die Flüchtlinge ausharren, bis alles vorbei wäre. Auf gruseligen Plakaten waren Bilder vom Russen abgebildet, viel größer als die Deutschen. Sie trugen Messer im Mund und Siebenmeilenstiefel.
Tiefflieger stießen aus der Luft herab und fuhren mit Schüssen zwischen die Fliehenden. Während einer vermeintlichen Pause, als der Großvater und die Großmutter das Wägelchen in die Scheune fuhren, um für einen guten Platz zu sorgen, war Lore allein.
Plötzlich stießen noch einmal Tiefflieger aus der Luft herab. Lore zog sich das Regencape über. Es war grün wie die Wiese. Als sie sich damit auf den Boden warf, hoffte sie, unsichtbar zu sein. Aus der Bauchlage schmuhlte sie nach oben und sah das Gesicht eines Fliegers über sich. Sie erkannte die Augen hinter der große Brille. Sie schloss die Augen und legte die Handflächen auf das Gras. Sie fühlte, wie sie bei dieser Berührung mit der Erde etwas verließ: die Angst.
Als sie den Kopf hob, sah sie die Flieger abziehen. Der Großvater beugte sich über sie. Sie legte ihre Hand in die große, schwielige Großvaterhand und behielt für immer den Augenblick der Geborgenheit inmitten des Chaos in Erinnerung.
Großmutter Johanna ergatterte den besten Platz in der Scheune. Es war die Ecke, in die keiner kam, nicht einmal der Zugwind. Alle vier Wände waren dicht besetzt. Im Stroh saßen, lagen, hockten die Menschen. Sie hörten die Geschosse über das Dach pfeifen. Sie bangten, ob ihr Zuhause in der Stadt unversehrt blieb.
Erst später erfuhr, wer danach fragte, dass für kurze Zeit eine weiße Fahne vom Rathausturm herabgeweht hatte. Kaufmann Schwager, der am Marktplatz wohnte, hatte sie gehisst. Für einen Augenblick war der Kampflärm verstummt.
Doch Breitsprecher, der kleine dicke Breitsprecher in der braunen Uniform, in seinem Alltagsleben auch nichts weiter als Schreibwaren-Ladeninhaber und nur kraft der Uniform so ein wichtiger Mann - &gt;Ortsgruppenleiter&lt; - hatte die weiße Fahne heruntergerissen und die Hakenkreuzfahne wieder aufgezogen.
Da entflammte der Kampf um die paar Straßen, den Postberg, die Fachwerkhäuser in der Feldstraße, um Brauerei und Milchladen und Zuckerfabrik wieder, fiel selbst das Rathaus zu Schutt und Asche.
Als es endlich still wurde, stieg von den Trümmern der Geruch nach verbrannten Häusern auf und zog bis an die Scheune herüber. Neugierig wagte sich Großvater bis ans Tor.
»Da kümmt ’n ganz Schützenlinj!«, rief er erleichtert. Aber sogleich kippte der Ton um: »Großer Gott, dat is all de Russ!«
Hoffte der alte Mann, hier auf dem Acker der kleinen Uckermark könnte der Krieg doch noch eine Wende nehmen?
Aber schon schrie auch Großmutter: »De Russ!« Sie zog das schwarzwollene Kopftuch über den Hut und riss das Kind an sich.
Beinahe unauffällig hatten einige Familien die Scheune verlassen. Zögernd und stumm, in großen Abständen, waren sie wie nach einer geheimen Verabredung gegangen. Die geblieben waren, standen nun auf, hoben ergeben die Arme und sahen angstvoll auf das Tor, in dem noch allein der Großvater stand und durch das gleich &gt;de Russ&lt; käme.
Ein fremder junger Soldat trat ein, die Maschinenpistole lose um den Hals gehängt. Er war nicht größer als der Großvater. Die Uniform hatte die Farbe von Lehm wie er drüben an der Abdeckerei vorkam. Anders als auf den Plakaten sah &gt;de Russ&lt; aus und anders, als sich Lore den Feind nach den Berichten aus dem kleinen Volksempfänger vorgestellt hatte. Er trug kein Messer im Mund und nicht Siebenmeilenstiefel, mit denen er den weiten Weg zurückgelegt hatte.
Er hockte sich vor das Kind ins Stroh und hielt die langen Zöpfe unterm Kinn zusammen.
»Du chaben Angst?« Das pockennarbige Gesicht näherte sich, unbekannte Gerüche überfielen das Mädchen. Sie hob beide Arme wie es die großen Leute in der Scheune taten. Sie hatten - anders als beim Gruß für den Führer - beide Arme gereckt.
Großmutter schob sich zwischen den Soldaten und das Kind und sagte im feinsten Hochdeutsch: »Wir ergeben uns.«

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