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Peter R. Lehman

Einen wie dich könnte ich lieben

PROLOG

Die aparte französische Architektin Christine Rousseau sieht ihre Chance endlich gekommen, sich an dem Scheidungsanwalt Alexandre de Rochefort zu rächen. Sie glaubt, dass er den Tod ihres Stiefvaters, bei dem sie aufgewachsen ist, verschuldet hat. Alexandres Auftrag, für ihn eine imposante Villa zu entwerfen, gibt ihr die Gelegenheit, diesen attraktiven Mann zu umgarnen. Schon bald scheint sie am Ziel angelangt zu sein: Er bittet sie, seine Frau zu werden. Genau das war Christines Plan: Hochzeit, Scheidung und auf eine riesige Abfindung klagen, damit Alexandre, genau wie ihr Stiefvater, finanziell ruiniert ist. Doch bei ihrem Vorhaben unterläuft ihr ein entscheidender Fehler. Sie verliebt sich unsterblich in ihren Mann - jede Nacht wird zu einem Sturm der Leidenschaft. Trotzdem verliert sie ihren eigentlichen Plan keineswegs aus den Augen: Als sie überraschend vorzeitig von einer Reise heimkehrt, verlässt Alexandre gerade mit einer anderen im Arm ihr Haus. Obwohl Christine fast das Herz zerbricht handelt sie sofort…

1. KAPITEL

Als Christine Rousseau beim Scheidungsprozess ihres Stiefvaters, den Richterspruch über die Abfindung für seine Exfrau hörte, traute sie ihren Ohren nicht. Evelyne wurde eindeutig bevorzugt. Christine musste sich zwingen, nicht aufzuspringen und dagegen zu protestieren.

Sie beugte sich vor und sah, wie die frisch geschiedene Madame de Tourcy ihren Anwalt strahlend anlächelte. Dieser verzog keine Miene seines ausdrucksstarken Gesichts. Freilich hätte Alexandre de Rochefort allen Grund gehabt, seine Befriedigung zu zeigen. Wie bei französischen Anwälten üblich, errechnete sich sein Honorar aus dem immensen Streitwert, und er hatte soeben ein Vermögen verdient.

Christine wusste, dass es nicht die monatlichen Unterhaltszahlungen waren, die ihren Stiefvater, manch schlaflose Nacht bereiteten. Arthur de Tourcy war schließlich ein vermögender Mann. Doch damit, dass die Richterin Evelyne auch die Firmenanteile, die Arthur ihr vier Jahre zuvor zur Hochzeit überschrieben hatte, zusprechen würde, hatte er nicht gerechnet. Freunde und Familie hatten ihn seinerzeit eindringlich davor gewarnt, aber er hatte nicht auf sie hören wollen. Entgegen aller Ratschläge heiratete er die dreißig Jahre jüngere Krankenschwester, die ihn nach seinem Herzinfarkt gepflegt hatte. Jetzt bezahlte er den Preis für seine Starrköpfigkeit.

Den Richterspruch hatte er äußerlich unbewegt aufgenommen und auch nicht auf das triumphierende Lächeln seiner geschiedenen Frau reagiert. Doch als Alexandre de Rochefort im Gerichtssaal auf ihn zukam verhärteten sich seine Züge. Die ausgestreckte Hand des jüngeren Mannes ignorierte er.

Der Anwalt schien die Abfuhr nicht zu bemerken. „Ich hoffe, Sie nehmen die Sache nicht persönlich, Monsieur de Tourcy. Schließlich ist es meine Pflicht, im Sinne meiner Mandanten zu handeln.“

Und zwar ohne Rücksicht auf andere, dachte Christine grimmig. Alexandre de Rochefort war ihr schon unsympathisch gewesen, noch bevor sie ihn zum ersten Mal im Gerichtsaal erlebt hatte. Obwohl er erst Mitte Dreißig war, hatten ihn seine Erfolge überall in Frankreich berühmt gemacht. Da er auch während seiner Freizeit gern im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand, war er schnell zum Liebling der Medien geworden. Es gab keine exklusive Veranstaltung, an der er nicht teilnahm, stets in Begleitung aufregend schöner Frauen.

Wenngleich Christine wenig von seinen menschlichen Qualitäten hielt, musste sie zugeben, dass er in seinem Beruf brillant war und, wie die meisten Staranwälte, ein ausgezeichneter Schauspieler. Er setzte seine äußeren Vorzüge, ebenso wie seine Überzeugungskraft und seinen messerscharfen Verstand geschickt ein, um die Richter für sich zu gewinnen.

Christine drängte sich rasch an den vielen Reportern, die Evelyne umlagerten, vorbei und erreichte fast gleichzeitig mit ihrem Stiefvater den Ausgang.

Arthur de Tourcy legte dankbar die Hand auf ihre Schulter. „Es war lieb von dir zu kommen.“ Er klang erschöpft. „Ich weiß doch, wie viel du zu tun hast.“

„Für dich würde ich jede Arbeit liegenlassen. Ich wünschte nur, ich hätte dir mehr geben können als nur moralische Unterstützung. Dieser Rochefort ist ein eiskaltes Ungeheuer.“

„Aber eines, das gewinnt. Und darauf kommt es an.“

„Du gehst natürlich in die Berufung. Wenigstens die Firmenanteile muss man dir zurückgeben.“

Arthur de Tourcy schüttelte den Kopf. „Davon verspreche ich mir wenig. Du hast ja gesehen, wie harmlos und unschuldig Evelyne wirkt. Ich werde versuchen, ihr die Anteile zu einem fairen Preis abzukaufen.“

Christine wusste, worum es ging. Solange sie zurückdenken konnte, hatte Amco-International versucht, die Kontrolle über die Firma ihres Stiefvaters zu erlangen. Wenn Evelyne die Anteile an Amco verkaufte, müsste Arthur zusehen, wie sein Lebenswerk an die Konkurrenz überging.

Vor dem Gerichtsgebäude blieb Christine stehen. „Jetzt bist du wieder ein freier Mann. Hast du Lust, mit mir zum Mittagessen zu gehen?“

„Abendessen wäre mir lieber. Ich muss zum Büro zurück und dort noch einiges erledigen.“

„Dann also heute Abend“, sagte Christine, obwohl sie eigentlich schon verabredet war. „Ich lade dich ins Le Poule au pot ein.“

Philippe Dumont, wollte sie dorthin ausführen. Sie würde ihn jedoch bitten, ihr die Reservierung zu überlassen. Heute konnte sie ihren Stiefvater nicht allein lassen.

„So, so, du gehst also in so ein exklusives Restaurant wie das Poule au pot zum Essen. Da musst du ja beachtliche Beziehungen haben, wenn du so kurzfristig einen Tisch bekommst“, neckte Arthur sie.

„Das liegt nur an meinem Charme“, schwindelte sie. „Also, bis acht.“

Schon von weitem sah Christine, dass ein Strafzettel, hinter dem Scheibenwischer ihres Autos steckte. Das war jetzt schon der vierte in dieser Woche, doch in ihrem Beruf war sie auf den Wagen angewiesen und meistens so in Eile, dass sie ihn oft an den unmöglichsten Stellen parkte. Zum Glück war ihr Arbeitgeber großzügig und erstattete in den meisten Fällen die Kosten.

Während sie zurück zum Büro fuhr, dachte sie daran, wie gut sie es schon mit der Stelle beim bekanntesten Architekten von Nizza, Laurent Lefebvre, angetroffen hatte. Nach Abschluss ihres Architekturstudiums vor vier Jahren, hatte sie verschiedene Angebote vorliegen, darunter auch eine sehr gut bezahlte Position bei einer Pariser Firma. Christine hatte sich dafür entschieden, an der Côte d‘Azur zu bleiben, um in der Nähe ihres Stiefvaters zu sein. Sie hatte ihren Entschluss bisher noch keinen Tag bereut. Ihre Arbeit war abwechslungsreich und anspruchsvoll, und innerhalb kurzer Zeit hatte sie sich in der Baubranche einen Namen gemacht. Erst vor kurzem hatte einer der Partner von Laurent Lefebvre angedeutet, dass man ihr noch vor Jahresende die Teilhaberschaft anbieten wolle.

Dies alles verdankte Christine Arthur de Tourcy. Ihr leiblicher Vater war tödlich verunglückt, als sie drei Jahre alt war, und hatte ihre Mutter mittellos zurückgelassen. Arthur de Tourcy, ein Witwer, mit heranwachsenden Söhnen, hatte sich in Monique Rousseau verliebt und bald darauf geheiratet. Es war eine glückliche Ehe geworden, doch sie dauerte nur fünf Jahre, weil Monique plötzlich starb.

Arthur de Tourcy liebte Christine als wäre sie sein eigenes Kind, und auch seine beiden Jungen behandelten sie wie ihre kleine Schwester. Es war nur bedauerlich, dass keiner von ihnen die Firma übernehmen wollte. Bernard arbeitete als Chemiker an einem Forschungsinstitut in Paris, und sein jüngerer Bruder Charles leitete eine gut gehende Bildergalerie in Marseille. Vielleicht hatte Arthur Evelyne geheiratet, weil auch gute Freunde eine Familie nicht ersetzen konnten, und er musste sich sehr einsam gefühlt haben, als Christine zur Universität ging.

Christine bog von der Straße ab und fuhr in die Tiefgarage des Lefebvre-Hauses. Ihr Büro lag im zehnten Stock. Ihre Sekretärin, sah neugierig auf, als Christine den Raum betrat. „Wie ist es denn ausgegangen?“

„Schlimmer hätte es gar nicht kommen können“, sagte Christine und berichtete ausführlich, was sich ereignet hatte. Morgen würden die Einzelheiten sowieso in der Zeitung stehen. „Hat jemand für mich angerufen?“

„Ja, ich habe eine Liste auf ihren Schreibtisch gelegt. Sie möchten möglichst bald zurückrufen.“

„Das mache ich gleich, aber zuerst verbinden Sie mich bitte mit Philippe Dumont.“

Glücklicherweise hatte Philippe Verständnis für ihre Absage. „Ich finde es richtig, Christine, wenn du heute Abend mit deinem Vater Essen gehst, und wir verschieben unsere Verabredung einfach auf morgen.“

Er war wirklich der netteste von ihren Freunden, trotzdem interessierte Christine keine engere Beziehung. Sie hatte gerade erst begonnen, Karriere zu machen, zu oft im Freundeskreis erlebt, dass die Hausarbeit auch bei berufstätigen Paaren meistens an den Frauen hängen blieb. Wenn Kinder kamen, würde sie keine Zeit mehr haben, ihre Pläne zu verwirklichen. Doch das lag alles noch in weiter Zukunft - sie hatte Philippe schließlich erst vor zwei Monaten kennen gelernt. Sie schob den Gedanken an ihn beiseite und vertiefte sich in die Arbeit.

Als sie schließlich die letzte Mappe mit Entwürfen schloss, bemerkte sie, dass es schon zu spät war, um nach Hause zu fahren und sich für das Abendessen mit Arthur umzuziehen. Zum Glück war das blaue Valentino-Kostüm auch für einen Abend im Poule au pot geeignet, und da sie öfter unerwartet zum Essen eingeladen wurde, hatte sie für solche Fälle goldene Ohrringe und einen eleganten Seidenschal in ihrem Schreibtisch aufbewahrt. Sie frischte schnell noch ihr Make-up auf und fuhr zum Restaurant.

Arthur erwartete Christine schon an ihrem reservierten Tisch, und als sie durch das Lokal ging, gab es keinen Mann, der sich nicht nach ihr umdrehte. Das überraschte nicht, denn selbst in einer Stadt wie Nizza, in der es viele schöne Frauen gab, war Christine etwas ganz Besonderes.

Sie war über einssiebzig groß und hatte aschblondes Haar mit hellen Sonnensträhnen. Da sie sich am liebsten im Freien aufhielt, war ihre Haut das ganze Jahr über leicht gebräunt. Ihre Züge waren sanft und gleichmäßig.

Obwohl sich Christine ihrer Ausstrahlung bewusst war, war sie keinesfalls arrogant. Sie hatte einen nicht ganz so großen Busen, eine äußerst schmale Taille, und lange schlanke Beine. Doch ihr war klar, dass der Wert eines Menschen nicht von Äußerlichkeiten abhing.

Arthur stand auf und küsste sie auf die Wange. „Es macht mir Spaß zuzusehen, wie die Männer dich ansehen. Vielleicht denken sie, du bist meine Freundin. Und das würde dem angeschlagenen Selbstwertgefühl eines alten Mannes wie mir nur gut tun.“

„Von wegen alt“, protestierte Christine, gleichwohl Arthur heute Abend wirklich wie ein Mann im Alter von sechsundsiebzig Jahren aussah. „Ich wäre froh, wenn meine Freunde so viel Energie aufbrächten wie du.“

Während des Essens erzählte sie hauptsächlich von ihrer Arbeit, und als sie gegen Mitternacht das Restaurant verließen, hatte keiner von beiden die Scheidung erwähnt.

„Wenn du am Sonntag noch nichts vorhast, könnten wir wieder einmal mit dem Boot hinausfahren“, schlug Arthur vor.

„Dazu hätte ich große Lust. Stört es dich, wenn ich einen Freund mitbringe?“

„Natürlich nicht. Ich rufe dich gegen Ende der Woche an.“

Die folgenden Tage vergingen wie im Flug, und als am Samstagmorgen das Wetter aufklärte, erinnerte sich Christine wieder an Arthurs Einladung zum Segeln. Im Laufe des Tages versuchte sie immer wieder, ihn anzurufen, bekam aber keine Verbindung. Wahrscheinlich war die Leitung gestört. Deshalb beschloss sie, schnell bei ihm vorbeizufahren.

Es herrschte wenig Verkehr und eine Dreiviertelstunde später hielt sie vor seinem Haus. Sein Bentley stand in der Einfahrt. Arthur war also zu Hause, und Christine war froh, die Fahrt nicht umsonst gemacht zu haben. Sie klingelte, doch niemand öffnete. Durch die große Fensterscheibe im Wohnzimmer konnte sie bis in den Garten sehen, aber auch dort hielt sich Arthur offenbar nicht auf. Beunruhigt ging sie ums Haus herum.

Manchmal vergaß er die Terrassentür abzuschließen. So war es auch heute. Sie betrat das Wohnzimmer. Alles war still.

„Arthur!“ rief sie. „Ich bin es, Christine. Wo steckst du denn! Es wird Zeit, dass wir losfahren!“

Sie öffnete die Tür zur Küche. Claude, der ihrem Stiefvater das Haus führte, schien zum Einkaufen gefahren zu sein. Vielleicht war Arthur beim Fernsehen eingeschlafen. Als Christine auf sein Schlafzimmer zuging, konnte sie schon von weitem den Ton des Fernsehgerätes hören.

Sie lächelte. Seit sie sich erinnern konnte, hatte Arthur das Ende jeder Sendung verschlafen. Sie klopfte und drückte die Klinke herunter. Ein Blick auf die verkrampfte Gestalt auf dem Bett genügte ihr, um zu wissen, dass Arthur nicht schlief. Erschrocken stand sie einen Augenblick wie gelähmt da, dann rannte sie zum Telefon um seinen Hausarzt anzurufen. Hoffentlich war er zu Hause!

Erst als sie fieberhaft im Adressbuch nach seiner Nummer suchte, fiel ihr Blick auf das volle Tablettenfläschchen auf dem Teppich vor dem Bett und dem Brief mit ihrem Namen in seiner Hand. Mit zitternder Hand griff sie danach. Offenbar hatte Arthur vorgehabt, sich das Leben zu nehmen, doch der Schlaganfall hatte ihn getroffen, ehe er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Sie begann zu lesen, was er geschrieben hatte:

Meine geliebte Christine, ich richte diesen Brief an dich, und nicht an die Jungen, nicht weil ich sie weniger lieben würde, sondern weil Du mich besser verstehen wirst. Ich habe die Firma verloren. Evelyne hat heute Morgen ihre Anteile an Amco verkauft, ohne mir auch nur eine Chance zu geben. Ich mache niemanden einen Vorwurf, und Du darfst es auch nicht tun. Alle haben versucht, mich vor Evelyne zu warnen, aber ich habe nicht darauf gehört und deswegen den Preis bezahlt. Leb wohl, mein liebes Kind. Versprich mir, dass Du auf meiner Beerdigung nicht weinen wirst. Ich habe ein schönes Leben gehabt und bis auf die letzten vier Jahre bereue ich nichts.

Es gab zum Glück keine Beerdigung, denn Arthur überlebte den Schlaganfall. Allerdings hatte die bewegungslose Gestalt, in dem mit Blumen gefüllten Zimmer des privaten Pflegeheims, nicht mehr viel mit dem einstigen Arthur de Tourcy gemeinsam. Auch wenn Christine sich noch so oft sagte, dass Arthur zu seinem eigenen Unglück beigetragen hatte, gab sie Alexandre de Rochefort die Schuld an seinem Zustand. Vor Gericht hatte ihn der Anwalt als lüsternen alten Mann hingestellt, der ein unschuldiges junges Mädchen mit seinem Geld in die Ehe gelockt hatte und dann so eifersüchtig und geizig gewesen war, dass er sie beinahe wie eine Gefangene hielt.

Die Wahrheit sah anders aus. Arthurs so genannter Geiz bestand darin, dass er Evelynes Kreditkarten kündigte, als die monatlichen Abrechnungen horrende Ausmaße erreichten. Es war auch keineswegs Eifersucht gewesen, als er sie in ihr Zimmer einschloss, sondern sie hatte sich so betrunken und unter Drogen gesetzt, dass sie am Steuer ihres Wagens eine Gefahr für sich und andere gewesen wäre.

Trotzdem hatte der Anwalt Arthur als Ungeheuer hingestellt. Das würde Christine ihm nie verzeihen.

Christine saß am Schreibtisch und blätterte in ihrem Terminkalender. Für vier Uhr war ein Monsieur Rochefort eingetragen. Auch jetzt noch, ein halbes Jahr nach dem Zusammenbruch ihres Stiefvaters, verursachte der Name in ihr Unbehagen, obwohl es an der Côte d’Azur wahrscheinlich Hunderte von Rocheforts gab.

Sie legte das Buch beiseite und ließ die letzten Monate noch einmal an sich vorüberziehen. Abgesehen, von der ewigen Sorge um Arthur war es ihr wahrlich nicht schlecht ergangen. Für einen ihrer Entwürfe, ein Haus im Luberon, hatte sie einen Preis gewonnen, und ein anderes war in einer überregionalen Architekturzeitschrift ausführlich beschrieben worden. Ihre Vorgesetzten waren so beeindruckt gewesen, dass sie ihr eine beachtliche Gehaltserhöhung gaben.

Trotzdem war Christine keineswegs glücklich. Obwohl sie viele Freunde hatte und oft ausging, war sie verbittert und voller Schmerz. Immer wenn sie an Arthur dachte, der in einer eigenen Welt vor sich hindämmerte und sie manchmal nicht einmal mehr erkannte, erinnerte sie sich wieder an die Ereignisse, die seinen schrecklichen Zustand verursacht hatten. Christine sah auf ihre Uhr. Vielleicht blieb ihr vor der Besprechung mit Monsieur Rochefort noch Zeit, die Unterlagen für einen späteren Besucher durchzuarbeiten. Üblicherweise legte ihr Claire, die notwendigen Papiere rechtzeitig auf den Schreibtisch, aber sie hatte sich heute krank gemeldet. Christine schloss den Aktenschrank im Vorzimmer auf und blätterte den Index durch.

„Ist denn hier niemand?“ fragte plötzlich ein Mann hinter ihr. Seinen gereizten Ton nach zu schließen, hatte er schon eine Weile gewartet. Christine fuhr herum. Diese Stimme hätte sie überall wieder erkannt. Alexandre de Rochefort! Sie hatte sich oft gefragt, ob sie ihm noch einmal begegnen würde. Doch jetzt, wo es soweit war, brachte sie zu ihrem Entsetzen kein Wort heraus.

„Stehen Sie doch nicht so tatenlos herum“, sagte er ungeduldig. „Bringen Sie mich lieber zu Monsieur Rousseau.“

Monsieur Rousseau! Christine hätte beinahe laut herausgelacht. Sie freute sich schon jetzt auf sein Gesicht, wenn er erfuhr, dass sein Geschäftspartner eine Frau war.

„Wenn Sie Monsieur Rochefort sind“, erwiderte sie, „dann haben sie sich um eine halbe Stunde verfrüht. Ihr Termin ist erst um vierzehn Uhr dreißig.“

„Ich bin Punkt zwei mit Monsieur Rousseau verabredet“, korrigierte er Christine. „Und versuchen Sie nicht, mir einzureden, ich hätte mich geirrt. Sie sind zwar äußerst hübsch, aber ich bevorzuge tüchtige Sekretärinnen.“

„Tatsächlich?“ Christine schenkte ihm ein provozierendes Lächeln.

„Und was halten sie von hübschen Architektinnen, Monsieur Rochefort?“

Er sah sie verblüfft an. „Sie sind der Rousseau mit dem ich verabredet bin?“

„Allerdings!“

„Ich bin ganz automatisch davon ausgegangen, dass sich hinter dem Namen Rousseau ein Mann verbirgt. Entschuldigen sie bitte vielmals.“

Dir werden noch ganz andere Dinge Leid tun, dachte Christine. Jetzt, wo ich dich so aus heiterem Himmel wieder getroffen habe, werde ich dafür sorgen, dass du einmal einen Löffel deiner eigenen Medizin zu schmecken bekommst.

„Ich habe ein Haus von Ihnen im Architekturmagazin „Propriétaires de Prestige“ gesehen. Die Raumaufteilung fand ich ungewöhnlich. Deshalb möchte ich, dass Sie ein Haus für mich entwerfen.“

Ohne ihre Aufforderung abzuwarten, setzte er sich in einen dunklen Ledersessel vor ihren Schreibtisch. Christine entging nicht, dass er sie unauffällig beobachtete. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass sie ihm gefiel.

Trotz ihrer Abneigung gegen Alexandre de Rochefort musste sie zu geben, dass auch sie von seiner Erscheinung beeindruckt war. Er war mindestens einsachtzig groß und hatte die athletische Figur einer griechischen Götterstatue. Das dichte, schwarze Haar trug er modisch kurz und wurde an den Schläfen schon grau. Der Blick seiner dunkelbraunen Augen, unter den geschwungenen Brauen war durchdringend. Er hatte eine kräftige Nase, die ein wenig schief war. Seltsamerweise

Christine war froh, dass zumindest der massive, hölzerne Schreibtisch zwischen ihnen stand. Der räumliche Abstand machte es ihr leichter, Distanz zu ihm zu wahren.

„Haben sie schon ein Grundstück?“ fragte sie kurz.

„Ja, in Saint Paul de Vence. Es umfasst etwa achttausend Quadratmeter. Das Haus, das jetzt darauf steht, will ich abreißen lassen.“

Christine verbarg ihre Überraschung nicht. „Kann man es denn nicht umbauen?“

Er schüttelte missmutig den Kopf. „Wenn wir von Anfang an Kompromisse machen müssen, wird einer von uns am Schluss unzufrieden sein.“

„Sie kommen mir sowieso nicht wie ein Mensch vor, der gerne Kompromisse eingeht, Monsieur de Rochefort. Es scheint mir nur als Verschwendung, ein Haus abzureißen, wenn es nicht allzu stark baufällig ist.“

„Ich habe das Grundstück gekauft. Das Haus darauf ist unwichtig.“

Ebenso wie die Menschen, mit denen du umgehst, sinnierte Christine bitter. Laut aber sagte sie: „Es ist Ihr Geld, Monsieur de Rochefort, aber ich möchte es ungern verschwenden. Ein Umbau ist zwar kostspielig, aber nicht so teuer wie ein neues Haus.“

„Sie geben nicht so leicht auf, wie?“ meinte er lächelnd. „Am besten sehen Sie sich das Ganze einmal an. Passt es Ihnen morgen?“

„Ich bin bis weit in die nächste Woche hinein ausgebucht“, log sie. Sollte er doch warten.

Scheinbar war Alexandre de Rochefort nicht daran gewöhnt, vertröstet zu werden. „Und wie wäre es mit abends oder am Wochenende?“

„Ich halte mich an die Bürozeiten, Monsieur de Rochefort.“

Auch das stimmte nicht, aber Christine hatte nicht die Absicht, ihm in irgendeiner Weise entgegenzukommen. Außerdem sagte ihr der Instinkt, dass ihr offensichtlicher Mangel an Begeisterung, sein Interesse an ihrer Mitarbeit nur noch mehr steigern würde. Sie hatte sich nicht in ihm getäuscht.

„Ich wäre Ihnen zutiefst dankbar, wenn sie mir ausnahmsweise doch einen Abend widmen würden“, beharrte er. „Dann können wir anschließend zusammen essen und über meine Vorstellungen sprechen.“

„Bezüglich der Tapeten und Vorhänge?“ erkundigte sie sich eisig.

Er schmunzelte. „Vor allem bezüglich des Essens. Wenn Sie mir eine Küche entwerfen sollen, müssen Sie doch wissen, ob ich Vegetarier, Rohkostfanatiker oder ein konventioneller Esser bin.“

„Ich würde darauf tippen, dass sie Salat und rotes Fleisch bevorzugen. Letzteres je blutiger desto besser.“

Einen Augenblick schwieg er, dann lachte er herzhaft. „War das Zufall, oder haben Sie Erkundigungen über mich eingezogen?“ „Weder noch. Ich kenne sie nur aus Gerichtsverhandlungen, und da sie dort immer mit Vorliebe auf die Halsschlagader ihrer Kontrahenten zielen, nehme ich an, dass sie vor Blut auch sonst nicht zurückschrecken.“

Er war ernst geworden. „Ich mache nur meine Arbeit, Mademoiselle Rousseau, ebenso wie sie.“

Christine blätterte in ihrem Terminkalender. „Sagen wir halb acht am Freitag, den 25.“

„Morgens oder abends?“

„Morgens.“

Er starrte sie an, und Christine merkte, dass seine Augen gar nicht so dunkel waren, wie sie immer geglaubt hatte. Oder erschienen die hellen Pünktchen nur, wenn er verärgert war? Sie würde für viele Gelegenheiten sorgen, das herauszufinden. Seiner Stimme aber war nichts anzumerken.

„Das Passt mir gut.“ Er zog eine Karte aus der Brusttasche seines maßgeschneiderten Jacketts, schrieb die Adresse darauf und reichte Christine das Papier.

Christine nahm sie, ohne einen Blick darauf zu werfen. Sollte er doch denken, dass sie kein Interesse daran hatte. Sie stand auf und streckte die Hand aus. „Auf Wiedersehen, Monsieur de Rochefort.“

Sein Händedruck war kurz und fest. Dann ging er mit langen Schritten hinaus und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.