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Matthieu Ricard

Weisheit

Die schönsten Texte
tibetischer Meister

Aus dem Französischen
von Claudia Seele-Nymia

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Für Taklung Tsetrul Pema Wangyal Rinpoche
mit im mensem Respekt und tiefer Dankbarkeit

Am Ende des Buches finden Sie ein Glossar mit
Definitionen der wichtigstens buddhistischen Begriffe,
die in den Texten dieser Sammlung vorkommen.

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.nymphenburger-verlag.de

© 2010 NiL editions, Paris
© für die Originalausgabe: 2011 nymphenburger in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das eBook: 2012 nymphenburger in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten.
Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Motiv: Jean-Christian Bourcart/rapho/laif, Köln
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-485-06002-8

Inhalt

Vorwort

Die folgenden wenigen Tropfen aus dem weiten Ozean der Literatur des tibetischen Buddhismus erheben nicht den Anspruch, ein Nachschlagewerk zu sein; vielmehr sind sie als eine einfache Zusammenstellung der inspirierendsten Texte gedacht, die ich im Lauf der Jahre lesen durfte und die ich nach ihrer Klarheit und der Authentizität ihrer Autoren ausgewählt habe.

Entsprechend meiner ursprünglichen Absicht sollen die in diesem Buch zitierten Passagen eine möglichst große Bandbreite der verschiedenen spirituellen Traditionen Tibets widerspiegeln. Mehrfach habe ich aus Quellen geschöpft, die meines Erachtens besonders klar und durststillend sind. Dazu gehören insbesondere Lehren jener Meister, denen zu begegnen ich das Glück hatte – sie repräsentieren beispielhaft Traditionen, die bis heute unversehrt bewahrt werden konnten. Meine Wahl fiel außerdem auf die Worte des Buddha und auf bestimmte Lehren großer buddhistischer Meister aus Indien, die häufig in tibetischen Werken zitiert werden.

Diese Anthologie ist insofern »klein«, als sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, und sei es nur deswegen, weil meine Kenntnisse begrenzt sind. Doch wie ein Honigtropfen, der trotz seiner geringen Größe vollständig den Geschmack des Krugs enthält, dem er entnommen wurde, so enthält auch diese Sammlung – das hoffe ich zumindest – die Essenz des buddhistischen Weges. Ganz besonders gilt das für seinen ganz praktischen Aspekt: wie wir jeden Augenblick des Daseins nutzen können, um auf dem Weg zum Erwachen fortzuschreiten.

1981 übertrug der große tibetische spirituelle Meister Dilgo Khyentse Rinpoche (1919–1991) zwei Monate lang die Lehren des Damngag Dzö – »Schatzsammlung der (spirituellen) Unterweisungen«. In diesem dreizehnbändigen Werk hatte Jamgön Kongtrul, einer der größten Meister des 19. Jahrhunderts, die maßgeblichen Lehren der sogenannten acht großen Praxislinien der Verwirklichung zusammengestellt, anders ausgedrückt, die Hauptübertragungslinien der buddhistischen Lehren, die sich in Tibet entwickelten: Nyingma, Kadam-Gelug, Sakya, Kagyü, Shangpa-Kagyü, Kalachakra, Orgyen Nyendrub und Cö-Shije (siehe Anhang, S. 352).

Khyentse Rinpoche sagte einmal zu mir: »Wenn einem erst einmal bewusst geworden ist, wie tiefgründig die Sicht dieser acht großen Traditionen ist, und man erkannt hat, dass sie alle zum selben Ziel führen und sich nicht gegenseitig widersprechen, dann sagt man sich, dass nur Unkenntnis uns zu einer sektiererischen Haltung verleiten kann.«

Das war der Moment, in dem in mir der Wunsch aufkam, einige Texte dieser großen Schulen zu übersetzen, um die Äußerung von Khyentse Rinpoche zu veranschaulichen. Die vorliegende kleine Anthologie ist der bescheidene Versuch, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen.

Die meisten Texte dieser Sammlung habe ich im Lauf der fünfunddreißig Jahre, die ich nun schon in Asien lebe, selbst aus dem Tibetischen übersetzt. Wenn Texte anderen Quellen entstammen, wird in den Anmerkungen darauf hingewiesen. In manchen Fällen habe ich mir auch den tibetischen Text einer solchen Quelle erneut hergenommen und die erste Übersetzung abgeändert.

Gemäß den Gepflogenheiten des Übersetzungskomitees Padmakara, dem ich angehöre, wurden die Übersetzungen von einem anderen Übersetzer anhand des tibetischen Originals geprüft, in diesem Fall von meinem Freund Christian Bruyat, der ebenfalls die Übersetzung etlicher Texte umformuliert hat.

Frühere Fassungen dieser Textsammlung wurden von Carisse Busquet und Madeleine Tréhin aufs Genaueste gelesen, und auch die Anregungen von Jean-François Lambert, Yahne Le Toumelin und weiterer Mitglieder des Übersetzungskomitees Padmakara1› Hinweis kamen ihr zugute.

Das, was wir »Geist« nennen, ist ein sehr merkwürdiges Phänomen. Bisweilen starr und hartnäckig jeglicher Veränderung trotzend, kann er auch sehr nachgiebig sein, sofern man sich kontinuierlich bemüht, ihn zu transformieren, und durch Nachdenken zu der Überzeugung gelangt, dass diese Veränderung nicht nur möglich, sondern unabdingbar ist. Dafür genügt es allerdings nicht, Gelübde abzulegen oder Gebete zu sprechen: Vernunft, die sich auf Erfahrung stützt, muss hinzukommen. Ebenso wenig sollten wir erwarten, dass diese Wandlung sich von einem Tag auf den anderen vollzieht, denn unsere alten Gewohnheiten behaupten sich gegenüber jeglicher schnellen Lösung.

Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama

Einleitung

Der Buddhismus ist im Wesentlichen ein Erkenntnisweg, der zur Befreiung vom Leiden führt. Das Erwachen, in dem er gipfelt, ist zum einen die Weisheit, die auf dem richtigen Verständnis der Wirklichkeit beruht, zum anderen ein Freiwerden von störenden Emotionen und von den Schleiern der Unwissenheit. Den Buddhismus praktizieren heißt nicht, dass wir auf alles verzichten müssen, was das Leben an guten Dingen zu bieten hat. Es geht vielmehr darum, die Ursachen des Leidens aufzugeben, an die wir uns häufig wie an eine Droge klammern. Das Studium der buddhistischen Lehren besteht also nicht darin, den Geist mit einer Unzahl an Informationen zu überhäufen, sondern es genügt, die Kenntnisse zu beherrschen, die erforderlich sind, um sich aus dem samsara, dem durch Unwissenheit und Leid bedingten Daseinskreislauf, zu befreien.

Der buddhistische Weg trägt in seinem Aufbau der Tatsache Rechnung, dass innere Wandlung sich schrittweise vollzieht: Jede Etappe führt ganz natürlich zur nächsten, wie beim Hausbau, bei dem man das Dach erst dann aufsetzen kann, wenn man vorher das Fundament gelegt, die Wände errichtet und den Dachstuhl fertiggestellt hat.

Bestimmte Faktoren begünstigen diese Wandlung. Der wichtigste ist: Wir müssen uns dessen bewusst werden, dass uns das Potenzial zu dieser Transformation – im Buddhismus als Buddha-Natur bezeichnet – bereits innewohnt. Anschließend folgt das Interesse, das durch die Begegnung mit einem authentischen spirituellen Meister geweckt wird; dann die enthusiastische Entschlossenheit, dass wir Uneigennützigkeit, Mitgefühl und andere wesentliche Eigenschaften entwickeln wollen, die dieser Meister verkörpert; und schließlich kommt noch die Ausdauer hinzu, die für jede echte Transformation unerlässlich ist.

Die Reflexionen, Meditationen und geistigen Übungen, die den Weg markieren, beziehen zwar Körper, Rede und Geist mit ein, aber natürlich ist es letztendlich der Geist, den wir umwandeln müssen, wenn wir unserem eigenen Leid und dem aller Lebewesen entgegenwirken wollen. Darum hat der Buddha verkündet:

Meide jegliche schädliche Tat,

Widme dich ganz und gar dem Guten

Und bring deinen Geist vollständig unter Kontrolle:

Das ist die Lehre des Buddha.

Und wie fängt man das an? Um wirklich effektiv den Weg der Wandlung einzuschlagen, müssen wir uns aufrichtig Gedanken über unsere Situation machen. An welchem Punkt meines Lebens stehe ich? Welche Prioritäten habe ich bisher gesetzt? Was kann ich für die Lebenszeit, die mir noch bleibt, ins Auge fassen? Diese Überlegungen sind, das versteht sich von selbst, nur dann sinnvoll, wenn man das Gefühl hat, eine Veränderung sei sowohl wünschenswert als auch möglich. Wünschenswert: Kann ich bejahen, dass es in meinem Leben und in der Welt, die mich umgibt, nichts zu verbessern gibt? Möglich: Die Entscheidung darüber hängt im Grunde nur von mir ab.

Bleibt noch die Frage, in welche Richtung wir uns verändern wollen. Wenn ich danach strebe, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen, reicher zu werden oder mich zu amüsieren – bin ich wirklich fest davon überzeugt, dass diese Dinge, falls ich sie erlange, mich wunschlos glücklich machen? An diesem Scheideweg, an dem ich mich nach meinen Zielen frage, muss ich mir selbst gegenüber ehrlich sein und darf mich nicht mit oberflächlichen Antworten zufriedengeben.

Der Buddhismus antwortet: Das menschliche Leben ist äußerst kostbar, und die Desillusionierung, die uns mitunter erfasst, bedeutet nicht, dass das Leben nicht lebenswert ist. Sie bedeutet vielmehr, dass wir noch nicht klar herausgefunden haben, was ihm einen Sinn verleihen könnte. »Es geht nicht darum zu wissen, ob das Leben einen Sinn hat, sondern wie jeder von uns ihm einen Sinn verleihen kann«, sagt der Dalai Lama. Äußerst kostbar – das ist unser Dasein umso mehr dann, wenn wir über alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten verfügen, wenn wir in unserem Handeln frei sind und wenn wir uns diese günstigen Voraussetzungen zunutze machen, um das uns innewohnende Potenzial zur Transformation zu verwirklichen. Unsere Tage sind trotz allem gezählt: Unfälle, Krankheiten und der unvermeidliche Tod stellen sich ohne Vorwarnung ein. Deswegen wird auch das prompte Bemühen so sehr hervorgehoben.

Diese Anthologie spiegelt die verschiedenen Etappen des spirituellen Weges gemäß der Tradition des tibetischen Buddhismus wider. Dieser ist wiederum im Buddhismus, wie er in Indien das Licht der Welt erblickte, begründet. Es folgen zunächst vier Themen der Reflexion, die unsere Wahrnehmung der Welt verändern und unseren Geist auf die spirituelle Praxis ausrichten sollen. Die erste dieser Reflexionen handelt von den außergewöhnlichen Möglichkeiten, die das Dasein als Mensch bietet. Die zweite lädt uns ein, die vergängliche Natur aller Dinge im Allgemeinen und des menschlichen Lebens im Besonderen zu betrachten, und soll dazu anregen, dass wir die uns zur Verfügung stehende Zeit bestmöglich nutzen. Bei der dritten Betrachtung geht es um das Gesetz von Ursache und Wirkung der Taten. Um dem Leiden ein Ende zu setzen und Erwachen zu erlangen, können wir nicht einfach beliebig vorgehen – ebenso wenig wie bei jedem anderen Ziel, das wir erreichen wollen. Es gibt Dinge, die wir tun, und andere, die wir meiden sollen, denn all unsere Handlungen haben unweigerlich Rückwirkungen auf uns und die Außenwelt. Dies zu betrachten hilft uns, die Konsequenzen unseres Verhaltens zu verstehen und entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen. Die vierte Betrachtung behandelt die Unzulänglichkeiten des Samsara, sprich: der Existenz, die durch Unwissenheit bedingt und durch Leiden gekennzeichnet ist. Diese vier Themen tragen dazu bei, dass wir uns jene Handlungen, Worte und Gedanken bewusst machen, die es wert sind, dass wir sie fördern und entwickeln, ebenso wie jene Handlungen, die uns unglücklich machen oder einfach nur bewirken, dass wir unsere Zeit verschwenden.

Die Lehren der großen buddhistischen Meister sind keine Zufallsprodukte, im Gegenteil: Sie sind echte praktische Anleitungen und beruhen auf der gelebten Erfahrung von Persönlichkeiten, die sich auf dem spirituellen Weg auskennen, außergewöhnliche Weisheit erlangt haben und die Mechanismen von Glück und Leid klar erfassen.

Nachdem wir diese vier Themen erkundet haben, wenden wir uns der Vorstellung der Zufluchtnahme zu. Dieser Begriff besagt nicht, dass man den Schutz okkulter und mysteriöser Mächte erbittet. Man überantwortet sich vielmehr den Lehren, die zum Erwachen, also zur echten Erkenntnis des Geistes und der Natur der Wirklichkeit führen, denn ebendiese Erkenntnis befreit vom Leiden. Anfangs ist es unumgänglich, sich auf diejenigen zu stützen, die diese Weisheit bereits erlangt haben und sie durch ihre Taten veranschaulichen. Ihr vollkommener Vertreter ist der Buddha selbst.

Im Anschluss daran folgen die Lehren über uneigennützige Liebe und Mitgefühl. Sie bilden das Herz des Weges. Denn wozu sich selbst vom Leiden befreien, wenn alle Wesen um einen herum weiterhin leiden? Ein solch begrenztes Vorgehen wäre zum Scheitern verurteilt, denn unsere Freuden und Leiden sind zwangsläufig mit denen der anderen verknüpft. Anders ausgedrückt: Gemeinsam müssen wir den »Ozean des Leidens« überqueren.

Bevor wir eine Reise antreten, müssen wir einiges erledigen und zusammenstellen, um unser Ziel zu erreichen und mit etwaigen Hindernissen fertig zu werden, die sich auf der Reise unweigerlich ergeben. Dasselbe gilt auch für das spirituelle Abenteuer: Zum einen sollen wir uns der Geistesgifte entledigen, die unseren Geist daran hindern, sich weiterzuentwickeln, zum anderen »Verdienste« bzw. positive Energien ansammeln, die uns die für den inneren Reifungsprozess notwendige Triebkraft verleihen.

Wir brauchen zudem die wertvolle Unterstützung »heilsamer« Freunde und besonders die eines kompetenten spirituellen Ratgebers, der kraft seiner Erfahrung und wegen seines großen Wohlwollens imstande ist, unseren Weg unermüdlich zu erhellen.

Das beste Geschenk überhaupt, das uns ein spiritueller Meister machen kann, ist, uns die Natur unseres Geistes zu zeigen und darauf hinzuwirken, dass wir sie erkennen können. Im Allgemeinen erscheint uns das, was man »Geist« oder »Bewusstsein« nennt, als eine Fülle von Gedanken, die mit unseren Wahrnehmungen, Gefühlen, Erinnerungen und unserer Vorstellungswelt verknüpft sind. Doch sind wir in der Lage, hinter diesem Vorhang aus Gedanken die grundlegende Komponente des Geistes zu erkennen? Können wir das reine Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks ausmachen, das jeder geistigen Aktivität unterschwellig zugrunde liegt? Die Aussagen der großen Meditierenden, die wir in dieser Textsammlung zitieren, werden uns dabei unterstützen, die essenzielle Natur des Geistes zu erkennen und den Ablauf unserer Gedanken und Emotionen in den Griff zu bekommen, die sich bislang in einer endlosen Folge aneinandergereiht und uns in einem Zustand der Verwirrung gehalten haben.

Anschließend werden wir sehen – wobei wir uns immer noch auf die Lehren der Weisen der Vergangenheit stützen –, dass es unerlässlich ist, sich Zeiträume frei zu halten, in denen wir uns voll und ganz auf den Prozess der inneren Transformation konzentrieren.

Zum einen werden wir die Übungspraktiken eines Einsiedlers betrachten, der sich vorübergehend von der Welt zurückzieht, und zum anderen die von Praktizierenden, die ihren spirituellen Weg im täglichen Leben gehen: Wir werden sehen, wie beide jeweils üben, die Welt klarer wahrzunehmen und mehr Liebe und Mitgefühl für alle Lebewesen zu empfinden; welche Sicht sie entwickeln, welche Meditation und welches Verhalten sie praktizieren, um für ihr eigenes Wohl und das der anderen zu wirken.

Schließlich werden wir einige Ratschläge zitieren, durch die vermieden werden kann, in eine Falle wie die der Faulheit, der Eitelkeit und unkontrollierter Leidenschaften zu geraten, die uns der Dämon des Ego auf unserem Weg mit Sicherheit stellt. Diese Ratschläge, die häufig aus Bescheidenheit eine Form des Sich-selbst-Rügens annehmen, sind wertvolle Hilfsmittel, um ohne Hindernisse fortschreiten zu können.

Den verschiedenen Kapiteln dieser Sammlung wurden einige einleitende Bemerkungen vorangestellt, einfache Verbindungsbrücken zwischen dem Leser und den jeweiligen Texten, deren Vokabular und Stil nicht unbedingt jedem vertraut sind.

Mögen diese wenigen Schätze, die uns die tibetischen buddhistischen Weisen der Vergangenheit hinterlassen haben, es uns ermöglichen, unseren Reichtum – das außergewöhnliche Potenzial, das uns mit unserem Dasein als Mensch gegeben wurde – bestmöglich zu nutzen!

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Den Geist dem spirituellen
Weg zuwenden

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Die Kostbarkeit des
menschlichen Lebens

Wer sich auf den spirituellen Weg begeben möchte, sollte in einem ersten Schritt verstehen, wie kostbar das menschliche Leben ist. Ganz bewusst genutzt, bietet es uns die einmalige Gelegenheit, das Potenzial des Erwachens zu verwirklichen, das uns allen zwar innewohnt, von uns jedoch schnell vernachlässigt oder vergeudet wird. Der Buddhismus besagt, dass von allen Lebensformen, die man im Daseinskreislauf annehmen kann, eine Geburt als Mensch äußerst selten vorkommt. Sie ist vergleichbar mit einem Festmahl, das man nach Jahrhunderten der Hungersnot genießt.

Dieses Leben ist unter anderem deswegen so kostbar, weil es uns die Möglichkeit bietet, die Essenz oder das Potenzial der Buddhaschaft – die grundlegende Natur jedes bewusstseinsbegabten Wesens – zu erkennen und zu entwickeln. Diese Natur, die vorübergehend von geistiger Verwirrung und störenden Emotionen verschleiert ist, ist wie ein Schatz in unserem Inneren vergraben. Die Praxis des buddhistischen Weges oder des dharma besteht darin, die Schleier zu beseitigen. Sie dient nicht dazu, den Buddha-Zustand »aufzubauen«, sondern fördert ihn einfach zutage. Denn man kann dieser Natur, die nichts anderes ist als die eigentliche Grundlage unseres Geistes, weder etwas hinzufügen noch ihr etwas wegnehmen. Die Eigenschaften, die wir uns auf dem Weg zum Erwachen aneignen, sind nicht etwas von Grund auf neu Geschaffenes, sondern sie spiegeln das graduelle Zum-Vorschein-Kommen unserer Natur wider, so wie ein Juwel, das sich nach und nach zeigt, wenn es vom Schmutz, der es umgibt, befreit wird.2› Hinweis

Shabkar (1781–1851)1› Hinweis 3› Hinweis

Ein Seefahrer sollte den Ozean überqueren, wenn er im Besitz eines Schiffs ist; ein General den Feind dann besiegen, wenn ihm eine Armee zur Verfügung steht; ein Armer sollte die Kuh mit dem nie versiegenden Milchstrom4› Hinweis melken, wenn er sie hat; ein Reisender, der in die Ferne reisen will, sollte sich dann aufmachen, wenn er über ein ausgezeichnetes Pferd verfügt. Was euch anbelangt, die ihr vorübergehend eine kostbare Existenz als Mensch innehabt und die Anweisungen eines spirituellen Meisters, einer Inkarnation aller Buddhas der drei Zeiten5› Hinweis, empfangt: Denkt mit Freude und Begeisterung daran, den großen Weg des höchsten Dharma zu gehen und euch immer mehr dem letztendlichen Ziel anzunähern: dem Erwachen und der Befreiung.

Shechen Gyaltsap (1871–1926)2› Hinweis

Gegenwärtig haben wir die kostbare menschliche Existenz inne, der wir es verdanken, dass wir einem authentischen spirituellen Meister begegnet sind, tiefgründige Unterweisungen erhalten und den Weg der Befreiung eingeschlagen haben. Geben wir uns allerdings – wie ein Forscher, der mit leeren Händen von einer Insel voller Schätze zurückkehrt – damit zufrieden, eine gewisse Zeit im Besitz dieses unschätzbar wertvollen Lebens zu sein, ohne den Edelstein des allerhöchsten Dharma daraus mitzunehmen, dann wird unsere Reise am Ende sinnlos gewesen sein. Und wenn wir, von den Aktivitäten des täglichen Lebens völlig vereinnahmt, die befreienden Unterweisungen außer Acht lassen, dann verfügen wir zwar über diese unschätzbar wertvolle menschliche Existenz, ziehen jedoch nicht den geringsten Nutzen daraus.

Für die praktische Umsetzung der Lehre des Buddha, des Dharma, ist hauptsächlich der Geist zuständig. Nun stützt sich der Geist aber auf den Körper, und die Beziehung zwischen beiden ist selten vollkommen. Wenn wir das Glück haben, weder geistig noch körperlich von Krankheiten beeinträchtigt und niemandem unterworfen zu sein, dann genießen wir voll und ganz die Freiheit, die für die spirituelle Praxis notwendig ist. Ergreifen wir also umgehend diese Gelegenheit und setzen wir alles daran, uns mit Hingabe um den höchsten Weg zu bemühen.

Dilgo Khyentse Rinpoche (1910–1991)3› Hinweis

Die Zahl der Bewohner dieses Planeten geht zwar in die Milliarden, doch wie vielen von ihnen ist überhaupt klar, dass es nur äußerst selten vorkommt, in den Genuss der menschlichen Existenz zu gelangen?6› Hinweis Wie viele von ihnen nehmen diese Gelegenheit wahr, um die Lehren zu praktizieren? Und wie viele derjenigen, die den Weg eingeschlagen haben, halten durch und gelangen bis zur höchsten Verwirklichung? In Wirklichkeit sind sie so selten wie Sterne in der Morgendämmerung im Vergleich zur Anzahl der Sterne, die in einer klaren Nacht leuchten.

Die menschliche Existenz ist die einzige, in der wir genug leiden, um uns zwingend zu wünschen, dem Kreislauf der Wiedergeburt zu entrinnen, ohne dass es uns dabei an den notwendigen Voraussetzungen mangelt, um unseren Geist schulen und das Erwachen erlangen zu können. Wenn wir diese unschätzbar wertvolle Gelegenheit nicht wahrnehmen, bleibt uns keine andere Wahl, als wie ein Stein den Abhang hinabzurollen, der zu den niederen Daseinsbereichen des Samsara führt.

Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye (1813–1899)4› Hinweis

Aus Milch Butter zu gewinnen ist nur deswegen möglich, weil die Milch den Rahm schon enthält; dagegen hat niemand jemals Butter durch das Buttern von Wasser gewonnen. Ein Goldwäscher sucht dort nach Gold, wo Mineralien sind, und nicht zwischen Holzspänen. Dementsprechend ist das Bemühen, reines, vollkommenes Erwachen zu erlangen, nur deswegen sinnvoll, weil jedem Wesen die Natur des Erwachens bereits innewohnt. Ohne diese Natur wäre jegliches Bemühen unnütz.

Shechen Gyaltsap (1871–1926)5› Hinweis

Man könnte sich fragen: »Wenn mir die Buddha-Natur innewohnt, warum nehme ich sie dann nicht direkt wahr?« Weil sie, ebenso wie Gold, das im Gestein verborgen ist, von den gewohnheitsbedingten Tendenzen verdeckt wird, die wir seit urdenklichen Zeiten angesammelt haben. Diese Tendenzen wurden wiederum von den Geistesgiften herbeigeführt und anschließend durch Handlungen verstärkt, die von diesen Verwirrungen verursacht wurden. Im Text Lobpreis der letztendlichen Dimension (Dharmadhatu)6› Hinweis heißt es: »Der Glanz des Saphirs ist stets vorhanden, bereit, sich zu manifestieren, doch ist sein Strahlen nicht zu sehen, solange der Saphir von Gestein umgeben ist. Makellos rein, bleibt die letztendliche Dimension unter dem dichten Schleier der geistigen Verwirrung verborgen. Ihr Glanz ist im Samsara, der Welt des Leidens, nicht sichtbar, sondern offenbart sich im Nirvana, jenseits des Leidens. […]«

Man mag sich vielleicht auch fragen, ob es sein kann, dass alle Lebewesen, selbst Hunde oder Schweine, im tiefsten Inneren ihres Bewusstseins die vielfältigen Eigenschaften der Buddhaschaft in sich tragen, wie zum Beispiel die »zehn Kräfte«. Tatsächlich sind diese positiven Eigenschaften im Erleuchtungspotenzial eines jeden Lebewesens enthalten – in der grundlegenden Natur des Bewusstseins –, und die Attribute dieser Eigenschaften sind nicht davon zu trennen, ebenso wenig, wie Hitze vom Feuer getrennt werden kann. Die positiven Eigenschaften liegen jedoch nicht offen zutage und sind vergleichbar mit einer Säbelklinge, die unsichtbar bleibt, solange die Klinge in der Scheide steckt; oder mit einem Spiegel, der zwar potenziell Formen und Farben widerspiegelt, doch erst dann, wenn man ihn aus dem Dunkel hervorholt.

Die Eigenschaften des Erwachens wiederum sind zwar dem Bewusstsein immanent, es kann jedoch sein, dass wir sie über lange Zeit hinweg nicht wahrnehmen können. Die letztendliche Natur des Geistes, die Leerheit mit allen höchsten Eigenschaften des Erwachens, ist also immer in uns gegenwärtig, bleibt jedoch so lange unterschwellig, wie wir sie nicht entdeckt und uns mit ihr vertraut gemacht haben. Es genügt nicht, die Natur des Geistes rational zu verstehen, sondern wir müssen uns von den Schleiern, die sie verdecken, befreien – und die beste Methode, dies zu tun, besteht darin, den Erleuchtungsgeist hervorzubringen, die höhere Absicht, zum Wohl aller Lebewesen Erwachen zu erlangen. Dies ist die einzige Methode, wahrhaftig zu erwachen, anders ausgedrückt: ein »Buddha« zu werden.

Jigme Khyentse Rinpoche (geb. 1963)7› Hinweis

Rat an einen Korbflechter, Familienvater

Manche behaupten zwar, sie hätten kein Ziel im Leben, doch mit Sicherheit streben sie wenigstens eines an: glücklich zu sein, wie alle Lebewesen. Wir alle wollen Gutes für uns. Dieses elementare und grundlegende Gefühl ist das Zeichen dafür, dass wir ein Potenzial, einen Reichtum in uns tragen, aus dem wir schöpfen können. Niemand will im tiefsten Innern sich selbst etwas Böses. Selbst ein Masochist, der von sich behauptet, er ließe sich gerne Leid zufügen, tut dies nur deswegen, weil es ihm Vergnügen bereitet.

Es ist lobenswert, wenn wir uns für unsere Angehörigen verantwortlich fühlen; wir können jedoch unseren Geist weit genug öffnen, um eine noch viel größere Verantwortung zu übernehmen: die für die unendlich vielen Lebewesen. Warum unser tiefes Gefühl der innigen Anteilnahme auf wenige Menschen begrenzen, wenn wir sie auf alle Lebewesen ausdehnen können? Und was unsere Freunde und Angehörigen angeht: Wir sollten ihnen etwas wirklich Nützliches mitgeben, sodass wir in unserer Todesstunde froh darüber sein können. Es genügt nicht, ihnen eine Freude zu machen, indem wir sie zum Beispiel auf eine Schiffskreuzfahrt mitnehmen. Was bringt ihnen denn eigentlich eine solche Fahrt? Wenn sie ein Problem haben, lenkt es sie vielleicht eine Zeit lang ab, doch in den meisten Fällen nehmen sie ihre Sorgen mit an den Ort, an den wir sie bringen. Wenn sie Herzenskummer haben, wenn ihr Lebensgefährte oder ihre Lebensgefährtin sie verlassen oder jemand sie seelisch verletzt hat, dann käuen sie ihren Verdruss auf dem Boot unaufhörlich wieder, und er ist nach der Kreuzfahrt noch genauso stark wie vorher. Es gibt aber etwas viel Besseres, das wir tun können, um den Menschen um uns herum zu helfen.

Überlegen wir einmal. Was würden wir unseren Kindern gerne mitgeben? Ein vorteilhaftes Bild von uns, sodass sie uns positiver sehen, als wir in Wirklichkeit sind? Wozu denn? Materielle Dinge? Das hieße, ihnen eine Menge Probleme zu hinterlassen. Wenn wir sterben, werden sie sich um unsere Reichtümer streiten, und selbst wenn wir diese zu unseren Lebzeiten aufteilen, werden einige sich übervorteilt fühlen und die anderen um ihren Anteil beneiden. Materiellen Komfort können sie sich auf anderem Wege aneignen, zum Beispiel, indem sie arbeiten. Unsere Gegenwart? Ob wir wollen oder nicht, sie werden von uns getrennt, wenn wir sterben. In diesem Moment wird ihr Kummer uns nicht wiedererwecken und ihnen keinen Nutzen bringen.

Was wir ihnen dagegen hinterlassen können, ist eine Quelle der Inspiration, eine Sicht der Dinge, die sinnvoll ist und ihnen in jedem Augenblick ihres Lebens Vertrauen zu geben vermag. Dafür müssen wir natürlich selbst erst einmal eine gewisse Sicherheit, eine innere Gewissheit erlangen. Dieses Gefühl kann jedoch, wie einleuchtet, nur aus unserem Geist hervorgehen; es ist also höchste Zeit, dass wir uns mit ihm beschäftigen.

Von Geburt an lassen wir unseren Geist schalten und walten, wie es ihm beliebt, vergleichbar mit einem launischen Kind, und müssen nun wirklich einsehen, dass daraus eigentlich nichts Positives erwachsen ist. Es ist mittlerweile unumgänglich geworden, dass wir die Zügel wieder in die Hand nehmen, und es lohnt sich auch, Zeit darauf zu verwenden, und sei es auch nur jeden Tag ein bisschen.

Wir müssen uns also neu besinnen und gesunden Menschenverstand an den Tag legen. Erlauben wir nun aber unserem Geist, uns so schlecht zu behandeln, dass unser Leben leidvoll ist und andere dadurch ebenfalls leiden müssen, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass es uns an ebendiesem gesunden Menschenverstand mangelt. Die Gedanken und Worte, die unserem verwirrten Geist entspringen, können als »negativ« betrachtet werden. Wenn wir aber, statt über unser Schicksal zu klagen, uneigennützige Liebe und Mitgefühl entwickeln und diese »positiven« Zustände unser Wohlbefinden und das der anderen steigern, dann stellen wir gesunden Menschenverstand unter Beweis.

Die Verwirrung, in der wir uns befinden, ist im Grunde ein Geschenk des Himmels. Sie zeugt von unserer Sensibilität. Diejenigen, die ohne das geringste Gefühl der Bedrängnis durchs Leben gehen, sind unbewusst. Die durch unsere Bewusstwerdung eingeleitete Not birgt ein immenses Wandlungspotenzial in sich, einen Schatz an Energie, aus dem wir mit vollen Händen schöpfen und den wir dazu verwenden können, etwas Besseres aufzubauen – Gleichgültigkeit ermöglicht so etwas nicht.

Wenn du den Eindruck hast, die ganze Welt sei gegen dich, dann stell dir vor – du, der Korbflechter –, es lägen tonnenweise Weidenruten vor dir. Um Körbe herzustellen, musst du diese Weidenruten einwandfrei flechten. Genauso sollst du angesichts all dieser Schwierigkeiten fachgerecht einen »inneren« Korb flechten, der groß genug ist, um alle Wechselfälle des Lebens zu fassen, ohne dass sie dich überwältigen. Kurz: Es ist wesentlich, dass du dich mit gutem Urteilsvermögen um deinen Geist kümmerst.

Minling Terchen Gyurme Dorje (1646–1714)8› Hinweis

Ratschläge, um den Schmerz der edlen Dame namens Sönam Paldrön aus Ugpa Lung zu lindern.

Namo guru ratnaya!

Verehrung sei den Meistern und den Drei Juwelen!

Meinen Geist innig

mit dem des unermesslich guten Meisters vereint,

Flehe ich diesen an,

Die Flut seiner Segnungen auf uns herabregnen zu lassen,

Damit alle schmerzlichen Umstände

Sich spontan in die höchste Glückseligkeit befreien.

Der Wechsel der Gedanken

Von Glück und Leid, Verlangen und Abneigung

Ist nichts anderes als das Spiel

Der leuchtend klaren Leerheit des Geistes.7› Hinweis

Ohne das, was sich zeigt, zu verändern,

Betrachte seine Natur,

Und du wirst es als große Glückseligkeit erleben.

Solange du diese menschliche Existenz innehast,

Richte dein ganzes Bemühen auf das Praktizieren des höchsten Dharma.

Die tausend Dinge, die zu tun sind und niemals ein Ende nehmen:

Diese dummen, inhaltsleeren Ablenkungen

Gib alle vollkommen auf!

Hast du einen Gegner unterworfen,

Sind immer noch tausend weitere da, die besiegt werden müssen.

Du tust besser daran, die Feinde in deinem Geist zu vernichten,

Nämlich deine negativen Gefühle.

Auch wenn Eltern und Freunde sich noch so gut verstehen,

Kommt es doch leicht zu Zwietracht.

Diejenigen, die uns in diesem Leben nahestehen,

Bereiten uns auch Qualen.

Möglicherweise gelangst du zu Wohlstand,

Doch wird es dir schwerfallen, dich damit zu begnügen.

Zu wissen, wie du den Knoten der Gier durchschneidest –

Das ist sehr viel wichtiger!

Wenn diejenigen, denen du vertraut hast, dich täuschen,

Dann soll dein Herz sich den unvergänglichen Drei Juwelen überantworten!

Bist du verzweifelt wegen des Verlusts eines geliebten Kindes,

Dann erkenne die letztendliche Natur deines Kummers ganz klar,

Und verweile mit freiem und offenem Geist

Im Raum der unbeschreiblichen leuchtend klaren Leerheit.

Es ist absurd, den Lebewesen der sechs Daseinsbereiche

Anhaftung und Hass entgegenzubringen,

Mit denen wir durch tiefe Verwandtschaftsbande verbunden sind.

Ist nicht die Erkenntnis, dass sie alle gleich sind,

An sich schon Befreiung und große Glückseligkeit?

Jede glückliche oder unglückliche Situation

Ist in der eigentlichen Essenz des Geistes frei von geistigen Konstrukten,

Wie der Regenbogen, der den Himmel nicht verändert.

Lass alles im weiten Raum, ohne daran festzuhalten.

Shechen Gyaltsap (1871–1926)9› Hinweis

Sind Wärme, Düngung und Feuchtigkeit zusammengekommen, dann setzt man alles daran, das Korn auszusäen. Entdeckt man Gold- oder Silbervorkommen, setzt man alles daran, sie zu erschließen. Ist die Herbsternte reif, tut man alles, um sie einzufahren. Begleitet uns eine Eskorte auf einem gefährlichen Weg, sind wir umso tatkräftiger. Wenn uns Arbeitskräfte und Helfer zur Verfügung stehen, führen wir unsere Aufgabe erfolgreich zu Ende. Heute, da ihr im Besitz einer kostbaren menschlichen Existenz seid, die durch nichts eingeschränkt ist und in der alle günstigen Voraussetzungen gegeben sind, bemüht euch unablässig um die spirituelle Praxis!

Überlegt euch gut: Jetzt ist nicht mehr die Zeit, zu schlafen oder innezuhalten, um ein wenig zu verschnaufen, sondern ihr müsst euch ununterbrochen bemühen. Was auch immer wir tun – gehen, essen, sitzen etc., lassen wir Faulheit, Trägheit, Apathie, Nachlässigkeit oder Ablenkung außen vor! Lasst uns Neigungen in den Griff bekommen, die uns veranlassen, uns gegen jede Änderung in unserem Körper, unserer Rede, unserem Geist bis hin zu den belanglosesten Aktivitäten zu sträuben! Haben wir erst einmal den Weg der Befreiung eingeschlagen, wäre es unangebracht, sich wie gewohnt zu verhalten: Beobachten wir kontinuierlich unseren Geist, wachsam und mit Klarblick. Wenn wir eine böswillige Tat begangen haben, dann wollen wir es bereuen und uns ganz fest vornehmen, sie niemals zu wiederholen. Und haben wir keine solche Tat begangen, dann sollten wir uns darüber freuen können.

Widmen wir uns der spirituellen Praxis – sei sie formell oder nicht – mit demselben Feuereifer wie ein Verhungerter, der sich auf jede Nahrung stürzt! Während wir darauf achten, gewöhnliche gute Taten nicht geringzuschätzen und die illusorische Natur aller Dinge nicht aus dem Blick zu verlieren, lasst uns den Weg der zwei Ansammlungen – Verdienste und Weisheit – gehen, diesen Weg, der die Siegreichen erfreut, und ermutigen wir auch andere, ihn einzuschlagen. Bemühen wir uns Tag und Nacht, die Lehren zu praktizieren, und bahnen wir so den Weg für glückliche zukünftige Leben: Das ist die Art und Weise, wie wir unserem Leben echten Sinn verleihen können.

2
Reflexionen über die Vergänglichkeit
und den Tod

Der Tod hält sich nicht damit auf,
zu berücksichtigen,
was bereits getan ist und was
noch getan werden muss.

Shantideva

Jeder Moment unseres Lebens ist unendlich kostbar. Dennoch lassen wir die Zeit, die uns noch bleibt, wie Goldstaub zwischen den Fingern zerrinnen. Was gibt es Traurigeres, als am Ende seines Lebens mit leeren Händen dazustehen? Wir sollten in der Lage sein, den unschätzbaren Wert jeder Sekunde unseres Lebens zu erkennen. Seien wir so klug und entschließen wir uns, es bestmöglich zu nutzen – zu unserem eigenen Wohl wie auch zum Wohl der anderen. Vor allem sollten wir die Illusion ausräumen, wir hätten noch »das ganze Leben vor uns«. Dieses Leben vergeht wie ein Traum, der jeden Moment unterbrochen werden könnte. Konzentrieren wir uns also unverzüglich auf das Wesentliche, damit wir in unserer Todesstunde nicht von Reue zerfressen werden. Es ist nie zu früh, unsere inneren Qualitäten zu entwickeln.

Die flüchtige Natur aller Dinge stellt sich uns unter zwei Aspekten dar: als grobe Unbeständigkeit – Jahreszeitenwechsel, Erosion der Berge, das Altern unseres Körpers, Gefühlsschwankungen – und als subtile Unbeständigkeit, die auf der Ebene der kleinsten vorstellbaren Zeiteinheit in Erscheinung tritt. In jedem unendlich kleinen Augenblick ändert sich zwangsläufig alles, was dem Anschein nach dauerhaft existiert. Und wegen ebendieser subtilen Unbeständigkeit vergleicht der Buddhismus die Welt mit einem Traum, einer Illusion, einem ständigen nicht greifbaren Fluss.

Doch auch wenn der Gedanke an den Tod ständig im Geist des Praktizierenden präsent sein soll: Er soll ihn deswegen nicht traurig oder morbide machen, sondern ihn, im Gegenteil, dazu anregen, jede Minute seines Lebens darauf zu verwenden, die von ihm angestrebte innere Wandlung zu vollziehen. Wir neigen dazu, uns zu sagen: »Ich erledige erst meine laufenden Angelegenheiten, bringe all meine Projekte zu Ende, und wenn das erst einmal beendet ist, sehe ich klarer und kann mich dem spirituellen Leben zuwenden.« Mit einer solchen Argumentation machen wir uns jedoch auf schlimmste Weise selbst etwas vor, denn es steht nicht nur fest, dass der Tod unweigerlich kommt, sondern auch der Zeitpunkt und die Umstände, die ihn hervorrufen, sind absolut unvorhersehbar. Jede Situation des alltäglichen Lebens, einfaches Gehen, Essen oder Schlafen, kann ganz plötzlich zu einer Todesursache werden. Ernsthaft Praktizierende sollten dies stets im Sinn behalten. Einsiedler in Tibet üben sich beim morgendlichen Feuermachen in dem Denken, dass sie am folgenden Tag vielleicht nicht mehr da sein werden, um ein Feuer zu entzünden. Sie betrachten es sogar als Glück, nach jedem Ausatmen wieder einatmen zu können. Der Gedanke an den Tod und an die Unbeständigkeit ist für sie der Treibstock, die sie jeden Tag anstachelt, mit ihrer spirituellen Praxis fortzufahren.

Nagarjuna (1. Jh.)10› Hinweis

Wenn dieses Leben, das der Wind der tausend Übel peitscht,

Noch fragiler ist als eine Schaumblase auf dem Wasser,

Dann ist es ein Wunder, dass wir nach dem Schlafen

Einatmend, ausatmend, wieder munter erwachen!

Padmasambhava (8.–9. Jh.)11› Hinweis

Wie der Strom schnell in Richtung Meer fließt,

Wie Sonne und Mond hinter den Bergen des Abendhimmels versinken,

Wie Tage, Nächte, Stunden und Augenblicke dahinschwinden,

So verrinnt das menschliche Leben unerbittlich.

Dilgo Khyentse Rinpoche (1910–1991)12› Hinweis

So wie das Öl einer brennenden Lampe, das bald aufgebraucht ist, gehen alle Dinge dieser Welt allmählich und unerbittlich auf ihr Ende zu. Es ist kindisch anzunehmen, man könne zuerst all seine angefangenen Vorhaben zu Ende bringen, um sich danach zurückzuziehen und den Rest seines Lebens dem Dharma zu widmen. Können wir uns denn so sicher sein, dass wir lange genug leben? Ereilt der Tod nicht Junge wie Alte? Was ihr auch tut, denkt daran, dass ihr sterblich seid, und sorgt dafür, dass euer Geist auf den Weg ausgerichtet bleibt. […] Ein gesuchter Verbrecher kann keinen Augenblick ruhig bleiben; immer auf der Hut, ersinnt er tausend Möglichkeiten, wie er der Strafe, die ihn erwartet, entgeht. Ganz gewiss werdet ihr ihn nicht beim Zeichnen von Entwürfen für sein zukünftiges Haus antreffen. Wie sollte man sich ausruhen können, wenn der Tod in jedem Augenblick droht? Von jetzt an ist die einzig mögliche Rettung das Praktizieren des Dharma, wodurch der Tod zu einem Freund wird. […]

Alles hat seine Zeit. Die Bauern wissen das zur Genüge: Sie warten den geeigneten Moment ab, um zu pflügen, zu säen oder zu ernten, und tun, wenn dieser Moment gekommen ist, bestimmt immer das Richtige. Jetzt, da ihr im Vollbesitz eurer Fähigkeiten seid, einem echten spirituellen Meister begegnet seid und seine kostbaren Unterweisungen erhalten habt – wollt ihr da das Feld eurer Befreiung brachliegen lassen?

Wir müssen in unseren zukünftigen Leben noch eine weite Strecke zurücklegen, und der Tod ist lediglich eine Schwelle, die zu überwinden ist – eine Schwelle, die wir allein überschreiten werden, und dabei werden das Vertrauen in den Meister und das Zutrauen zur spirituellen Praxis unsere einzigen Begleiter sein. Unsere Eltern, Freunde, unsere Macht, unser Reichtum, alles, worauf wir normalerweise zählen, wird nicht mehr da sein.

Wenn ihr eure Zeit damit zubringt, endlose Bagatellaufgaben zu erledigen, dann wird euch im Moment des Todes die Angst packen und ihr werdet vor Reue weinen, wie ein Dieb, den man ins Gefängnis geworfen hat und der sich fragt, welches Schicksal ihn wohl erwartet. Darum erklärte Milarepa dem Jäger Gönpo Dorje: »Dadurch, dass du unerschütterliche Hingabe für deinen Meister und die Drei Juwelen entwickelst, wirst du selbst dann, wenn dir nichts mehr bleibt, beruhigt und mit einem Herzen voller Freude leben und sterben.«13› Hinweis

Padmasambhava (8.–9. Jh.)14› Hinweis

Das Leben zieht so schnell vorüber wie Herbstwolken;

Eltern und Freunde gleichen Schaulustigen auf einem Markt;

Der Dämon des Todes streift umher, verstohlen, wie die Schatten der Abenddämmerung;

Das Jenseits ist [für uns] wie ein durchsichtiger Fisch in trübem Wasser

Und die Welt wie ein Traum der vergangenen Nacht;

Sinnesfreuden sind wie ein unwirkliches Fest

Und die alltäglichen Aktivitäten so belanglos

Wie Wellen, die sich auf der Wasseroberfläche aneinanderreihen.

Dilgo Khyentse Rinpoche (1910–1991)15› Hinweis

Im Frühling keimt die Saat, im Sommer wandeln sich die Triebe zu Stängeln, Blättern und Blumen; im Herbst ist die Ernte gereift und wird eingefahren, und im Winter wird der Boden für die kommende Jahreszeit vorbereitet. Der Mond nimmt im Lauf des Monats zu und wieder ab, die Sonne geht an einem Tag auf und wieder unter: Alles ist fortwährend im Wandel. Abends ertönen die Tänze und Gesänge Tausender Gäste; bei Tagesanbruch ist alles verlassen und still, und während der kurzen Zeit des Fests sind die Feiernden ihrem Todeszeitpunkt ein klein wenig näher gerückt …

Shechen Gyaltsap (1871–1926)16› Hinweis

Zwischen den Wolken des Trügerischen und des Vergänglichen

Tanzt der Blitz des Lebens.

Kannst du mit Gewissheit sagen, dass du morgen nicht tot bist?

Also praktiziere den Dharma!

Gungthang Tenpe Drönme (1762–1823)17› Hinweis

Das türkisfarbene Wasser,

Im unentwegten Murmeln seiner Wellen tanzend,

Ist ein junges Mädchen, das mit erstickter Stimme um Hilfe ruft,

Wenn es vom winterlichen Eis eingesperrt wird.

Die schillernden Blumenwiesen, erfüllt vom Summen der Bienen,

Verwandeln sich, sobald der beißende Frost der Herbstmorgen herannaht,

In öde, gespenstische Ebenen,

Die vor dem Ansturm des Hagels angstvoll stöhnen.

Eine schwarze und eine weiße Maus nagen Tag und Nacht

Abwechselnd an den zarten Halmen unserer Existenz,

Und in jedem Augenblick nähern wir uns

Um einen weiteren Schritt unserem Feind, dem Tod.

Wenn alte Menschen den Verlust ihres Sohnes beweinen,

Ihr Körper zitternd wie ein gekrümmter Bogen

Und ihr Haar muschelweiß –

Wer wird dann noch behaupten, dass die Alten zuerst sterben?

Tennyi Lingpa (1480–1535)18› Hinweis

Meditation über die Unbeständigkeit

Stellen wir uns vor, wir befänden uns an einem unbekannten Ort und wüssten weder, woher wir kommen, noch, wohin wir gehen. Es ist ein düsteres Tal, ausgerichtet nach Norden. Rötliche Trümmer bedecken den schwarzen Boden. Nicht das geringste Anzeichen menschlicher Gegenwart ist zu sehen, doch man hört das ohrenbetäubende Getöse einer Lawine, die sich den felsigen, dunklen Berg herabwälzt; loses Geröll zerfetzt die Abhänge, auf denen der Wind im wilden Gras heult, während Raubtiere sich um Kadaver streiten, die sie in Stücke reißen; Schakalgekläffe mischt sich mit dem Krächzen der Raben und dem Schrei der Eulen; Felsgipfel zerspalten den Himmel, und der Wind pfeift, während die Sonne hinter den Bergen versinkt und die Schatten noch finsterer werden.

Verirrt, ohne Gefährte und Orientierung, weiß ich nicht, wohin ich mich wenden soll. In höchster Verzweiflung breche ich in Klagen aus: »Ich Armer, wo bin ich? Ich habe mich verirrt! Wo sind meine Kinder, meine Eltern, wo mein Besitz und mein Land? Das ist ja entsetzlich!«

Ratlos beginne ich auszuschreiten, stolpere jedoch sofort und stürze in eine Schlucht. Noch im Fallen kann ich mit der rechten Hand ein großes Grasbüschel greifen, das aus dem Felsen heraussteht. Über der Tiefe hängend, zitternd, klammere ich mich mit der Energie der Verzweiflung daran fest. Unter mir sehe ich nur einen bodenlosen Abgrund, über mir nur eine riesige Felswand, spiegelglatt, die in den Himmel emporragt. Der Wind peitscht mir um die Ohren. Rechts neben dem Grasbüschel kommt eine weiße Maus aus einer Spalte in der Felswand und nagt einen Grashalm ab, den sie sofort wegträgt. Links erscheint eine schwarze Maus, die ebenfalls einen Halm abnagt, bevor sie verschwindet. Die beiden Mäuse beginnen ihr Karussell wieder von vorn, jeweils abwechselnd, und das Grasbüschel schwindet allmählich dahin.8› Hinweis

Ohne die geringste Möglichkeit, sie daran zu hindern, und voller Angst vor dem Tod jammere ich: »O weh! Meine letzte Stunde hat geschlagen!« Doch niemand ist da, der meinen Hilferuf hört. »Früher habe ich nicht bedacht, dass ich sterben muss, und habe das Praktizieren der Dharma-Lehre vernachlässigt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich dem Tod schon so bald gegenüberstehe, und nun ist er plötzlich vor mir. Meine Kinder, meine Freunde, meine Besitztümer und mein Land werde ich nicht mehr wiedersehen. Weil ich nur darauf bedacht war, Reichtum anzuhäufen, habe ich mich nicht darum geschert, mich um das Gute zu bemühen, und jetzt muss ich alles zurücklassen und allein fortgehen, an einen unbekannten Bestimmungsort. Es ist beängstigend! Wie kann ich meinem tragischen Schicksal entgehen? Habe ich auch nur die geringste Chance, noch einmal davonzukommen?«

Genau da erscheint mein spiritueller Meister am Himmel: Auf einem Lotos und einer Mondscheibe sitzend, geschmückt mit dem sechsfachen Knochenschmuck, lässt er seine Glocke erklingen und spielt auf seiner kleinen Trommel;9› Hinweis majestätisch tanzt er im Raum.

»Unglückseliger!«, ruft er aus. »Du bist der Unbeständigkeit aller Dinge unterworfen und wirst bald nicht mehr da sein. Die Jahreszeiten vergehen, und alle Wesen, Freunde wie Feinde, altern und sterben schließlich. Selbst die Jugend schwindet – jeden Tag, jeden Monat ein bisschen mehr. Es gibt kein Mittel, den Tod abzuwenden, aber wenn du meinst, du könntest noch einmal davonkommen, dann sieh erst einmal, in welcher Lage du bist, höre umgehend und mit Respekt auf das, was dein Meister sagt, und entwickle ihm gegenüber inbrünstige Hingabe.«

Bei diesen Worten rufe ich: »Ach! Ich stehe schon an der Schwelle des Todes und ich bereue bitter, dass ich meinen Geist nicht geschult habe. Ob ich sterbe oder überlebe: Ich überantworte mich ganz und gar dem Meister und den Drei Juwelen. Mögen diejenigen, die mitfühlend sind, mich aus dem Abgrund des Daseinskreislaufs befreien! O Meister, der du allein die Drei Juwelen verkörperst, in deine Hände will ich mich geben!«

Während ihr so euren Meister aus dem tiefsten Inneren heraus mit großer Hingabe anfleht, entspringt seinem Herzen ein Lichtstrahl, der genau in dem Moment euer Herz berührt, da das Grasbüschel, an dem euer Leben hängt, schließlich nachgibt. Dieser Strahl zieht euch aus dem Abgrund, und ihr findet euch im Reinen Land der Großen Glückseligkeit wieder. Von eurem Herzen gehen unendliche Lichtstrahlen aus, die alle Wesen der drei Bereiche des Samsara in dieses Reine Land leiten, ohne auch nur einen zu vergessen. Meditiert auf diese Weise und entwickelt dabei intensives Mitgefühl.

Buddha Shakyamuni (5. Jh. v. Chr.)19› Hinweis

Wie eine Sternschnuppe, eine Luftspiegelung, eine Flamme,