Cover

Antje Schendel / mit Shirley Michaela Seul

Die Tatortreinigerin

Ich komme, wenn das Leben geht

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Antje Schendel / mit Shirley Michaela Seul

Antje Schendel ist Tatortreinigerin. Ihr Job ist es, Zimmer zu reinigen, in denen Gewaltverbrechen begangen wurden, Wohnungen wieder herzurichten, in denen Leichen über einen langen Zeitraum unentdeckt blieben, und aufzuräumen, wenn Messies vor ihrem Unrat kapitulieren – damit schließlich alles wieder so aussieht, als wäre nie etwas passiert. Dabei haben Diskretion, Respekt und Professionalität höchsten Stellenwert. Bei ihrer Arbeit begegnen Antje Schendel so dramatische wie ergreifende Schicksale, fassungslose Hinterbliebene, deren erste Ansprechpartnerin sie ist, und kuriose Fundstücke. Immer wieder stößt sie auch auf Geheimnisse der Verstorbenen, die sie lieber nie gesehen hätte.

Über dieses Buch

Antje Schendel arbeitete nach ihrer Ausbildung zur Informatikerin als Model. Durch Zufall erfuhr sie, dass es normale Reinigungsunternehmen ablehnen, Tatorte sauberzumachen. Antje Schendel erkannte die Marktlücke und gründete nach vielen Recherchen und Experimenten mit Reinigungsmitteln ihre Firma »Schendel Tatortreinigung«. Mittlerweile ist sie eine gefragte Expertin in ganz Deutschland.

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41327-2

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Prolog: Der Kopfschuss

Der Anruf erreichte mich nachmittags. Am Apparat war eine Frau mit zittriger Stimme, der ich anhörte, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Sie wisse nicht, wie es in dem Raum aussehe, in dem sich ihr Mann – er war erst Mitte dreißig gewesen – erschossen habe. Die Polizei habe ihr dringend davon abgeraten, das Zimmer zu betreten. Sie solle jemanden mit der Reinigung beauftragen. »Machen Sie so was?«

»Selbstverständlich, das ist meine Aufgabe«, sagte ich, als ob ich den Job schon seit zwanzig Jahren machen würde, und fuhr am frühen Abend los.

Es war einer dieser Frühlingsabende, die man sich am liebsten ins Fotoalbum kleben würde. Die Vorgärten der gepflegten Einfamilienhaussiedlung blühten um die Wette, überall leuchteten knallgelbe Forsythiensträucher, und die Vögel zwitscherten, was ihre kleinen Lungen hergaben. Es war der erste milde Abend in diesem Jahr, und in manchen Gärten saßen Menschen an eilig aus Gartenhäuschen hervorgeholten Tischen. Das Draußensein war noch nicht normal, es war improvisiert. Über allem lag ein Hauch von Vorfreude auf die kommende Jahreszeit. Über fast allem.

Ich wusste nicht, ob es Vorfreude war oder Angst, dieses Gefühl in meiner Magengegend. Auf jeden Fall war ich aufgeregt. Dies sollte mein erster Auftrag sein. Nun würde sich zeigen, ob ich das überhaupt konnte, Tatorte reinigen.

Ich sprach mir Mut zu: Wieso sollte ich mich vorher schon mit irgendwelchen Wenns und Vielleichts beschäftigen. Ich ging davon aus, dass ich viel zu tun haben würde, denn Wildschweinschrot – mit dem sich der Mann getötet hatte – ist grobe Munition. Nach diesem Auftrag würde ich klüger sein. Nach dem ersten Auftrag würde ich wissen, ob ich meiner Berufung gewachsen war.

Na ja, ich wusste eigentlich vorher schon, dass ich psychisch zu dem Job in der Lage war. Hatte mein Körper dieselbe Stärke wie mein Geist? Wie hoch war meine Ekeltoleranz? Wie gut konnte ich mit grauenvollen Anblicken umgehen? Würde ich mich auf das Wesentliche konzentrieren können, anstatt abzuschweifen und mir beispielsweise vorzustellen, was genau geschehen war? Würde ich meinen Job schaffen – oder er mich?

 

Mit kleinen, verweinten Augen empfing mich die auch in ihrer Trauer attraktive Frau an der Haustür. Wieder rang sie mühevoll um ihre Fassung. Ich selbst war nach der einstündigen Autofahrt sehr gefasst, und das machte es ihr ein wenig leichter, glaube ich.

Als die Frau mir nach der Begrüßung und einem kurzen Wortwechsel den Schlüssel zu einem Zimmer im ersten Stock reichte, atmete sie schwer. Ich bedankte mich und hörte sie laut aufschluchzen, als ich nach oben ging.

Vor der geschlossenen Tür zog ich meinen weißen Schutzanzug über und schlüpfte in die Überzieher für die Schuhe. Dann legte ich den Mundschutz und die Handschuhe an. Zum Schluss setzte ich die Schutzbrille auf. Die Atemschutzmaske, die mein bedrohliches Aussehen komplett machen würde, brauchte ich bei diesem Auftrag nicht. Der Mann hatte sich am Vormittag erschossen, und hier war nachweislich kein Gesundheitsrisiko vorhanden.

Gut verpackt und gesichert, fiel es mir nicht schwer, das Zimmer zu betreten. Mir konnte nichts passieren. Meine Haut, meine Augen, meine Hände, mein Mund würden mit nichts Gefährlichem oder Unangenehmem in Berührung kommen. Selbst wenn etwas von der Decke tropfte oder ich in eine Blutlache fiele: Ich war bestens ausgerüstet.

Schutzkleidung ist besonders wichtig, wenn man Räumlichkeiten von HIV- oder Hepatitis-Verdächtigen säubert. Auch Tuberkulose kommt öfter vor, als man glaubt, und ist sehr ansteckend. Diese Schutzkleidung ist mein Dresscode, mein Blaumann, ganz einfach: meine Arbeitskleidung. Später sollte ich Fälle erleben, in denen mir Angehörige versicherten: »Er war gesund, absolut gesund, Sie brauchen sich nicht so zu verkleiden, als müssten Sie in einen Atombunker.«

Dann frage ich immer: »Sind Sie zu hundert Prozent sicher? Möchten Sie die Verantwortung für mein Leben übernehmen?«

Das geht natürlich nicht, niemand kann die Verantwortung für mein Leben übernehmen, doch so wird den Menschen schnell klar, dass ich mich nicht deshalb schütze, weil ich ihren Angehörigen für schmutzig oder ansteckend halte. Es gibt diese Sicherheit einfach nicht. Erstens kennen wir niemanden vollständig, und zweitens leiden viele Menschen an HIV oder Hepatitis oder anderen Krankheiten, ohne es selbst zu wissen, oder sie verheimlichen es vor ihren Angehörigen. Deshalb vertraue ich lieber meiner Arbeitskleidung als einer lapidaren Auskunft einer Person, die ich kaum kenne.

 

Ich drehte den Schlüssel zu meinem ersten Tatort im Schloss, öffnete die Tür einen Spalt und schlüpfte hinein. Die Fundstelle selbst befand sich direkt hinter der Tür, das wusste ich von der Witwe, die es von der Polizei erfahren hatte.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich mit einem Schuss in die Mundhöhle zu töten. Heute erkenne ich anhand der Spuren sofort, welche gewählt wurde. Bei meinem ersten Tatort hatte jemand genau gewusst, was er wollte. Er hatte Spucke gesammelt oder vielleicht einen Schluck Wasser in den Mund genommen, als er abdrückte. Durch die Flüssigkeitsansammlung entsteht eine Druckwelle, die den Kopf regelrecht wegsprengt. In alle Richtungen.

Und genau so sah es in diesem Zimmer aus. Der Kopf des toten Mannes war im wahrsten Sinne des Wortes überallhin zersprengt. Bald würde ich ähnliche Fälle kennenlernen, bei denen ich Schädelknochen oder Gehirnmasse sogar in anderen Zimmern finden würde. Rein physikalisch ist es mir unerklärlich, wie das geschehen kann. Doch es ist so. Deshalb suche ich einen Tatort stets sehr, sehr gründlich ab.

Ich schloss die Zimmertür und schaute mich um. Langsam. Drehte mich im Kreis. Scannte die Decke, die Wände, den Boden, das Bett. Es gab einen begehbaren Kleiderschrank in diesem Schlafzimmer. Eigentlich war es nicht möglich, doch auch hier lagen ein paar Zähne. In der Holzdecke steckte ein Goldzahn.

Ich nahm diese Körperteile gar nicht richtig als Zähne wahr. Es waren einfach kleine Teile der großen Aufgabe, die ich zu bewältigen hatte. Mein Job war es, dieses Zimmer so zu säubern, aufzuräumen und wiederherzustellen, dass niemandem der Gedanke kommen würde, hier hätte ein Selbstmord stattgefunden.

 

Ein Bestatter kriecht normalerweise nicht unter das Bett, um zu sehen, was er noch alles einpacken kann. Ich habe gerade bei Suizid mit Schusswaffen sehr oft sehr viel eingesammelt. Schädelknochen, Kieferknochen, einen Skalp, Finger, Zähne, Gebisse und reichlich Gehirnmasse. Ihre Konsistenz erinnert an Klebstoff oder Kaugummi. Aus Fugen von Deckenpaneelen ist sie manchmal nur mühsam zu entfernen.

Auch das viele Blut, das im ganzen Raum verspritzt war, würde mich herausfordern, denn ich wollte keinen einzigen winzigen Blutspritzer übersehen. Schließlich musste ich einschätzen können, welche Utensilien und Reinigungsmittel ich brauchen und wie lange ich am Einsatzort beschäftigt sein würde.

 

Ehe ich den Tatort verließ, öffnete ich das Fenster, zog meine Arbeitskleidung aus und steckte sie in eine Mülltüte – bis auf die Schutzbrille verwende ich alles nur einmal. Anschließend ging ich hinunter zu meiner Auftraggeberin, die in der Küche saß und ein aufgeweichtes Tempotaschentuch zu einer ausgefransten Schlange drehte. Kleine weiße Würmchen ringelten sich um ihren Stuhl. Es waren viele. Mindestens eine Packung Taschentücher.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie mich.

»Ein Glas Wasser, gern«, sagte ich, obwohl ich keinen Durst hatte, doch ich wollte, dass auch sie etwas trank und wir beide noch ein paar Minuten hätten, um miteinander zu sprechen. Und tatsächlich, sie stellte zwei Gläser auf den Tisch, woraufhin ich uns beiden Wasser einschenkte. Dann erklärte ich ihr, wie ich vorgehen würde.

Ich spreche immer nur über den Raum. Ich berichte nie, was ich vorgefunden habe. Das muss ich auch nicht, denn wenn ich aufzähle: Die Wände müssen neu gestrichen werden, der Teppich muss raus, die Rattanmöbel müssen wir leider wegwerfen, dann entstehen im Kopf meines Gegenübers schon mehr Bilder, als mir lieb ist. Deshalb bleibe ich vage, lege aber dennoch nachvollziehbar dar, was getan werden muss, um den Schatten der Tat von einem Ort zu tilgen.

Die Frau räusperte sich und sagte: »Ich will, dass das ganze Zimmer leergeräumt wird. Komplett. Alles. Auch das Bett, die Schränke, die Gardinen, alles. Es soll aussehen wie neu. Wie unbewohnt. Als wäre dort absolut nichts vorgefallen. Als wären wir …«, sie stockte, »… als wäre ich gerade erst eingezogen.«

»Gewiss«, nickte ich und verstand sie sehr, sehr gut.

Wir besprachen die Vorgehensweise, und ich sicherte ihr zu, den Auftrag innerhalb von achtundvierzig Stunden zu erledigen. Es war mir absolut klar, dass jemand in einer solchen Extremsituation keine Geduld hat. Und die sollte man auch nicht haben müssen, wenn er die Tatortreinigung Schendel beauftragte. Ich wollte nicht nur gründlich, sondern auch schnell sein. Zwei Tage später konnte ich den frisch gestrichenen Raum mit dem neuen Teppichboden picobello übergeben.

»Und was mache ich jetzt damit?«, fragte mich die Witwe, die ich nun schon ein bisschen besser kannte, weil wir einige Male länger miteinander gesprochen und sie mir Kaffee und Käsebrote angeboten hatte.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Meine Freundin meint, ich soll es als Gästezimmer einrichten, aber ich bekomme ja so selten Besuch. Und irgendwie erscheint mir das auch nicht passend.«

»Das müssen Sie doch nicht heute entscheiden«, erwiderte ich. »Jetzt haben Sie erst mal alles tipptopp, und was Sie damit machen, das wird sich schon noch ergeben.«

Zum Abschied lud mich die Witwe zu einer Kartoffelsuppe ein, wie sie ihr Mann so gern gegessen hatte.

Ich bin in den nächsten Jahren noch ein paar Mal bei ihr vorbeigefahren und habe mich erkundigt, wie es ihr geht. Das Zimmer hat sie irgendwann als Nähstube eingerichtet mit schönen bunten Vorhängen, wie ich von der Straße aus sehen konnte.

Der Mann aus dem Parterre

Meine erste Leiche entdeckte ich im Alter von sechs oder sieben Jahren. Der Mann war schon länger tot. Er wohnte im Parterre unseres Mietshauses in Ostberlin, drei Etagen unter der Wohnung meiner Eltern. Normalerweise waren die Fenster in der Parterrewohnung tagsüber geschlossen. Diesmal nicht. Plötzlich stand ein Fenster offen, und das wunderte mich.

Ich saß auf der Fensterbank in meinem Kinderzimmer und beobachtete ein Vogelnest, als die erwachsene Tochter ihren Vater besuchen wollte. Auch sie bemerkte das offene Fenster, ging näher heran, spähte in die Wohnung, beugte sich weit nach vorne und fing an zu schreien. Dann lief sie weg. Was war da los? Neugierig starrte ich nach unten, konnte aber nichts erkennen.

Am besten, ich würde selbst mal nachsehen. Mein Papa hielt sein Mittagsschläfchen. Er war nierenkrank und legte sich nach dem Essen gern eine Weile ins Bett. Auf Zehenspitzen, um ihn nicht zu wecken, schlich ich durch den Flur, öffnete leise die Wohnungstür und flitzte die Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Die Haustür stand offen an diesem herrlichen Frühlingsnachmittag. Später würde ich mit einer Schulkameradin zum Spielplatz gehen. Wir würden bis zum Himmel hoch schaukeln.

Jetzt sprang ich über die Fahrradständer und lief an der Hauswand entlang bis zu dem offenen Fenster unter meinem Kinderzimmer. Da lag schräg auf dem Bett ein aufgepumptes Ding in Lila. Die Wände um das Bett waren gesprenkelt mit dunklen Flecken. Auch das Fenster war voller dunkler Flecken. Ich wusste nicht, dass das Blut war. Auf den ersten Blick war auch nicht erkennbar, dass das dicke Ding einmal unser Nachbar gewesen war. Erst später erfuhr ich, dass sich die Haut des Mannes im Verwesungsprozess verfärbt hatte und dass er nicht dick, sondern aufgebläht war von Faulgasen. Ich schaute mir alles genau an. Dieses Bild sehe ich noch heute vor mir, als hätte ich ein imaginäres Foto davon gemacht.

 

Als mein Vater von seinem Mittagsschlaf aufwachte, sagte ich zu ihm: »Papa, da unten liegt ein Toter im Bett.«

Ich weiß nicht, woher ich wusste, dass der Mann tot war. Vielleicht hatte ich es aufgeschnappt durch mein offenes Fenster, denn natürlich blieb das Eintreffen der Polizei nicht unbemerkt, und die Nachbarn unterhielten sich aufgeregt.

»Das kann nicht sein«, sagte mein Vater.

»Es ist der Mann von Parterre, Papa, und er ist ganz lila.«

»Du spinnst.«

»Nein, tu ich nicht! Du kannst ja selber kucken.«

Mein Vater ging langsam zum Fenster an der Hofseite und schaute hinaus.

»Da siehst du nichts. Du musst mitkommen!« Ich packte ihn an der Hand und zog ihn die Treppen hinunter bis ins Erdgeschoss. Im Hausflur trafen wir auf zwei grau gekleidete Männer, die eine längliche Kiste trugen.

Mein Vater sagte: »Du hast recht gehabt. Komm Antje. Wir gehen wieder nach oben.«

Diesmal nahm er mich bei der Hand. Er fragte mich nichts. Wollte nicht wissen, woher ich von dem Toten wusste. Das wunderte mich nicht. So war mein Papa. Er redete wenig und über Gefühle erst recht nicht.

Natürlich erzählte ich auch meiner Mutter von dem lila Mann in der Parterrewohnung, als sie abends aus dem Blumenladen kam, in dem sie als Floristin arbeitete. Mein Vater war wegen seiner Krankheit schon länger nicht mehr berufstätig. Bei uns sorgte Mutti für das Auskommen. An diesem Abend brachte sie meine Lieblingsblumen mit: Fresien. Die gab es nicht oft in der ehemaligen DDR. Aber wenn welche bei der Lieferung waren, schenkte Mutti mir zwei, drei Stängel. Ich konnte nie genug von ihrem überwältigenden Duft kriegen.

 

Später hat mich einmal eine Bekannte gefragt, warum ich keine Fresie vor die Tür des Nachbarn gelegt habe. Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen. Ich war weder traurig noch geschockt von dem Ereignis. Ich hatte es einfach nur wahrgenommen. Als Bild. Damals war der tote Mann für mich nicht der Nachbar, den ich vom Sehen kannte. Ich brachte den Anblick des älteren Herrn aus dem Parterre nicht zusammen mit dem monströsen Etwas in einer lilafarbenen Hülle.

Weil er so stark aufgebläht war, lag er seitlich. Es ist ganz typisch, dass sich in einem solchen Zustand die Gliedmaßen abspreizen. Viele Menschen erinnern sich an die Bilder der aufgeblähten Leiber, die nach dem Tsunami 2004 wie gestrandete Wale an den Küsten Thailands in der Sonne lagen. Die waren nicht dick vom Wohlstandstourismus, die waren aufgebläht. Hitze und Feuchtigkeit beschleunigen den Verwesungsprozess.

 

Der Verwesungsprozess verläuft bei jedem Körper anders. Es gibt Fälle, da liegen Leichen zwei Tage und man sieht kaum etwas. Bei anderen ist nach einem Tag nicht mehr erkennbar, ob die Haut am lebendigen Leib einmal weiß oder schwarz gewesen war. Die Haut verändert sich rasch, beim normalen Verwesungsprozess von blau bis zu dunkellila und dann schwarz.

 

Manchmal dauert es sehr lange, bis ein Toter gefunden wird. Je länger, desto schwieriger ist es, den lebendigen Menschen, der er einmal war, in diesem Anblick zu entdecken.

Auch die Kleidung eines Verstorbenen spielt eine Rolle. Besteht sie aus Synthetik oder aus Baumwolle? In Synthetikkleidung »schwitzt« der tote Körper mehr; Wärme beschleunigt die Verwesung. In ganz schlimmen Fällen muss der Bestatter die sterblichen Überreste mit einer Schaufel einsammeln.

 

In Amerika gibt es sogenannte Bodyfarmen. An Körpern von Menschen, die ihre sterblichen Überreste nach dem Tod für die Forschung freigegeben haben, werden dort Verwesungsprozesse unter verschiedensten Umständen untersucht. Auch die Spezialisten des FBI werden hier geschult.

Ich selbst würde sehr gerne einmal ein Praktikum auf einer Bodyfarm machen. Es interessiert mich, wie die Beschaffenheit von Kleidung den Verwesungsprozess beeinflusst. Diese Frage ist der einzige Schnittpunkt, der meine ehemalige Karriere als Model mit meinem heutigen Beruf als Tatortreinigerin verbindet: Das Interesse an Kleidung, wenn auch aus Gründen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

 

Bei meiner Arbeit als Tatortreinigerin werde ich nur sehr selten mit einer vollständigen Leiche konfrontiert. Ich bin für die Reste zuständig, die sich von einem Körper gelöst haben, ob durch natürliche Verwesung oder Gewalteinwirkung. Teile von Kopf und Kiefer, Schädelplatten, Knochensubstanz, Gehirnmasse, Skalps, Kleingliedmaßenteile wie Finger und Zehen.

So wenig wie mein erster Toter im Haus meiner Eltern mich schockierte, so wenig belasten mich auch die unzähligen Tatorte, die ich gesäubert habe. Natürlich geht mir die eine oder andere Geschichte nah. Zuweilen erfahre ich viel über die Familienverhältnisse eines Verstorbenen, schließlich spreche ich manchmal lange und intensiv mit Angehörigen. In so einer Extremsituation kann sehr viel Nähe unter fremden Menschen entstehen, und manchmal entwickeln sich daraus sogar Freundschaften. Ich versuche mich in die Angehörigen hineinzuversetzen. Was kann einem Schlimmeres passieren, als einen geliebten Menschen unter tragischen Umständen zu verlieren!

Doch am Tatort selbst, da funktioniere ich professionell. Wenn mich jemand fragt, wie ich das schaffe, dann sage ich: »Ich war schon immer so«, und denke manchmal an den Mann aus dem Erdgeschoss. Das aufgeblähte lilafarbene Etwas hat sich nie als Gespenst in meine Kinderträume eingeschlichen. Ich habe es geistig fotografiert und abgelegt.

Diese positive Eigenschaft, mich gut distanzieren zu können, habe ich für mein Lebenswerk genutzt. Heute ist die Tatortreinigung »mein Baby«. Ich liebe meinen Beruf. Und, mal abgesehen davon: Irgendjemand muss das ja machen. Ohne Frage ist es besser, diese Aufgabe von einem Profi erledigen zu lassen, bei dem sie keine schädlichen Spuren hinterlässt.

Tatortreinigung gehört nicht zu den Berufen, die man so nebenbei lernen kann oder die man nur lange genug gemacht haben muss, um irgendwie irgendwann abzuhärten. Man kann es oder eben nicht. Und damit meine ich keinesfalls das Know-how. Sicher, es erfordert viel Spezialwissen und Engagement, doch das kann man nur einsetzen, wenn man die psychischen Voraussetzungen erfüllt. Hier sollte man sich selbst realistisch einschätzen und sich nicht zu viel zumuten. Man sollte sich vorher darüber klar sein, was auf einen zukommt und ob man sich dem gewachsen fühlt. Danach ist es zu spät. Bei der Tatortreinigung gibt es keine Testphase.

Aus Erfahrung weiß ich, dass viele Menschen mit den Anblicken, die sich mir alltäglich bieten, auch wenn sie nur einige Sekunden dauern, manchmal vielleicht nur einen Sekundenbruchteil, ihr Leben lang nicht fertig werden. Der Schreck brennt sich in die Seele ein und belastet sie zuweilen bis ans Lebensende. Vielleicht habe ich eine Brandschutzmauer um meine Seele? Ich mache mir keine Gedanken darüber. Ich erfülle einfach meinen Job, und zwar mit Herzblut und aus vollster Überzeugung. Ich liebe meinen Beruf. Damit helfe ich den Betroffenen am meisten. Und das macht mich manchmal richtig glücklich.

 

Selbstverständlich gibt es auch Fälle, die mir an die Substanz gehen. Das Baby, das von seinem eigenen Vater mit vierzig Messerstichen in der Wiege hingemetzelt wurde. Das Kissen blutdurchtränkt. Der Lokführer, der eine junge Frau überfahren hat und nicht mehr aufhörte zu zittern. Dem hilft es nicht, wenn man ihm sagt, dass die Frau das mit Absicht gemacht hat. Er hat sie nicht mit Absicht überfahren. Ihr Suizid hat sein Leben ins Wanken gebracht, vielleicht sogar zerstört. Der Film des Grauens läuft in einer Endlosschleife und kann nicht verarbeitet werden.

 

Warum ich zu den Menschen gehöre, die solche Eindrücke gut verarbeiten können, weiß ich nicht. Ich habe auch nicht gleich nach der Schule mit diesem Beruf begonnen; ich nahm einen Umweg über den Laufsteg. Dreizehn Jahre lang verdiente ich mein Geld als gut bezahltes Fotomodell in Berlin und London. Dann wechselte ich die Location und machte mich als Tatortreinigerin selbstständig. Heute blicke ich auf mehr Tatorte als auf Fotoshootings zurück.

Ich kann mir nichts Gegensätzlicheres vorstellen als diese beiden Berufe. Meine Wahl habe ich nie bereut. Ich lebe in keiner Scheinwelt mehr, sondern auf dem Boden einer oft gnadenlosen Realität. Das gefällt mir wesentlich besser als Glamour und Glitter. In meiner Zeit als Model kam es vor allem darauf an zu funktionieren. Als Tatortreinigerin funktioniere ich natürlich auch. Aber darüber hinaus ist mein Feingefühl gefragt. Darauf kommt es an. Das macht die Besten in meiner Branche aus.

Wenn ich mit Angehörigen zu tun habe, stelle ich meine Dienstleistung als Tatortreinigerin erst mal hintenan. Mit einem Todesfall klarzukommen ist für viele Menschen sehr schwer. Besonders, wenn es sich um einen Suizid handelt. Weil ich selbst in meinem Leben eine Reihe von Schicksalsschlägen erfahren habe, spüren die Angehörigen, dass ich nachempfinden kann, wie sie sich fühlen. Deshalb finde ich meistens auch die richtigen Worte. Gelegentlich merke ich, wie den Menschen förmlich ein Stein vom Herzen fällt. Endlich jemand, der sie versteht. Der sich vorstellen kann, wie sich das anfühlt, wenn im Wohnzimmer irgendwo neben dem Fernseher der Mann, der Bruder, der Schwager liegt. Erschossen. Und die Polizei hat geraten: »Gehen Sie da lieber nicht rein«, während die Nachbarn wissen wollen: »Was ist denn da los?« Am schlimmsten sind manchmal die Selbstvorwürfe. »Warum hab ich nicht? Hätt ich doch!«

Sollte man nicht doch reingehen? Wäre das nicht: ein letzter Dienst? Aber wenn man es sich nicht zutraut, wenn einem schon beim bloßen Drandenken mulmig wird – und woher soll jetzt Hilfe kommen? Wem kann man das zumuten, den Tatort zu reinigen? Wer ist diskret und vertrauenswürdig? Und wer macht das fundiert und mit dem gebotenen Feingefühl und Respekt?

»Sie? Eine Frau?«

»Ja, ich. Antje Schendel. Tatortreinigerin.«

Spurensuche in Ostberlin

Als ich zehn Jahre alt war, bekam mein Vater eine künstliche Niere, weil keine Spenderniere für ihn gefunden wurde. Dass man sich darum wirklich bemüht hat, möchte ich bezweifeln. Die Jahre davor war mein Vater immer krank. Als meine Eltern 1974 heirateten – ich war damals zwei Jahre alt –, ahnten sie noch nichts von dem Schicksal der schweren Krankheit. Ich selbst habe keine Erinnerung an meinen gesunden Vater. Deshalb ist der kranke Vater auch nichts besonders Trauriges für mich. Das war einfach so bei uns. Ich kannte es nicht anders.

Mein Vater war ein auffallend ausgeglichener Mensch und strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Ich musste mich schon sehr danebenbenehmen, um ihn wütend zu machen. Äußerst selten kam dann der lange rote Plastikschuhlöffel zum Einsatz. Bei meiner Mutter musste ich mich etwas weniger anstrengen, dafür blieb der Plastikschuhlöffel an seinem Platz neben der Garderobe. Meiner Mutter rutschte gelegentlich die Hand aus.

Im Rückblick würde ich sagen, dass ich meine wenigen Strafen wirklich verdient habe. Ein Musterkind war ich nämlich nicht, dazu war meine Neugier zu groß. Und doch gelang es mir niemals, meine Eltern gegeneinander auszuspielen. Was meine Erziehung betraf, waren sie stets einer Meinung oder gaben das in meiner Gegenwart zumindest vor. Heute, als zweifache Mutter, weiß ich, dass sie sich klug verhalten haben. In meinem Beisein wurde niemals ein Streit ausgetragen, so dass ich gar nicht weiß, ob es zwischen meinen Eltern überhaupt Streitpunkte gab.

 

Die schwere Krankheit meines Vaters belastete mich in keiner Weise. Meine Eltern hielten sie wahrscheinlich so gut wie möglich von mir fern. Oder es war eben normal, so normal, dass man nicht darüber sprechen musste. Andere Väter gingen einmal in der Woche kegeln, mein Papa fuhr zweimal in der Woche zur Blutwäsche ins Krankenhaus. Das war unser Alltag.

Schöner fand ich es natürlich, wenn Papa zu Hause war. Am allerschönsten war es, wenn wir zusammen bastelten oder irgendwelche Sachen reparierten. Mein Vater war immer sehr bedacht darauf, mir alles ganz genau zu erklären, da wurde der ehemalige Schlosser zum Lehrer. Papa hatte eine großartige Begabung, Wissen zu vermitteln. Seine Beispiele waren kindgerecht, und noch heute profitiere ich von den handwerklichen Kenntnissen, die er mir bei unseren gemeinsamen Basteleien beibrachte. Sehr gern schraubte ich mit ihm zusammen an unserem Trabi.

»Antje, gib mir mal einen Schraubenzieher – prima. Genau den brauch ich. Und jetzt die Knarre.«

Stolz reichte ich das Verlangte. Papa lobte selten, doch ich merkte es deutlich, wenn er zufrieden mit mir war.

Zuerst hatten wir einen cremefarbenen Trabi, später einen grünen. Den taufte ich auf den Namen Kermit, wie die Figur aus der Muppet Show. Die Sendung durfte ich immer im Westfernsehen kucken, das war in Ostberlin weit verbreitet.

In meiner Schulzeit hatte ich, wie in der DDR üblich, auch Handwerksunterricht, und später machte ich einige Praktika in Fabriken. Koch- und Nähunterricht waren seinerzeit Pflicht, und meiner Meinung nach gehört das heute noch auf den Lehrplan.