Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel
  2. Kapitel
  3. Kapitel
  4. Kapitel
  5. Kapitel
  6. Kapitel
  7. Kapitel
  8. Kapitel
  9. Kapitel
  10. Kapitel

PROLOG

Nur eine zuverlässige Frau, die sein Herrenhaus führt, immer da ist, wenn er nach Hause kommt und keine Fragen stellt - das sucht der hochmütige französische Arzt, Professor Edmond de Beychevelle. Die bescheidene Krankenschwester Julia geht auf diese unverschämten Forderungen ein und heiratet ihn. Sie hat gespürt, wie hilfsbereit und aufopfernd der Gutaussehende Edmond sein kann, als er sie nach einem Unfall pflegte. Sie ahnt, dass er nur Angst vor Gefühlen hat. Deshalb bemüht sie sich sehr, in Edmond einen Hauch von Zärtlichkeit zu wecken. Doch vergebens!

1. KAPITEL

Die Chaussee schlängelte sich am Canal du Midi entlang, durch feuchte, grüne Wiesen und schattige Wäldchen. Weitab von der Straße, versteckt hinter hohen Scheunen, standen große Bauernhäuser. Die Natursteinmauern glänzten im warmen Licht der untergehenden Oktobersonne. Abgesehen von Kühen und ein paar Pferden gab es wenig zu sehen in dieser Landschaft.

Bewegung in dieses Bild brachten lediglich die vier Mädchen auf Fahrrädern. Sie hatten an diesem Tag eine große Strecke hinter sich gebracht und waren nun müde. Die Campingausrüstung auf den Gepäckträgern wog schwer, und außerdem hatten sie sich verfahren.

Am Morgen hatten sie Carcassonne verlassen und waren fröhlich über den Canal du Midi in die Region Midi-Pyrénnées hinein auf den Campingplatz zu geradelt, den sie sich ausgesucht hatten. Aber nun war weit und breit kein Dorf in Sicht, die Dämmerung zog herauf, und sie wurden unsicher. Schließlich hielten die vier an, um auf die Landkarte zu sehen.

„Hier geht es nirgendwohin“, meinte ein großes, hübsches Mädchen, offenbar die Tonangebende der Gruppe. „Was wollen wir machen? Die ganze Strecke zurückfahren oder es weiter versuchen?“

Vier Köpfe neigten sich erneut über die Karte, ein roter, zwei blonde und ein unauffälliger, aschbrauner.

Das braunhaarige Mädchen meinte: „Irgendwohin muss diese Straße doch führen. Ich glaube, wir haben es nicht mehr weit.“ Sie sprach mit einer angenehmen Stimme, sanft und leicht zögernd.

Ihre drei Kameradinnen blickten wieder auf die Karte. „Du hast Recht, Julia. Lasst uns weiterfahren, bevor es dunkel wird.“

Das rothaarige Mädchen blickte sich um. „Es ist einsam hier, verglichen mit den Städten und Dörfern, die wir in den letzten Tagen gesehen haben.“

„Der Midi mit Ausnahme von Toulouse ist dünn besiedelt“, erwiderte Julia, „es ist überwiegend landwirtschaftliches Gebiet.“

Drei nachsichtige Blicke trafen sie. Julia war zart und ruhig und unaufdringlich, und sie wusste eine Menge. Sie liest zu viel, dachten die anderen ein bisschen mitleidig.

Julia wurde im Gegensatz zu den anderen Krankenschwestern an der Rostocker Ostseeklinik nur sehr selten eingeladen. Sie bewohnte ein winziges Appartement in einer tristen Straße in der Nähe des Krankenhauses. Sie hatte viele Freunde, denn sie war jederzeit bereit, den dienstfreien Tag mit jemandem zu tauschen, ohne große Umstände irgendetwas auszuleihen oder in letzter Minute irgendwo einzuspringen.

Das tat sie auch jetzt. An ihrer Stelle hatte eigentlich eine andere Schwester mitfahren sollen, aber die war plötzlich an einem Virus erkrankt. Da Radfahren und Camping zu viert mehr Spaß machten, waren die anderen auf sie verfallen.

Julia war auf diesen Ausflug nicht gerade erpicht gewesen. Sie hatte sich vorgenommen, in den zehn Tagen Urlaub ihr Zimmer neu zu tapezieren und einige Kunstgalerien zu besuchen.

Das Alleinsein war für Julia nichts Neues. Sie hatte eine einsame Kindheit und Jugend verlebt, weil ihre Eltern früh gestorben waren. Die Tante, bei der sie dann untergekommen war, hatte einen Mann geheiratet, der ihr nie viel Sympathie entgegenbrachte. Im Gegenteil! Im Verlauf der Jahre ließ er deutlich durchblicken, dass sie sich ein neues Zuhause suchen müsse, weil bei ihrer Tante kein Platz für drei Personen sei. Vielleicht wäre er anderer Meinung gewesen, wenn sie ein hübsches Gesicht gehabt hätte. Nun ja! Julia hatte ihre Tante seit mehr als drei Jahren nicht mehr gesehen.

„Auf dann!“ Annemarie warf ihr rotes Haar zurück und stieg wieder auf, gefolgt von Sylvie und Pia. Julia fuhr als letzte.

Die Sonne sank schnell. Wie ein Band schien die Straße vor ihnen zu liegen, aus der Ferne blinkten Lichter von einem Gehöft. Sie vertrieben das Gefühl von Einsamkeit und machten die vier Mädchen wieder fröhlich. Sie lachten und schwatzten und überlegten, was sie zu Abend essen wollten und wer mit dem Kochen an der Reihe sei.

Ein paar Minuten später rief Annemarie, die an der Spitze fuhr: „Seht mal! Da drüben links sind Lichter! Dort muss ein Haus sein!“ Sie hielt an, um besser sehen zu können.

Das ging zu schnell! Sylvie und Pia konnten nicht mehr bremsen, fuhren in sie hinein, und einen Augenblick später stieß auch Julia in den Knäuel. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihr Bein, dann spürte sie nichts mehr. Sie war mit dem Kopf gegen einen der noch zahlreichen alten Kilometersteine geschlagen.

Als Julia wieder zu sich kam, fühlte sie als erstes einen betäubenden Kopfschmerz. Und das Bein tat ungeheuerlich weh! Außerdem wurde sie getragen. Eine Männerstimme neben ihr sagte, man solle sie vorsichtig tragen. Mein Bein tut weh, hätte sie gern gesagt, aber sie konnte nicht sprechen. Sie riss die Augen auf, konnte aber nur ein kleines Stück Himmel zwischen hohen Bäumen und einen Lichtschein sehen.

Julia verlor wieder das Bewusstsein. So merkte sie nicht, dass die kleine Truppe ein Haus erreicht hatte, dass Annemarie den anderen die Tür öffnete. Sie nahm die schiere Größe und Schönheit der Eingangshalle nicht wahr, in die sie getragen wurde, und auch nicht die vielen Türen. Eine davon ging auf, und heraus trat ein Großgewachsener Mann, einige Blatt Papier in der Hand und einen unwilligen Ausdruck auf den ansprechenden Zügen.

Seine befehlsgewohnte Stimme brachte Julia ins Bewusstsein zurück, als er schroff fragte, weshalb er in seinem eigenen Haus belästigt werde.

Jemand muss das jetzt erklären! Julia wusste zwar, was sie sagen wollte, aber ihr Kopf war noch ganz durcheinander. Ihr Versuch, eine Erklärung abzugeben, wurde plötzlich von der schroffen Stimme unterbrochen, die nun direkt neben ihr erklang.

„Das Mädchen hat eine Gehirnerschütterung, und das Bein muss gerichtet werden. Eduard, bringen Sie sie in den Operationsraum. Ich muss mich wohl darum kümmern.“

Für einen Augenblick klärten sich ihre Sinne, und sie sagte mit heller Stimme: „Sie brauchen nicht so gefühllos zu sein. Geben Sie mir Nadel und Faden. Ich kann das selber in Ordnung bringen!“

Bevor sie erneut in Ohnmacht fiel, hörte sie noch schallendes Lachen.

In dieser Nacht pendelte Julia zwischen Schlaf und Wachen. Wenn sie die Augen öffnete, sah sie verschwommen jemanden an ihrem Bett sitzen. Er schenkte ihr keinerlei Beachtung, las, schrieb, las und schrieb wieder. Aus seinem strengen Gesichtsausdruck schloss Julia, dass er es war, der von einer Gehirnerschütterung gesprochen hatte.

„Ich habe keine Gehirnerschütterung“, sagte sie laut und wunderte sich, dass ihre Stimme schwankte.

Ohne ihr zu antworten, gab er ihr etwas zu trinken und befahl in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: „Schlafen Sie!“

Als Julia wieder aufwachte, war es dämmerig im Raum, obwohl es Tag war. Der Mann war fort. An seiner Stelle saß Annemarie und las in einem Buch.

„Hallo!“ sagte Julia schon viel kräftiger. Ihr Kopf und das Bein schmerzten noch, aber sie kam sich nicht mehr wie in einem Traum vor.

Annemarie trat an ihr Bett: „Julia! Geht es dir besser? Du hast uns einen gehörigen Schreck eingejagt!“

Ohne den Kopf zu bewegen, blickte Julia sich im Raum um. Es war ein wunderschönes, herrschaftliches Zimmer. Die Wände waren mit Seidentapeten verkleidet, die Möbel waren aus Palisanderholz und glänzten vor Alter und Politur. Das Bett, in dem sie lag, hatte einen gerafften Vorhang und war von einer seidenen Decke bedeckt, deren Schönheit nur durch die Schiene beeinträchtigt wurde, die ihr verletztes Bein stützte.

„Was ist passiert?“ fragte Julia. „Da war doch so ein unfreundlicher Mann ...“

Annemarie kicherte. „Du hättest dich hören sollen! Das ist ein phantastisches Haus hier, und er sieht unglaublich gut aus!“

Julia schloss die Augen. „Was ist passiert?“

„Wir sind alle Übereinandergefallen, und du hast dir das Bein an einem Pedal aufgerissen. Ein böser, tiefer Schnitt. Dann bist du auf einen Kilometerstein gefallen und hast dich k. o. geschlagen.“

„Seid ihr gesund, du und Sylvie und Pia?“

„Ja. Wir haben kaum einen Kratzer abbekommen. Es tut uns so leid!“ Sie tätschelte Julias Arm. „Ich muss Professor de Beychevelle sagen, dass du aufgewacht bist.“

Julia hielt die Augen geschlossen. „Was für ein ungewöhnlicher Name!“ Als jemand ihre Hand ergriff und den Puls fühlte, öffnete Julia wieder die Augen. Ein Mann, vermutlich der Professor, stand vor ihr. Er fragte nach ihrem Namen.

„Julia Schneider.“ Seine strengen Mundwinkel zuckten leicht. Vielleicht fand er ihren Namen so seltsam wie sie den seinen. „Es geht mir besser, danke“, fuhr sie fort. „Es war sehr freundlich, dass Sie letzte Nacht Wache bei mir gehalten haben.“

Aus irgendeiner Tasche hatte er einen Augenspiegel gezogen. „Ich bin Arzt, Mademoiselle Schneider. Ein Arzt hat für seine Patienten da zu sein.“ Sorgfältig und schweigsam untersuchte er ihre Augen und sagte dann: „Ich möchte mir das Bein ansehen.“

Annemarie zog die Decke zurück und wickelte den Verband ab, der Julias Bein vom Knie bis zum Knöchel bedeckte.

„Haben Sie genäht?“ fragte Julia und hob den Kopf an, um besser sehen zu können.

Seine feste Hand drückte sie zurück. „Seien Sie nicht leichtsinnig, bewegen Sie den Kopf nicht! Ja, ich habe die Wunde in ihrem Bein gereinigt und genäht. Es ist ein tiefer Riss. Sie werden einige Tage liegen müssen.“

„Das geht nicht!“ rief Julia aus. „In drei Tagen habe ich wieder Dienst!“

„Unmöglich. Sie werden hierbleiben, bis ich Sie für entlassungsfähig halte.“

„Es muss doch ein Krankenhaus geben!“ In ihrem Kopf begann es zu pochen.

„Als Krankenschwester sollten Sie wissen, dass Sie absolute Ruhe brauchen.“

Wieder überrollte sie dieses seltsame Gefühl, als läge sie im Nebel, könnte die Menschen wohl hören, aber nicht erkennen. „Sie sind bestimmt nicht verheiratet“, murmelte sie, „und ich glaube, Sie mögen mich nicht.“ Sie schloss die Augen und schlief wieder ein.

Als Julia erwachte, saß Sylvie an ihrem Bett. Sie lächelte schwach. „Ich fühle mich schon viel besser, Sylvie.“

„Fein. Möchtest du eine Tasse Kakao?“

Der Kakao schmeckte wundervoll. Auch das Brot mit Butter, das ihre Freundin ihr anbot, aß sie mit Genuss und war nach dem letzten Bissen gleich wieder eingeschlafen.

Erst am frühen Abend wachte Julia wieder auf. Die Leselampe brannte, und der Professor saß und schrieb.

„Haben Sie keine anderen Patienten?“ fragte Julia.

Er blickte auf. „Doch. Möchten Sie etwas trinken?“

Julia hatte das Tablett neben ihrem Bett schon gesehen. „Ja gerne“, sagte sie, „aber ich kann mich selbst versorgen.“

Er ignorierte die Bemerkung, hob ihren Kopf sanft an und hielt ihr das Glas an die Lippen. Als Julia ausgetrunken hatte, legte er sie wieder hin und erklärte: „Sie können jetzt ihre Freundinnen für fünf Minuten sprechen.“ Dann verließ er leise den Raum.

Die drei Mädchen huschten herein und stellten sich ans Bett.

Pia ergriff das Wort. „Es geht dir besser, sagt der Professor. Wir fahren übrigens morgen früh zurück.“

Julia wollte sich aufrichten, wurde aber sofort liebevoll wieder in die Kissen gedrückt. „Ihr könnt mich doch hier nicht allein lassen!“ rief sie aufgeregt. „Er mag mich nicht! Warum bringt man mich nicht in ein Krankenhaus, wenn ich schon bleiben muss? Wie fahrt ihr überhaupt zurück?“

„Eduard, der ist hier eine Art Diener, war zufällig dabei, als wir alle übereinander fielen. Er wird uns nach Toulouse zum Busbahnhof fahren.“

„Er ist recht nett, der Professor“, setzte Sylvie hinzu. „Ein bisschen schroff, aber der perfekte Gastgeber. Besonders viel hat er vermutlich nicht für uns übrig, aber er ist schließlich auch schon ziemlich alt, weit über vierzig, glaube ich. Er liest oder schreibt ständig, und er fährt auch oft fort. Eduard meint, dass er auf seinem Gebiet ein bedeutender Fachmann ist.“ Sie lachte leise. Eduard stammt aus Lothringen und spricht ausgezeichnet Deutsch. Er lebt aber schon seit vielen Jahren hier. Übrigens ist er mit der Köchin verheiratet. Es gibt auch eine Wirtschafterin hier. Sie sieht viel strenger aus, als sie tatsächlich ist.“

„Und vier Hausmädchen und einen Gärtner gibt es“, ergänzte Pia. „Der Professor muss sehr reich sein.“

„Das wird bestimmt alles in Ordnung gehen“, versicherte Annemarie. „Außerdem bist du bald wieder bei uns. Sollen wir etwas für dich tun?“

Julias Kopf begann wieder zu schmerzen. „Bitte, sagt meiner Vermieterin, sie möchte Felix füttern, bis ich zurückkomme. In meinem Portemonnaie ist noch Geld. Gebt es ihr bitte, damit sie Futter kaufen kann.”

„Machen wir. Wir gehen in deine Wohnung und sehen nach ihm.”

„Habe ich noch genügend Geld für die Rückfahrt.”

Sylvie zählte nach. „Ja. Du brauchst ja nur die Fahrkarte für den Fernbus. Eduard bringt dich bestimmt bis zum Busbahnhof.“ Sie trat näher. „Wir lassen dich wirklich nicht gerne hier, Julia, aber es lässt sich nicht ändern.“

Julia brachte ein Lächeln zustande. „Ich sage euch Bescheid, wenn ich zurückkomme.“

Beinahe feierlich schüttelten die drei Mädchen ihr die Hand. „Wir fahren morgen ziemlich früh ab, und der Professor sagt, wir sollen dich schlafen lassen.“

Nachdem ihre Freundinnen gegangen waren, lag Julia eine Weile still. Sie war so müde, dass sie nichts fühlte. Als der Professor später hereinkam und ihr ein Schlafmittel reichte, protestierte sie nicht einmal.

Sie schlief gleich ein und merkte nicht, dass er noch im Zimmer blieb und von seinem Stuhl aus nachdenklich zu ihr hinübersah.

Erst am späten Vormittag wachte Julia auf.

Neben ihrem Bett stand Laure, die Frau von Eduard, mit einem Tablett. Es gab Kaffee und Rührei. Da Laure ein wenig deutsch sprach erfuhr sie, dass ihre Freundinnen abgereist waren.

Als Laure hinausgegangen war, lag Julia im Bett und dachte nach. Sie fühlte sich jetzt viel klarer. Ganz so klar aber wohl doch nicht, denn sonst wäre sie kaum auf den Gedanken verfallen, aufzustehen, sich anzuziehen und das Haus zu verlassen. Sie konnte nicht an einem Ort bleiben, an dem man sie nicht haben wollte! Das war die gleiche Situation wie mit ihrem Onkel.

Vielleicht liegt es ja an mir, dachte sie unglücklich. Sie war ein ganz gewöhnlicher Mensch, das wusste sie. Vielleicht war sie aus diesem Grunde eher ein bisschen schüchtern. Früh hatte sie gelernt, möglichst wenig auf sich aufmerksam zu machen. Andererseits war sie gescheit und besaß eine natürliche Freundlichkeit, die ihr viele Freunde gewonnen hatte. Der Professor gehört nicht dazu, das spürte sie.

Je länger sie über ihren Plan nachdachte, desto besser gefiel er ihr, und ihr Fieber ließ ihn leichter durchführbar erscheinen.

Vorsichtig richtete sie sich auf. Die Kopfschmerzen hämmerten, aber sie beachtete sie nicht und versuchte, ihr verletztes Bein zu bewegen. Das war sehr viel schmerzhafter als erwartet. Aber sie hielt durch, bis sie auf der Bettkante saß, den gesunden Fuß am Boden, den verletzten auf dem Bett. Aber als sie jetzt das kranke Bein über die Bettkante hängen ließ, wurde ihr vor Schmerz übel.

„O Gott!“ rief Julia verzweifelt aus.

„Vielleicht kann ich erst mal helfen?“ Der Professor war lautlos eingetreten und eilte mit großen Schritten auf Julia zu.

„Ich muss mich übergeben, jammerte Julia, und da war es auch schon passiert. Wenn sie sich nicht so elend gefühlt hätte, wäre sie vor Scham gestorben.

Der Professor sprach kein Wort. Er hob Julia auf, legte sie zurück ins Bett und das verletzte Bein in die Schiene. Dann holte er aus dem angrenzenden Badezimmer Waschlappen und Handtuch und reinigte Julias Gesicht.

Sie presste mühsam hervor: „Es tut mir so leid! Wenn ich doch mit den anderen gefahren wäre!“

„Warum wollten Sie aufstehen?“ Seine Frage klang weder ärgerlich noch besonders interessiert.

„Ich wollte nur ... Ich dachte, ich könnte mich anziehen, und ich habe ja genug Geld - ich wollte nach Hause.“

Er läutete nach Eduard, bat um Kaffee für zwei Personen und wartete geduldig, bis Eduard und ein Dienstmädchen den Raum gesäubert und wieder verlassen hatten. Dann erst sagte er: „Und jetzt werden wir uns ein wenig unterhalten.“

Er zog den Stuhl heran, reichte Julia eine Tasse Kaffee und schenkte sich dann selber ein. „Wir wollen ganz offen sein, Mademoiselle.“

Julia betrachtete ihn. Er sprach wie ein Professor, aber er sah nicht so aus. Er war groß und hatte dichtes dunkles Haar, in das sich einzelne graue Strähnen mischten. Genau der Typ Mann, dachte Julia, den jedes Mädchen heiraten möchte. Pech, denn offensichtlich war er nicht aufs Heiraten versessen.

„Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“ forderte der Professor. „Ihr Gesundheitszustand erlaubt es Ihnen doch, mir zuzuhören?“

Julia nickte verlegen.

„Sie sollten sich darauf einstellen, Mademoiselle Schneider, noch zehn vielleicht vierzehn Tage hier zu bleiben. Sie sind im Augenblick nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. In etwa fünf bis sechs Tagen werde ich die Fäden in ihrem Bein ziehen. Danach dürfen Sie am Stock ein wenig spazieren gehen. Wenn die Kopfschmerzen nachlassen, dürfen Sie ab morgen täglich eine Zeitlang aufsitzen. Bitte teilen Sie uns mit, wenn Sie einen Wunsch haben. Mein Haus steht zu ihrer Verfügung. Ich habe eine Bibliothek, aus der Eduard Ihnen alle Bücher bringen wird, die Sie interessieren. Allerdings möchte ich Ihnen raten, in den nächsten Tagen noch nicht zu lesen.

Warm angezogen und in Decken eingewickelt, können Sie auch gerne im Garten sitzen. Während der nächsten drei bis vier Tage sollten Sie nicht fernsehen, das würde ihre Kopfschmerzen verschlimmern. Sie müssen entschuldigen, dass ich Ihnen nicht den ganzen Tag Gesellschaft leisten kann. Ich bin ein vielbeschäftigter Mensch, ich habe meine Arbeit und viele Interessen. Selbstverständlich werde ich Sie behandeln wie jeden meiner Patienten. Sobald ich Sie für transportfähig halte, werde ich dafür Sorge tragen, dass Sie wieder nach Hause reisen können.“

Erstaunt hatte Julia ihm zugehört. Noch nie in ihrem Leben war sie jemanden begegnet, der in solcher Weise gesprochen hätte! Es war, als läse man den Beipackzettel in einer Arzneischachtel.

Eines war völlig klar: Der Professor bot ihr Gastfreundschaft an, aber sie sollte ihm nicht in die Quere kommen! Er wollte sein geordnetes Leben nicht gestört wissen. Seltsam! Ja, wenn Sie Annemarie, Sylvie oder Pia gewesen wäre! Das waren alles hübsche Mädchen ... Aber wie sollte Julia Unruhe in dieses Leben bringen?

„Ich werde Ihre Anweisungen befolgen“, erwiderte sie. „Ich werde Ihnen nicht im Wege sein, Sie werden mich gar nicht bemerken.“ Dann setzte sie hinzu: „Es tut mir leid, dass mir übel wurde und ich alles beschmutzt habe!“

Er stand auf. „Bei Gehirnerschütterung ist mit Übelkeit zu rechnen. Es wundert mich, dass Sie als Krankenschwester daran nicht gedacht haben.“

Nachdem er gegangen war, legte sie sich in die Kissen zurück. Sie war müde. Aber bevor sie die Augen schloss, nahm sie sich fest vor herauszufinden, wieso der Professor so sonderbar geworden war: Ich werde mit Eduard Freundschaft schließen!

Julias Gesundheitszustand besserte sich zusehends. Am folgenden Tag erneuerte der Professor den Verband, und nachdem Laure sie in einem viel zu großen Morgenmantel gehüllt hatte, trug er sie zu einem bequemen Lehnsessel am offenen Fenster. Der Tag war wunderschön. Sie hatte vom Sessel aus einen herrlichen Blick auf den ausgedehnten, in schönsten Herbstfarben prangenden Garten.

Absichtlich hatte Julia wenig gesprochen, während der Professor ihr Bein versorgte. Er hatte sich nach ihrem Befinden erkundigt, worauf sie ihm höflich und kurz geantwortet hatte. Nun war er wieder fort, und trotz seiner Einsilbigkeit fühlte sie sich verlassen

In kleinen Schlucken trank Julia die warme Milch, die Laure ihr gebracht hatte, und schaute in die Landschaft hinaus. Von ihrem Platz aus konnte sie die Straße sehen und ein Stück der Auffahrt. Gerade jetzt hörte sie ein Auto starten und sah es kurz darauf zur Straße schießen: einen Rolls Royce! Offenbar hatte der Professor einen Freund mit Vorliebe für schnelle Autos! Es müsste nett sein, einen Bekannten zu haben, der einen Rolls Royce fährt, dachte Julia. Noch netter wäre es, selbst darin zu fahren.

Beide Wünsche sollten in Erfüllung gehen.

Wie üblich kam der Professor am folgenden Morgen nach dem Frühstück, um ihr Bein zu versorgen. Anders als sonst aber ging er nicht sofort. Er unterhielt sich mit Madame Bouvier, die ihn begleitet hatte, und wandte sich dann an Julia.

„Ich bringe Sie nachher ins Krankenhaus nach Carcassonne. Ihr Kopf soll geröntgt werden. Ich nehme an, dass die Gehirnerschütterung keinen Schaden hinterlassen hat, aber ich möchte absolut sichergehen.“

Julia warf ihm aus den Falten des viel zu großen Morgenrockes einen Blick zu. „In dieser Aufmachung?“

„Warum nicht? Madame Bouvier wird Ihnen behilflich sein.“ Weg war er, bevor sie antworten konnte.

Madame Bouviers Gesicht erhellte sich, nachdem sich die Tür hinter dem Professor geschlossen hatte. Sie holte Kamm, Bürste und Make-up hervor und zog ein langes Seidenband aus einer Tasche. Ungeachtet Julias Protest bürstete sie ihr das Haar und flocht es sorgfältig. Danach hielt sie ihr den Spiegel, während Julia ein wenig Make-up auflegte, und raffte schließlich geschickt den Morgenmantel um Julias schlanke Taille.

Als hätte er sein Stichwort bekommen, klopfte in diesem Augenblick der Professor an die Tür, hob Julia hoch und trug sie nach unten, wo Eduard die Tür offenhielt. Der Professor sagte etwas halblaut, und Eduard eilte, um die Tür des Rolls Royces zu öffnen. Und so fand Julia sich plötzlich auf dem Rücksitz des phänomenalen Autos wieder. Der Professor setzte sich zu ihrer Verblüffung ans Steuer.

Julia war zu überrascht, um höflich zu sein. „Das ist doch unmöglich Ihr Auto!“

Der Blick, den er ihr zuwarf, war wenig freundlich. „Warum nicht?“ fragte er kühl.