Der Autor

Sven Heuchert – Foto © privat

SVEN HEUCHERT wurde 1977 im Rheinland geboren und lebt bei Köln. 2015 erschien sein Storyband Asche; er veröffentlichte außerdem in zahlreichen Literaturzeitschriften. Sein Debüt Dunkels Gesetz wurde von der deutschen Presse begeistert aufgenommen und mit dem Bellmer Debütpreis ausgezeichnet. Alte Erde ist sein zweiter Roman.
Von Sven Heuchert ist in unserem Hause bereits erschienen: Dunkels Gesetz
www.sven-heuchert.de

Das Buch

Wouter Bisch ist ein in die Jahre gekommener Revierjäger. Er kennt die Wälder in der abgelegenen Gegend rund um Vierheilig und Altglück, hat dort zahlreiche Jagdgäste geführt. Nach dem Verlust seines Sohnes sind sie für ihn Rückzugsort geworden. Doch durch den Bau des Warenlagers eines Internetversandriesen verändert sich die Region von Grund auf.
Auch Karl Frühreich ist von den Umwälzungen betroffen. Dann kehrt sein Bruder Thies nach 14 Jahren überraschend in das Elternhaus zurück, im Schlepptau eine junge Frau namens Monique und einen Koffer voller Geld. Karl verfällt Monique vom ersten Moment an. Totgeschwiegene Verletzungen und alte Rivalitäten brechen auf. Die Wege der drei Männer kreuzen sich, und es entsteht eine Dynamik, die keiner mehr Kraft oder Willen hat aufzuhalten.

Sven Heuchert

Alte Erde

Roman

Ullstein

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Autorenfoto: privat
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ISBN 978-3-8437-2215-5

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Motto

»There are some who can live without wild things and some who cannot.«
Aldo Leopold

»Hier ist das Schweigen im Walde heimisch, das Schweigen, das aus tausend kleinen Stimmen gewebt ist, das flüstert und tuschelt und raunt und kichert, murrt und knirscht, das den einen so ängstigt und den anderen so beruhigt.«
Hermann Löns

»And always there was a cold place inside me, like frost on the shaded north side of the barn roof – a cold place that never melted, no matter how bright the day.«
Jim Wayne Miller

1
Bisch

Ich wartete in der Dämmerung. Leise. Achtsam. Lauschte jedem Windstoß, der durch die Halme strich. Jedem Zweig, der umknickte. Immer wieder ließ ich den Blick über die gleichförmigen, gleichfarbigen Felder gleiten. Stunden vergingen. Schatten wurden länger. Der Sonnenuntergang verfärbte den Himmel, bis das Mondlicht alles in nächtliches Blau tauchte.


Ich hörte seine Schritte auf dem trockenen Gras. Aus der Ferne wirkte er wie ein kleiner Hund. Dann erkannte ich die Lunte und das Schnüren, den typischen, eng geführten Trab. Als ich anlegte, schlug ich mir den Kammerstängel gegen das Jochbein. Ich spürte den Schmerz nicht. Ich verfolgte den Fuchs, der sich dunkel vorm Maisfeld abzeichnete. Mein Zeigefinger zitterte, als ich ihn auf den Abzug legte.


Das Gefühl vor dem Schuss, bei Ansicht, wie das Tier dasteht, ruhig und stolz, nichts von seinem Schicksal ahnend – dieses Gefühl ist mit hohem Fieber vergleichbar. Der Körper reagiert mit Zittern, Hitzewallungen, mit Übelkeit. Der Geist ist jedoch auf eine seltsame Art und Weise hellwach. Die Sinne geschärft. Wenn die Kugel den Lauf erst einmal verlassen hat, wird sie keiner zurückholen. Die ganze Aufregung, das Körperliche – all das legt sich in der Sekunde, in der du den Abzug betätigst. Eine entschlossene Bewegung. Danach kannst du nichts mehr am Geschehen ändern. Du wirst ruhig, atmest aus. Ein Gefühl der Erlösung bringt alles wieder ins Gleichgewicht. Zielen, repetieren, das ist kalt, technisch. Eine Abfolge erlernter Tätigkeiten. Aber sich ein Leben zu nehmen, daran ist nichts kalt, nichts technisch.


Als ich vor dem Fuchs stand, auf den blutverschmierten Balg hinabblickte, wie er da ausgestreckt im halbhohen Gras lag, die Augen noch offen, da fühlte ich mich so einsam wie nie zuvor. Ich wendete den Blick ab. An den Eiben, die am Feldrand standen, hingen schon die Arilli – kleine, fruchtig rote Blütenperlen. Ein scharfer, stechender Gestank stieg mir in die Nase – der Fuchs, der Blase und Drüsen das allerletzte Mal entleert hatte. Mein Vater legte mir seine Hand auf die Schulter, ich hatte ihn nicht kommen gehört. Wir standen eine Weile schweigend da, bis er den Fuchs an der Lunte hochhob und wegbrachte.


Ein paar Stunden später rief er mich ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand eine Flasche, in der sich eine grüne Flüssigkeit befand. Er schraubte den Verschluss ab, goss zwei Schnapsgläser voll und nickte mir zu. Den Geschmack werde ich nie vergessen: wie das Luftholen auf einer blühenden Sommerwiese. Porst, damit sei der Schnaps gemacht, eine Pflanze, die besonders gut in Moorgebieten gedeihe und über deren Wirkung man nicht endgültig Bescheid wisse. Bevor er mich aus dem Zimmer schickte, sagte er noch: Wo der erste Vogel des Morgens hinfliegt, wo der Wind herkommt, wo die Spitze deines Messers hinzeigt – an dem Punkt, wo sich diese drei Linien überschneiden, wird der Fuchs erscheinen.


In dieser Nacht hatte ich einen Traum: Aus meinen Fingerknochen wuchsen Sprossen, deren Bündel sich um meine Arme, dann um den ganzen Körper legten. Sie trugen mich aus dem Fenster hinab in die Erde. Wurzeln durchdrangen meine Haut, bohrten sich ins Fleisch, zogen mich tiefer und tiefer. Ich wachte auf, und für einen Moment glaubte ich, das vom Blut noch nasse Fell am Gaumen zu spüren. Als würde ich den Fuchs aus mir herauswürgen, ihm so neues Leben einhauchen.


Über die Jahrzehnte hinweg habe ich unzählige Füchse erlegt. Ich sehe sie alle vor mir: eine lange Strecke aus Balgen und erloschenen Raubtieraugen. Doch nie fühlte es sich so an wie bei diesem einen, bei diesem ersten Fuchs. Das klopfende Herz. Der Schuss. Die Stille danach. Das Begreifen des Todes. Die Einsamkeit, die einen dabei überkommt. Vielleicht sucht man bei jeder Jagd immer wieder nach diesem einen Gefühl.


Das rote Licht des Anrufbeantworters blinkt. Ich weiß, dass es Ringhofer ist. Ich habe die Nachricht mitgehört, die er aufs Band gesprochen hat. Meine Hand lag schon auf dem kalten Plastik des Hörers, aber ich konnte nicht abnehmen. Umgehend solle ich mich bei ihm melden, es sei dringend, sagt er mit dröhnender Stimme. Jagdgäste. Er wird Jagdgäste bringen. Menschen aus den Städten jenseits des Tals, denen er die Vertragsunterschrift für ein lukratives Geschäft schmackhaft machen will. Es ist alles sehr einfach. Nach dem Ausleben des Beutetriebs fallen Verhandlungen leichter. Es wären nach langer Zeit die ersten Gäste.


Früher kamen sie mehrmals im Jahr. Aus Frankreich, der Schweiz, den Vereinigten Emiraten. Kapital vermehrt sich auf der ganzen Welt. Globalisierung. Ringhofer hat die Parzellen vor einem Vierteljahrhundert zu einem günstigen Preis erworben. Seitdem kümmere ich mich darum, als wäre es mein eigenes Land. Jahre sind gekommen und gegangen. Nichts hat sich geändert. Geschäfte werden immer noch von Menschen abgeschlossen, die sich beeindrucken, beeinflussen lassen. Die Vertrauen benötigen. Ringhofer weiß, wer gemeinsam mit ihm einen Rothirsch erlegt hat, der wird nicht zögern.

Es ist sechs Uhr morgens. Ich lösche die Nachricht vom Anrufbeantworter und sehe aus dem Küchenfenster. Morgenletzt. Feiner Dunst über den Baumkronen. Einmal, es ist schon lange her, stiegen von der Wiese vor dem Haus Glühwürmchen auf. Pulsierende Lichtpunkte, die sich von den Spitzen der Grashalme lösten. Es müssen Abertausende gewesen sein.

2

Wallhecken friedeten die Felder seitlich der Straße ein. In den Schlaglöchern stand Regenwasser. Krähen hockten auf Oberleitungen.

Sie hatten vor einer halben Stunde die Stadt verlassen. Thies hielt sich an das Tempolimit. Nach dem Ortsschild Vierheilig trat er aufs Gas und überholte einen Kieslaster. Er warf einen Blick auf den Koffer, der zwischen ihren Schenkeln stand. Sie hatte beide Hände über den Griff gelegt.

»Weiß nich’, was ich davon halten soll«, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. »Ich glaub, das ist ’ne beschissene Idee.«

»Die sehen, dass wir frisch sind, egal, wo wir hingehen.« Er nahm ihr die Zigarette aus der Hand, machte einen Zug und schnippte sie aus dem geöffneten Seitenfenster. »Plappern hier, plappern da, eins führt zum anderen, glaub mir. Bei Lüghausen, da hat so ’n Typ mit mir an der Säge gestanden, kein Dummer, wollte hoch hinaus, hat aber alles nicht so geklappt, war nichts mit großer Karriere, und dann isser eben auf ’n anderen Trichter gekommen.« Er fingerte eine neue Zigarette aus der Schachtel und nahm das Feuerzeug vom Armaturenbrett. »Hat mit ’nem Belgier zusammen Geldautomaten gesprengt, Gas reinlaufen lassen und gib ihm – lief gut, die hatten’s raus, wann und wo, wie man am besten wegkommt, Tour durch die Provinz, knapp zweihundert Riesen rumgekommen.« Er grinste. »Ist mit seiner Hübschen nur noch in die feinsten Restaurants, richtig auf die Kacke hauen, Schampus für paar Hundert Euro … Gab dann Ärger wegen ’ner Rechnung, kleine Sache, er aber direkt Laschen verteilt, und was machen die Flachwichser? Rufen die Schmier an, und ’n Tag später stehen die bei dem vor der Tür. Der die Bude voller Kram, Fernseher, Klamotten, alles nagelneu verpackt, das Zeug ist richtig Kohle wert, und die Bullen sind auch nicht ganz dumm. Stellen Fragen, weil offiziell isses ’n Hartzer, und dann finden die in der Küche Propangas und Acetylen, und so ’n Zeug haste nicht einfach so rumstehen, nicht in der Menge jedenfalls. Ende vom Lied ist, die buchten den für ’n paar Jahre ein.« Er schüttelte den Kopf. »Dummheit ist das. Brauchst nur die Füße stillhalten. In paar Wochen reden die Leute über irgend ’n anderen Scheiß, da jagt sich ’n abgedrehter Kanake aufm Weihnachtsmarkt hoch.«

Sie griff nach den Zigaretten, klappte die Schachtel auf und tippte auf die Filter. »Was ist das für ’n Typ, dein Bruder?«

»Hat paar Jahre in ’ner Hütte am See gelebt, ohne Strom, ohne alles. Weiß keiner genau, was der da draußen gemacht hat. Zu Gott gefunden vielleicht. Mutter wurde krank, da isser zurück.« Er wendete den Blick kurz von der Straße ab und sah sie an. »Das Letzte, was ich gehört hab, ist, dass er’s ’nem Oberarzt lang und dreckig besorgt hat.«

»Warum das?«

»Hat Mutter gesteckt, dass sie’s nur noch ’n halbes Jahr macht. Hatte Karlchen Glück, ’s gab nur Bewährung, weil er vorher ’n unbeschriebenes Blatt war.«

Sie schüttelte den Kopf. »Noch ’n Irrer.«

»Steck das Ding weg«, sagte er und nickte Richtung Koffer. »Nachher geraten wir in ’ne Verkehrskontrolle.«

»Verkehrskontrolle? Hier?«

»Ich hab gesagt, steck das Ding weg.«

Sie stellte den Koffer in den Fußraum.

Nach einem Weiler, der aus windschiefen Fachwerkhäusern und einer verfallenen Papiermühle bestand, hielt er am Straßenrand. »Gib mir den Koffer.«

Sie sah ihn an und leckte sich über die Lippen.

»Mach nich’ rum.« Er lehnte sich über den Beifahrersitz und griff zwischen ihre Beine. »Gib’ mir einfach den Koffer.«

Sie beobachtete ihn im Rückspiegel und schaltete das Radio an. Ein Moderator verlas die Nachrichten. Seine Stimme klang vertraut. Thies schlug den Kofferraum zu, setzte sich hinter das Steuer und startete den Motor. Dann schaltete er das Radio aus.

3
Thies

Das erste Mal hab ich sie an der Theke vom Stüffje gesehen. Sie saß hinten in der Ecke, wo die Fußballwimpel hängen, gleich neben dem Zapfhahn. Sie ist mir direkt aufgefallen, wie sie so dasaß und alles. Die Tresenschwalben, die sonst da rumhängen, wirkten billig gegen sie. Zu viel Schminke, und dann die Hände. An den Händen kannst du ’s sehen, da nutzt kein Nagellack und keine Creme mehr was. Die Hände sagen dir alles, was du wissen musst. Keiner hält es lange bei denen aus. Ist nicht so, dass ich nicht mit einer von denen auch schon was am Laufen hatte – ist schließlich der Grund, warum die am Tresen sitzen. Weil sie ’n Schwanz abgreifen wollen, da kann jeder sagen, was er will. Denen brauchst du jedenfalls keine Lügen erzählen. Und wenn du genug getankt hast, dann gehst du mit denen mit, aber wenn du fertig bist, fühlt es sich nie richtig an. Nie so, wie es sein sollte nach ’nem Fick. Bei Monique, da war’s was anderes. Wie sie dasaß, die Zigarette hielt. Wenn sie einen Zug machte, spreizte sie den kleinen Finger ab. Dann hat sie dich durch den Dunst angesehen. Mich hatte ’ne Frau noch nie so angesehen. Als wäre ich der einzige Mann auf der Welt. Ich hab sofort geschnallt, dass sie was Besonderes is’. Keine von denen, die drauf warten, dass sie für dich die Schere machen dürfen.

4

Wouter Bisch schob die Gardine zur Seite. Die Sommerlinde neben der Einfahrt warf erste Schatten im dunstigen Morgenlicht. Raureif glitzerte auf den Wiesen vor dem Haus. Er betrachtete den verschwindenden Abdruck seiner Hand auf dem Fensterglas.


Das Wasser kochte. Er nahm den Topf vom Herd und schraubte den Verschluss von der Kaffeedose. Einen Fingerbreit Pulver. Sprudelnd heißes Wasser bis zum Eichstrich. Dann hob er ihre Tasse aus dem Spülgitter und sah auf die Postkarte, die mit einem Magnetpin an der Kühlschranktür befestigt war. Die Buchstaben sauber und gerade hintereinander aufgereiht. Den Text kannte er auswendig.

Ich schreibe euch aus Tiflis. Morgen geht es weiter nach Ushguli. Wir werden die Route durch die Südwand nehmen, wie wir es geplant hatten. Wir sind gut vorbereitet.
Ich denke an euch

Marius

Er zog die Karte unter dem Pin hervor. Die Vorderseite zeigte ein zerfurchtes Bergmassiv. Hinter dem überwechteten Firngrat das Glühen eines Sonnenuntergangs. Die Ecken der Karte waren geknickt. Das Papier hatte den Glanz verloren. Er schloss die Augen, spürte das Gestein unter den Händen, sah das Eis, das sich vor ihm auftürmte. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Er drehte die Postkarte um, schob sie unter den Pin und gab Sahne in den Kaffee. Dann stieg er langsam die Treppe hinauf. In den Räumen oben war es stickig. Die Luft roch nach getragener Wäsche. Sämtliche Fenster waren verschlossen. Jalousien zugezogen. Bisch wartete auf der letzten Stufe, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.


Ihre Silhouette zeichnete sich unter der Decke ab. Das lange Haar lag in Strähnen auf den Kissen. Ihr Gesicht eine konturlose Fläche im Halbdunkel. Er stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab und blieb neben dem Bett stehen.

»Ich bin wach.«

Er streckte seine Hand aus, ließ sie auf ihrer Hüfte liegen. Sie zog sich die Decke über die Schultern.

»Hier, trink erst mal …«

»Musst du raus?« Sie schob sich ein Kissen in den Nacken und umschloss die Tasse mit beiden Händen.

»Ich muss nach den Fallen sehen.«

»Nimmst du Avon mit?«

Er streichelte ihren Unterarm. »Muss ich nicht.«

»Gut«, sagte sie leise und starrte in die Dunkelheit.


Unten im Arbeitszimmer öffnete er das Fenster über dem Schreibtisch und blickte über den flach abfallenden Hang auf die weitläufige, L-förmige Wiese, die das Haus umgab. Am Ende der Wiese begann der Wald. Zuerst Dickungen, deren Zweige bereits ein geschlossenes Kronendach bildeten, danach stärkeres Baumholz. Bisch atmete die kalte, klare Luft, spürte sie auf Brust und Nacken. Nachdem er das Fenster geschlossen hatte, setzte er sich in den Ledersessel und zog die Schublade auf. Das in braunes Nubuk gebundene Fotoalbum war der einzige Gegenstand, den er noch aufbewahrte. Er schlug die erste Seite auf und las die Widmung. Ein paar Minuten lang starrte er auf die Schrift. Dann klappte er das Album zu, stand auf und zog seinen Schlüsselbund aus der Westentasche.


Der Doppelbartschlüssel war fast so lang wie eine Handkante. Er öffnete den Waffenschrank, nahm den Drilling aus der Halterung, überprüfte Sicherung und Rückstecher. Die Munitionskiste stand im Regalfach neben den Kurzwaffen. Er füllte seine Umhängetasche mit Schrotpatronen und Flintenlaufgeschossen, schulterte die Waffe und verschloss die Tür zum Arbeitszimmer.


Als er aus der Hintertür trat, begann Avon zu bellen. Bisch blieb vor dem Zwinger stehen und legte eine Hand auf die vom Regen nassen Kettenglieder. Der Hund lief über das kurz geschnittene Gras bis vor die Absperrung.


»Nein, heute nicht«, sagte er und öffnete die Gittertür. Er streichelte das Fell, umfasste die Behänge, spürte die feuchte Schnauze an den Fingern. Er blickte hoch zum Schlafzimmerfenster. Kein Licht. Avon wedelte mit dem Schwanz. Bisch schüttelte den Kopf, tätschelte dem Hund noch einmal die Flanke und verschloss den Zwinger wieder.


Der Defender stand inmitten einer Pfütze, die durch den Starkregen der vergangenen Tage tiefer geworden war. Er ließ die Fahrertür offen und schob den Drilling in die Gewehrhalterung am Rücksitz. Dann griff er in das Fach unter dem Armaturenbrett und schraubte den Verschluss von seinem Flachmann. Das süßliche Aroma kubanischen Rums stieg ihm in die Nase. Er nahm einen kleinen Schluck, behielt die Flüssigkeit so lange am Gaumen, bis sich die Schärfe auflöste. Mit zittrigen Händen startete er den Motor, bog langsam in die Schotterstraße ein und warf den Flachmann aus dem Seitenfenster. Das Haus lag immer noch in vollkommener Dunkelheit da.

5
Margot

Ich warte, bis die Geräusche des Motors so leise werden, dass ich sie nicht mehr höre. Bis sie im Tal verklingen. Wouter glaubt, dass ich die Hoffnung aufgegeben habe. Es klingt wie Hohn in meinen Ohren. Ich mache weiter. Doch das Weitermachen erschöpft, es erschöpft mich so sehr, und das ist es, was er nicht versteht. Dass es mir die letzte Kraft raubt. Am Ende bleibt nur der schwarze Abgrund der Nacht. Schlaf fühlt sich gerecht an.


Er schließt die Tür zu seinem Arbeitszimmer immer zweimal ab. Die Ersatzschlüssel hat er mir schon vor Jahren gegeben, er wird es längst vergessen haben. Im Zimmer ist es dunkel und kühl. Ich setze mich auf den Sessel hinter dem Schreibtisch. Das Leder ist hart. Die Tischplatte fast leer. Ein Bilderrahmen mit der Miniatur eines Tom-Thomson-Gemäldes. Daneben ein Füllfederhalter und ein zerlesenes Exemplar von Ortega y Gassets Über die Jagd.


Ich schließe die Schublade auf, nehme das Fotoalbum an mich. Als ich die pergamentene Trennseite umblättere, fällt ein Polaroid heraus, das in die Bindung geklemmt war. Darauf zu sehen ist Marius. Er steht neben einem mit Flaggen geschmückten Gipfelkreuz. Warmes Sonnenlicht scheint auf sein Gesicht. Ich weiß nicht, wer die Aufnahme gemacht hat. Zu dem Zeitpunkt war er zwanzig Jahre alt. Auf dem weißen Rand des Polaroids steht in sauberen Druckbuchstaben: GIPFELGLÜCK. Ich fahre mit den Fingerspitzen die dünnen Linien nach. Das Wort ist fast verblasst. Nein, leichtsinnig war er nie.


Ich stecke das Polaroid zurück. Sehr lange wollte ich nicht wissen, wohin er geht. Wo er sich befindet. In welchem Land. Auf welchem Berg. Es kam mir wie ein schlechtes Omen vor. Als könnte dieses Wissen etwas verändern. Als hätte es die Macht, ein Unwetter heraufzubeschwören, eines der Seile reißen zu lassen. Ich habe diese Bilder schon so oft angesehen. Es sind Augenblicke des Triumphs. Die letzte Station eines Wegs voller Verzicht und Zweifel. Marius lebte für diese Momente. Ich erkenne es an der Klarheit in seinem Blick.


Er hat nie mit mir darüber gesprochen. Wie es sich anfühlt, auf einem dieser Gipfel zu stehen. Warum er tut, was er tut. Du musst es selbst erleben, sagte er, wenn ich ihn gefragt habe. Ich habe nicht oft gefragt. Jeder Mensch braucht diese eine Sache, die er mit niemand anderem teilt, die ihm ganz allein gehört. Davon bin ich fest überzeugt. Doch jetzt, in diesem Moment, wünsche ich mir so sehr, dass ich mehr darüber wüsste. Mehr über Gipfel. Mehr über Marius, meinen eigenen Sohn. Ich versuche, es mir vorzustellen. Schneidend kalte Luft. Das Einatmen schmerzt in den Lungen. Klettereisen. Schnee. Schmelzendes Eis. Ich spüre, wie sich meine Muskeln anspannen, wie mir das Blut heiß in den Kopf schießt.


Ein letzter Streifen Dunkelheit trennt mich noch vom helllichten Tag. Was macht noch Sinn? Gestern bin ich mitten in der Nacht aufgewacht. Ich war mir sicher, dass ich ihn gehört habe. Wie er leise die Hintertür aufschließt, durch den Flur schleicht und sich in seinem alten Zimmer ins Bett legt.


Der Raum war kalt und leer. Das Bett gemacht. Ich habe mich auf die Decke gelegt, meine Nase in das Kissen gepresst, seinen Geruch in mich aufgesogen. Ein Rest davon ist noch da.