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Impressum

 

1. Auflage 2018

© Dryas Verlag

 

Herausgeber: Dryas Verlag, Frankfurt am Main, gegr. in Mannheim.Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Agentur Ashera, Gottenau

 

Herstellung: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Lektorat: Andreas Barth, Oldenburg

Korrektorat: Birgit Rentz, Itzehoe

Umschlaggestaltung: © Guter Punkt , München (www.guter-punkt.de) unter Verwendung von Motiven von Thinkstock und Shutterstock

Graphiken: Silhouette of a gentleman in a tuxedo © dervish15 – Fotolia.com / Street Lamp Silhouette © Al - Fotolia.com / Lamplight © Al - Fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

 

ISBN E-Book 978-3-941408-99-9, ISBN Print 978-3-940855-75-6

www.dryas.de

Dryas

Inhalt

Theodore

1. Mayfair

2. Belgravia

3. Im Club

4. Croydon

5. Belgravia

6. Mayfair

7. Im Club

Eldon

8. Im Club

9. Victoria Embankment

10. Im Club

11. Croydon

12. Marylebone

14. Victoria Embankment

15. Covent Garden

16. Clerkenwell

Reginald

17. Hyde Park

18. Knightsbridge

19. Im Club

20. Whitechapel

21. Im Club

22. Croydon

23. CityofLondon

24. Surrey

25. Hersham

26. Im Club

27. Whitechapel

28. Mayfair

29. Knightsbridge

30. Highgate

31. Hyde Park

32. Im Club

33. Belgravia

34. Hersham

35. Im Club

36. Victoria Embankment

Epilog

Zur Baker Street Bibliothek

Impressum

Lesetipp

Die Gentlemen vom Sebastian Club

 

Ein viktorianischer Krimi

 

von Sophie Oliver

 

 

 

Dryas

Die Baker-Street-Bibliothek

Romane aus den Anfängen der modernen Kriminalistik

 

Verfügte Sherlock Holmes in seinem Haus in der Baker Street 221b über eine literarische Bibliothek?

Wir wissen es nicht.

Aber wir stellen uns gern vor, dass er die Bücher dieser Reihe gelesen hätte: Geschichten rund um skurrile Morde, bizarre Motive und eigenwillige Ermittler, die allesamt in einer Zeit spielen, in der die Verbrechensermittlung noch in den Kinderschuhen steckte.

 

www.bakerstreetbibliothek.de

London

Lesetipp: Weitere Fälle von Inspector Donald S. Swanson

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„Inspector Swanson und der Fluch des Hope-Diamanten“

Dryas Verlag, Taschenbuch, 304 Seiten, ISBN 978-3-940855-53-4; E-Book ISBN: 978-3-941408-65-4

 

London 1893, Gordon Wigfield, ein ehrbarer Goldschmied und Damenfreund wurde in seiner Werkstatt auf bestialische Weise ermordet. Chief Inspector Donald Sutherland Swanson nimmt die Ermittlungen auf.
Doch es bleibt nicht bei einer Leiche. Die Nachforschungen führen Swanson schließlich in die höchsten Kreise der Gesellschaft. Welche Rolle spielen Oscar Wilde und sein Geliebter Lord Douglas? Und was weiß Arthur Conan Doyle?
Die Karten werden neu gemischt als sich herausstellt, dass der in den Kellern des Londoner Bankhauses Parr am Cavendish Square aufbewahrte „Blaue Hope-Diamant“ eine Imitation ist …

 

 

 

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„Inspector Swanson und der Fall Jack the Ripper“

Dryas Verlag, Taschenbuch, 346 Seiten, ISBN 978-3-940855-59-6; E-Book ISBN: 978-3-941408-80-7

 

London, East End, 1888: Ein unheimlicher Killer verübt im Stadtteil Whitechapel eine bis dahin beispiellose Mordserie, der ausschließlich Prostituierte zum Opfer fallen. Er nennt sich selbst »Jack the Ripper«.
Scotland Yards Chief Inspector Donald Swanson und sein Team werden auf den Fall angesetzt. Doch alle Versuche, Licht ins Dunkel zu bringen, scheitern. Sogar Oscar Wilde und Lewis Carroll geraten in den Dunstkreis der Ermittlungen.
Wer ist der perfide Killer? Und warum ordnet der Commissioner von Scotland Yard die Vernichtung von Beweismaterial an? Ist am Ende etwas dran an den Gerüchten, das britische Königshaus selbst habe seine Finger im Spiel?

EPILOG

»Hast du heute etwas Besonderes vor?« Harold Fox sah seinen Sohn über den Rand der Times hinweg an. Es war Sonntag, also kein Tag, an dem Besuche anstanden. Die Etikette gebot, sonntags lediglich Freunde und Verwandte zu empfangen, und da es unwahrscheinlich war, dass Crispin plante, irgendeinen seiner Onkel aufzusuchen, war Harolds Neugier legitim. Zumal Crispin seinen besten Gehrock trug und irgendetwas mit seinem Haar gemacht hatte. Sämtliche widerspenstige Strähnen waren gebändigt und nach hinten gekämmt, womit er erwachsener wirkte als sonst. Das war auch seine Absicht gewesen, er hatte nicht weniger als eine Stunde damit zugebracht, sein Äußeres zu optimieren, und stand nun leicht nervös im Flur, eben im Begriff, das Haus zu verlassen.

»Ja, Vater«, rief er über die Schulter zurück in den Salon. Bevor Harold detaillierter nachfragen konnte, fiel die Tür ins Schloss und Crispin war weg.

Ganz der viktorianischen Sitte entsprechend, hatte er seine »Calling Card«, seine Visitenkarte, vorab bei Lord Philip abgeben lassen, und nun machte er einen sogenannten »Formal Call«, also einen offiziell förmlichen Besuch am Wilton Crescent. Die bessere Gesellschaft unterschied dabei strikt in »Morning Calls« und »Evening Calls«, wobei sämtliche Tageslichtstunden als »Morning« und alles, was nach Sonnenuntergang lag, der Einfachheit halber als »Evening« bezeichnet wurde. Die morgendlichen Besuche sollten nicht vor zwölf Uhr mittags oder nach siebzehn Uhr stattfinden. Abendbesucher durften niemals später als einundzwanzig Uhr eintreffen und auf keinen Fall länger als bis zweiundzwanzig Uhr bleiben. Alles hatte seine Ordnung.

Mit seinem Erscheinen gegen drei Uhr nachmittags, nach vorheriger Ankündigung, hätte Crispin also allen gesellschaftlichen Anforderungen Genüge getan, wäre der Umstand nicht gewesen, dass er Lord Philip nun einmal an einem Sonntag aufsuchte, der nicht für x-beliebige Besucher zur Verfügung stand. Genau aus diesem Grund hatte er diesen Tag gewählt, Crispin hatte nicht vor, sich in die Reihe jener x-beliebigen Besucher einzureihen, die wochentags bei Lord Philip vorsprachen. Er hatte deswegen auch nicht eine seiner Visitenkarten, sondern gleich zwei abgegeben, eine für Lord Philip, eine für dessen Nichte. Damit machte er, ohne ein Wort auszusprechen, zwei Dinge unmissverständlich klar. Erstens war Crispin Fox kein oberflächlicher Bekannter der Familie Dabinott, sondern jemand, der in enger Beziehung zu derselben stand beziehungsweise stehen wollte und der keine geschäftlichen Dinge zu besprechen hatte, sondern Privates. Und zweitens plante er nicht, dies mit dem Hausherrn zu tun, sondern er wollte Freddie sehen.

Daher war durchaus nachvollziehbar, dass er mit flatternden Nerven, seinen Hut in den Händen drehend, im Salon stand, in den der Butler ihn geführt hatte, und auf sie wartete.

Zuerst kam Lord Philip herein, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

»Mister Fox! Wie wunderbar, Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen? Vollständig genesen?« Freundschaftlich klopfte er Crispin auf die Schulter und bot ihm einen Platz auf der Sitzgruppe vor dem Gartenfenster an. Diese bestand aus einem zierlichen Sofa und zwei Stühlen nebst passendem Tischchen.

»Selbstverständlich. War ja nichts Dramatisches«, wiegelte er ab. Tatsächlich aber hatte die Stichwunde, die Miss Clairborne ihm zugefügt hatte, einen Teil von Crispins Lunge verletzt. Nachdem er eine Woche lang Blut gespuckt hatte, war heute erst der zweite Tag, an dem ihm dies erspart blieb. Er hoffte, tatsächlich auf dem Weg der Genesung zu sein, fühlte aber tief in seinem Inneren, dass er sich nie komplett davon erholen würde, von einem langen Stück Stahl durchbohrt worden zu sein, noch dazu feigerweise von hinten.

»Ein wenig blass sehen Sie aus.«

»Doktor Pebsworth meint, ich hätte reichlich Blut verloren, sodass es eine Weile dauern wird, bis alles wieder beim Alten ist.«

Nachdem sich beide gesetzt hatten, öffnete sich die Tür des Salons und Freddie trat ein.

Fast hätte Crispin erwartet, sie in ihrer Verkleidung zu sehen. Zuzutrauen wäre es ihr, einfach nur, um ihn zu ärgern. Aber auch sie hatte sich hübsch gemacht. Das blonde Haar zu einem aparten Knoten gesteckt, trug sie ein roséfarbenes Kleid mit weißem Spitzenbesatz, das ihre leicht gebräunte Haut betonte und ihre Augen zum Strahlen brachte. Als sie ihn anlächelte, setzte Crispins Herz einen Schlag aus. Rasch erhob er sich von seinem Platz, um sie zu begrüßen.

»Guten Tag, Miss Westbrook. Ich hoffe, Sie finden meinen Besuch an einem Sonntag nicht impertinent?«

»Ganz und gar nicht.« Statt ihm lediglich grüßend zuzunicken, streckte sie ihm ihre Hand hin und er schüttelte sie, wie sie es auch als Männer zu tun pflegten. Sie nahm Platz und bedeutete ihm, sich neben sie auf das Sofa zu setzen.

Lord Philip runzelte missbilligend die Stirn, ihm wäre es wahrscheinlich lieber gewesen, Crispin hätte sich wieder weiter weg in seinen Stuhl zurückgezogen.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Freddie mit sorgenvoll angehobenen Brauen, was Crispin rührte.

»Danke, gut. Doktor Pebsworth ist mit meinem Genesungsfortschritt zufrieden. Soweit ich weiß, befindet sich Professor Brown bereits in Lauerstellung, was unseren nächsten Fall betrifft, und wartet nur noch auf das Einverständnis des Doktors bezüglich meiner Gesundheit. Ein paar Tage noch, dann bin ich wieder voll einsatzfähig.«

»Das ist schön.«

Die beiden jungen Leute strahlten einander an, bis Philip, ganz Anstandsdame, Erfrischungen servieren ließ und geschäftig damit herumhantierte, um sie von jedweden romantischen Gedanken abzubringen. Fraglos hatte er nicht vor, Freddie und Crispin auch nur eine Sekunde lang allein zu lassen.

Ein weiterer Besucher wurde gemeldet.

»Mabel!«, rief Freddie hocherfreut. »Wie schön!«

Beide Herren erhoben sich und Philip blickte gleichzeitig verwirrt und erfreut zwischen den Damen hin und her.

»Ich hielt es in Mutters Gegenwart einfach nicht mehr aus!«, plapperte Mabel drauflos, setzte sich mit einem Seufzer und wartete darauf, dass Freddie ihr die Etagere mit den Teekuchen reichte. »Es ist jedes Jahr dasselbe. Wenn es ans Packen geht und wir uns endlich darauf vorbereiten, London zu verlassen, bricht Chaos aus. Mutters Nerven werden immer schlechter.«

Natürlich war es Aufgabe des Personals, die Abreise aufs Land nach Beendigung der London Season vorzubereiten. Mrs Shrewsbury gab bestenfalls Anweisungen – wenn überhaupt – und ihre Angestellten bemühten sich wahrscheinlich, die Sache so reibungslos wie möglich über die Bühne zu bringen, aber theoretisch trug sie als Dame des Hauses die Verantwortung.

»Deswegen bin ich überglücklich, mich in den ruhigen Hafen Ihres Hauses flüchten zu dürfen, Lord Philip«, fuhr sie mit einem koketten Augenaufschlag fort.

»Selbstverständlich, gerne, jederzeit.«

Nachdem Mabel ein Stück Teekuchen gegessen hatte, fächerte sie sich mit einer behandschuhten Hand Luft zu.

»Ach, wie stickig ist es heute! Besonders drinnen kann ich kaum atmen, in unserem Haus verhielt es sich nicht anders. Ein wenig frische Luft wäre eine Wohltat!« Damit warf sie Lord Philip erneut einen eindeutigen Blick zu, worauf dieser sofort anbot: »Vielleicht sollten wir durch den Garten spazieren?«

»Oh ja, das wäre schön!« Mabel erhob sich rasch, aber durchaus graziös. So rasch, dass Crispin und Philip Mühe hatten, schnell genug aufzuspringen.

»Du kannst gerne hierbleiben, Frederique«, sagte sie an Freddie gewandt. »Ich weiß ja, dass du heute Kreislaufprobleme hast.« Damit griff sie nach Lord Philips Arm und zog ihn mit sich in Richtung Tür. Seinem verdutzten Gesichtsausdruck nach dämmerte es ihm, dass er von den Damen ausgebootet worden war.

»Kreislaufprobleme?«, fragte Crispin, als er endlich mit Freddie allein war.

Sie schüttelte lachend den Kopf. »Natürlich nicht. Nur eine Ausrede, die Mabel und ich uns haben einfallen lassen, nachdem du deinen Besuch angekündigt hattest. Mir war sofort klar, dass Onkel Philip wie Zerberus über mich wachen würde.«

»Dann war Miss Shrewsburys Besuch ein geplantes Ablenkungsmanöver?«

»Unterschätze niemals die Raffinesse der Frauen.«

»Das werde ich mir merken.«

Freddie wurde ernst. »Was ist der Grund deines Besuches, Crispin? Weshalb der dramatische Auftritt an einem Sonntag? Gibt es etwas, das du auf dem Herzen hast?«

Als Antwort zog er sie in seine Arme und küsste sie. Einen Moment lang ergab sie sich und sank gegen ihn, erwiderte den Kuss und öffnete bereitwillig ihre Lippen. Dann drückte sie ihn von sich und stieß atemlos hervor: »Crispin! Wenn Philip hereinkommt …!«

Nicht weniger atemlos reckte er den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. »Die Gefahr besteht wohl kaum. Wie es aussieht, unterhält Miss Shrewsbury ihn blendend. Sie scheint eine loyale Freundin zu sein.«

»Die ihre eigenen Vorteile daraus zieht, wenn sie mit meinem Onkel allein ist.«

»Als du mich verletzt an der Kellertür von St. Stylian’s fandest, was dachtest du?«, wechselte er abrupt das Thema.

»Ich hatte Angst.«

»Weshalb?«

»Was meinst du, weshalb? Ist das nicht offensichtlich?«

Sie schien sich zu winden, aber Crispin wollte es hören, musste es hören.

»Nein. Sag es mir.«

»Ich hatte Angst, du könntest sterben.«

Er hoffte, sie würde weitersprechen, die Sache etwas näher ausführen. Zum Beispiel, dass sie das schrecklich traurig gemacht hätte, weil sie sich in ihn verliebt habe. Dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen könne. Dass er sie nie allein lassen dürfe. Aber Freddie wäre nicht Freddie, wenn sie es ihm einfach machen würde. Gerade ihre Widerspenstigkeit war es, die ihn so reizte. Da galt es genau genommen schon als Zugeständnis, wenn sie einräumte, sie habe Angst um ihn gehabt.

Dann würde er wohl all seinen Mut zusammennehmen müssen, um ihr seine Liebe zu gestehen. Crispin Fox war kein Mann halber Sachen, aber auch keiner, der aufs Ganze ging, wenn er sich nicht absolut sicher war. Dass er Freddie Westbrook liebte, stand außer Frage. Während er verletzt daheim in seinem Bett gelegen hatte, konnte er ausgiebig über seine Gefühle für sie nachdenken. Sie war alles, wonach er sich sehnte, eine wunderschöne Frau, eine intelligente Partnerin und ein Freund, auf den er sich auch in lebensgefährlichen Situationen verlassen konnte. Sollte er abwarten, bis irgendein blasierter Gesellschaftslöwe auf sie aufmerksam wurde und sie ihm wegschnappte? Bestimmt nicht! Nach reiflicher Überlegung hatte er sich also dazu entschlossen, Freddie seine Gefühle zu offenbaren und, so sie diese denn erwidern würde, ihren Onkel zu bitten, ob er ihr den Hof machen dürfe. Nie käme es Crispin in den Sinn, Freddie in dieser Sache zu übergehen und zuerst ihren Vormund zu fragen, wie es die Sitte erfordern würde. Dafür respektierte er sie viel zu sehr.

»Um ehrlich zu sein«, weil er einen Frosch im Hals hatte, musste Crispin sich kurz räuspern, »hatte ich diese Befürchtung auch für einen kurzen Moment. Dass ich sterben könnte, meine ich. Dabei wurde mir klar, dass ich eigentlich keine Angst vor dem Sterben als solches habe, sondern vielmehr davor, dich dann nie wieder …«

Sein emotionaler Redefluss, dem Freddie gebannt und mit weit aufgerissenen Augen folgte, wurde von einem wilden Klopfen unterbrochen. Es pochte so laut an die Haustür, dass es durchs ganze Haus hallte. Man hörte es bis in den Salon, wahrscheinlich sogar bis hinaus in den Garten, denn noch bevor der Butler sich aus den Wirtschaftsräumen auf den Weg gemacht hatte, liefen Freddie, Crispin, Philip und Mabel aufgeschreckt an die Tür und der Hausherr öffnete schließlich selbst.

Herein stürzte eine zerlumpt aussehende Gestalt. Langes, pechschwarzes Haar, das zerzaust in ein exotisch aussehendes Gesicht fiel. Sonnenverbrannte Haut, weit auseinanderstehende dunkle Augen mit einem wilden Blick darin. Der Mann war nicht groß, aber muskulös. Zahlreiche Blutergüsse und kleinere Schnittwunden in seinem Gesicht wiesen auf eine noch nicht lange zurückliegende gewalttätige Auseinandersetzung hin. Während er noch unverständliche Laute in einer fremden Sprache von sich gab, stieß Freddie einen entsetzten Schrei aus. Sie fing den völlig erschöpften Mann auf, bevor er zu Boden fallen konnte, stützte ihn und ließ zu, dass er seine Arme um sie legte und sie fest an sich presste.

Crispins Kehle war mit einem Mal wie zugeschnürt. In seinem Herzen machte sich die dumpfe Angst einer schrecklichen Vorahnung breit.

»Freddie!«, rief Lord Philip laut. »Wer ist dieser Herr? Es hat den Anschein, als würdet ihr euch kennen! Was sagt er denn?«

Mit Tränen in den Augen, den Fremden noch immer im Arm haltend, stieß sie hervor: »Das ist mein Freund Zhen. Er kam den weiten Weg aus Hongkong hierher, um mich an ein Versprechen zu erinnern, das ich ihm einst gab.«

Crispin schloss für eine Sekunde die Augen. Er wollte es nicht wissen.

»Ich versprach ihm, auf ewig mit ihm verbunden zu bleiben und an seiner Seite zu stehen, wenn die Zeit gekommen ist.«

»Und ist sie das denn? Ich verstehe nicht …?« Besorgnis lag in Philips Stimme.

An Freddies Stelle antwortete Zhen, nun nicht mehr in Mandarin, sondern in bestem Englisch: »Mehr als das. Es ist beinahe zu spät. Freddie muss sofort zurück nach Hongkong reisen!«

Ende

England, Sommer 1895

THEODORE

Während tagsüber in London die Sommerschwüle den Smog bis in die kleinste Gasse drückte und die Luft stinken ließ wie einen stehenden Furz, der nicht verfliegen wollte, war davon auf dem Land wenig zu spüren. Zumindest nachts, sobald es auffrischte. Dafür drangen dann aus den Wäldern die lang gezogenen Rufe der Füchse wie heisere Schreie oder klagendes Kreischen, immer einsilbig und durchdringend. Allein schon deswegen vermisste er das Landleben nicht. Die Geräusche der Stadt waren weit weniger enervierend und stammten zumeist von Menschen, nicht von Getier. Während ein weiterer Fuchsschrei in der Ferne verhallte, atmete der Mann in Schwarz tief durch und ging zurück ins Haus. Genug frische Luft geschnappt, eine Aufgabe erwartete ihn.

Mit einer ruckartigen Bewegung zog er dem gefesselten Mann auf dem Stuhl den Leinenbeutel vom Kopf. Benommen blinzelte der eine Weile. Augenscheinlich hatte er Mühe, in der schummrigen, nur von einer einzelnen Kerze erhellten Umgebung etwas zu erkennen. Kurz fragte sich der Mann in Schwarz, ob der Schlag auf den Kopf vielleicht ein wenig zu viel des Guten für sein Gegenüber gewesen sein mochte. Immerhin erhoffte er sich noch Informationen von ihm. Aber aus Transportgründen hatte er ihn vorübergehend außer Gefecht setzen müssen. Der Gefangene war zwar schmächtig, zudem schon etwas in die Jahre gekommen, trotzdem wusste man nie, was die Verzweiflung einem für Kräfte verleihen konnte. Und bei allem, was der Mann tat, stand Risikovermeidung an oberster Stelle. So war er schon immer gewesen. Er analysierte seine Feinde, lernte alles über seine Gegner und ging beherrscht gegen sie vor.

»Wer sind Sie? Wo bin ich? Was wollen Sie von mir?«

Als die erste Salve der obligatorischen Fragen abgeschossen wurde, war der Mann in Schwarz beruhigt. Das Gehirn des Gefangenen schien zu funktionieren.

Er stellte sich so nah an die Kerze, dass das Licht auf seine Gestalt fiel. Wie erwartet, sorgte dies für schreckgeweitete Augen und Zerren an den Fesseln.

»Warum tragen Sie eine Teufelsmaske? Was haben Sie mit mir vor?« Die Stimme des Mannes klang panisch.

»Ich trage die Maske selbstverständlich, damit du mein Gesicht nicht siehst«, erklärte der Mann in Schwarz geduldig. Gerne hätte er hinzugefügt, dass er nicht einfach irgendein Exemplar ausgewählt hatte, sondern eines, das möglichst wenig Furcht einflößend wirkte: eine Halbmaske aus bedrucktem Papier, die sein Gesicht bis zur Oberlippe bedeckte und Mephisto mit roter Kappe, darunter hervorlugendem Rabenschnabel-Haaransatz und den beiden obligatorischen Hörnern auf dem Kopf darstellte. Vollkommen harmlos.

»Was mit dir geschieht, bestimmst du allein. Ich werde dir eine Frage stellen, deren Beantwortung über den weiteren Verlauf deines Aufenthalts hier entscheiden wird. Du hast es in der Hand.«

»Wo sind wir? Wie bin ich hierhergekommen?«

»Einigen wir uns darauf, dass ich frage und du antwortest.« Noch immer klang der Mann beruhigend. Leider übertrug sich dies nicht auf den Gefesselten. Der brüllte nach Hilfe, und zwar so laut, dass seine Stimme grell von den Wänden des Raums widerhallte und in den Ohren schmerzte. Unweigerlich drängte sich dem Mann in Schwarz der Vergleich mit den bellenden Füchsen auf, was an seinen Nerven zerrte. Mit einer behandschuhten Hand schlug er seinem Gegenüber hart ins Gesicht. Endlich herrschte wieder Ruhe.

»Theodore Hobbs«, fragte er ihn dann, »wo ist Kassiopeias Herz?«

Aus der Nase des Mannes floss ein kleines rotes Rinnsal in Richtung seiner Oberlippe. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er Mephisto an. »Was?«

»Du hast mich schon richtig verstanden.«

»Irrtum! Ich verstehe kein Wort! Keine Ahnung, wovon Sie sprechen! Kassiopeias Herz? Nie gehört. Was soll das sein?«

Bedauernd schüttelte der Mann in Schwarz den Kopf. »Dann muss ich deiner Erinnerung wohl ein wenig auf die Sprünge helfen.«

Er griff in die mitgebrachte Ledertasche und zog einen Gegenstand daraus hervor, der aus zwei parallel angeordneten Metallstäben bestand, die über zwei senkrechte Gewinde miteinander verbunden waren.

»Was haben Sie vor? Was ist das?«

»Wir kamen doch überein, dass ich die Fragen stelle, nicht du. Und dieses praktische Gerät wird mir dabei helfen. Es dient der Wahrheitsfindung – hat sich seit Jahrhunderten bestens bewährt.« Während er sprach, näherte sich Mephisto dem Gefesselten und schob das Teil über den Daumen von dessen linker Hand. Weil die Handgelenke auf der Armlehne festgezurrt waren, blieb jeglicher Widerstand zwecklos. Der Mann in Schwarz nestelte ein wenig herum, bis er mit dem Sitz der Querstangen zufrieden war, dann drehte er an den beiden Schraubenmuttern, die Branchen näherten sich einander, fassten den Finger des Gefangenen und quetschten sein Fleisch. Theodore Hobbs schrie auf.

»Eine Daumenschraube? Das ist eine Daumenschraube! Sind Sie irre? Wir sind doch nicht im Mittelalter!«

Ohne darauf einzugehen, lockerte Mephisto den Druck wieder. Er wollte fair bleiben und seinem Gast eine schmerzlose Entscheidungsfindung ermöglichen. Schließlich war man zivilisiert. »Also noch einmal: Wo ist Kassiopeias Herz?«

»Was soll das sein? Ich kenne keine Kassiopeia!«

»Ts, ts, ts. Sich dumm zu stellen ist in dieser Situation keine gute Strategie.«

Erneut zog er die Daumenschraube an, dieses Mal stärker, bis ein Knacken zu hören war, gefolgt von einem gellenden Aufschrei.

Da Theodore Hobbs über zehn Finger verfügte, der Mann in Schwarz ein geduldiger Pragmatiker war und zudem dringend eine Antwort auf seine Frage benötigte, dauerte das Verhör noch eine ganze Weile. Schließlich gab sich Mephisto geschlagen. Sein Gefangener hatte anscheinend tatsächlich keine Ahnung.

»Ich werde dich jetzt nach Hause bringen, Theodore.«

»Wirklich?« Obwohl die Stimme schmerzverzerrt klang, lag unverkennbar Hoffnung darin.

Der Mann in Schwarz löste die Fesseln, stützte den schwer verletzten Theodore Hobbs beim Gehen und half ihm draußen beim Einsteigen in die Kutsche.

»Natürlich. Ich werde dich persönlich in deiner Wohnung abliefern. Abbey Road Nummer drei, vierter Stock, nicht wahr?«

1. Mayfair

Der Blick vom Frühstücksraum des Sebastian Club ging hinunter auf die Berkeley Square Gardens, ein großzügig angelegtes Rechteck, in dem hochgewachsene Platanen Schatten spendeten. An einem unverhältnismäßig heißen Sommertag wie diesem war das ein Segen, eine friedliche Oase im rastlosen Treiben Londons. Freddie zählte mindestens acht Kinderwagen, die von adrett gekleideten Nannys durch die Anlage geschoben wurden. Üppig bepflanzte Blumenrabatten spiegelten den Reichtum des Stadtviertels wider. Hier, in Londons Herz, hielt sich nur auf, wer es sich leisten konnte. Ausschließlich die Kinder von reichen und hochwohlgeborenen Leuten wurden in dieser Gegend spazierengefahren. Die Eltern sahen ihre Sprösslinge für gewöhnlich etwa eine Stunde täglich, sofern Mutter und Vater sich die Zeit dafür nahmen. Ansonsten befanden sie sich rund um die Uhr in Gesellschaft ihrer Gouvernanten, die für sämtliche Erziehungsfragen verantwortlich waren. Bei den Kindermädchen wiederum herrschte ein ebenso striktes Klassensystem wie bei ihren Arbeitgebern. Eine Nanny in Diensten eines Earls würde sich im Park nur mit einer Kollegin austauschen, die für eine ebenso wichtige Familie tätig war. Daher bildeten sich täglich Grüppchen, gab es Außenseiter und auch Gouvernanten, die von allen misstrauisch beäugt oder gar beneidet wurden.

Von seinem Platz an einem Fenster im zweiten Stock des Sebastian Club konnte Freddie allerdings nur einen Teil des Gartens einsehen. Er vermutete, dass sich weitaus mehr Babys dort unten aufhielten als besagte acht.

»Ich hoffe, meine kleine Führung durch unsere Räume hat Ihnen zugesagt«, unterbrach Professor Brown Freddies Gedanken. »Lassen Sie uns nun in mein Büro gehen.«

Von dort hatte man zwar keine freie Sicht mehr auf die Berkeley Square Gardens, dafür aber auf die helle Steintreppe des Clubeingangs, die zum glänzend pechschwarz lackierten Portal mit seinem Messingtürklopfer in Form einer Löwenkralle hinaufführte. Jeder Neuankömmling ließ die schwere Tatze auf ihr Gegenstück, einen Messingball, krachen, woraufhin der Portier umgehend öffnete, um die Mitglieder einzulassen – und allen anderen den Zutritt zu verwehren.

Auch nicht schlecht, dachte Freddie.

Professor Brown konnte also von seinem Schreibtisch aus genau beobachten, wer den Club betrat oder verließ. Ein Umstand, den sich Freddie merken würde. Überhaupt fand er den Professor sehr aufmerksam, geradezu wissbegierig. Er schien ein interessanter Mann zu sein. Freddie schätzte ihn auf Anfang sechzig. Von seinem Onkel wusste er, dass Brown ein Professor der Anthropologie war. Früher hatte er einen Lehrstuhl an der Universität von Oxford gehabt, mittlerweile galt er offiziell als emeritiert. Inoffiziell freilich war er mit der Leitung des Sebastian Club wahrscheinlich beschäftigter als zu seinen Lehrzeiten. Immerhin musste er nicht nur nach außen hin den Eindruck erwecken, einen distinguierten Gentlemen’s Club zu verwalten, es gab intern auch noch die »Unterabteilung«, wie Onkel Philip es gerne bezeichnete.

Neben den normalen Mitgliedern beschäftigte der Club eine kleine Anzahl an Detektiven – diskret natürlich –, von denen Freddies Onkel einer war. Und heute war der große Tag, an dem auch Freddie Westbrook in den Kreis der Clubmitglieder – besser noch, der Ermittler – aufgenommen wurde. Ein Schauer wohliger Aufregung lief über seinen Rücken. Er genoss ihn, gab sich einen Moment lang dem triumphierenden Gefühl hin, etwas Großes erreicht zu haben.

Nachdem er sein glückseliges Grinsen wieder unter Kontrolle hatte, wandte er sich vom Fenster ab und nahm in einem Ledersessel Platz. Er ließ die Einrichtung des Büros auf sich wirken.

Geschmackvoll, repräsentativ, aber nicht protzig. Dunkles Holz, dunkles Leder und ein wenig gedecktes Grün in den Gardinen sowie im Teppich. Professor Brown goss einen Fingerbreit Whisky in drei Gläser, reichte Freddie eines davon, das zweite Lord Philip, das dritte behielt er für sich.

»Lassen Sie uns anstoßen. Auf Ihren Clubbeitritt. Als Herrenclub mit strengem Codex und einer hohen Messlatte, was potenzielle Bewerber betrifft, haben wir nur wenige Gentlemen in Ihrem Alter. Diejenigen, die es in den Sebastian Club geschafft haben, sind daher etwas Besonderes. So wie Sie. Es ist uns eine große Freude, Sie als Mitglied gewonnen zu haben. Besonders nach dem, was uns Ihr Onkel über Ihre herausragenden Fähigkeiten erzählte.«

Freddie nippte an seinem Glas, warf einen kurzen Blick auf Lord Philip, der ihm mit seinen tiefblauen, ein wenig eng beieinanderstehenden Augen aufmunternd zuzwinkerte. Um seinen scharf geschnittenen Mund lag ein feines Lächeln. »Ich nehme an, Sie sprechen vom Greenwood-Fall«, sagte Freddie an Professor Brown gewandt. »Mein Onkel nahm ein hohes Risiko auf sich, mich an den Ermittlungen mitwirken zu lassen. Dafür bin ich ihm dankbar. Er und ich haben uns sehr gut ergänzt. Sein Verdienst war genauso groß wie der meine.«

Professor Brown lächelte. »Bescheidenheit ist die Zier eines wahren Gentleman.«

Lord Philip zog eine Taschenuhr aus der dafür vorgesehenen Tasche seiner Anzugweste, klappte sie auf und studierte sie eingehend. Nachdem er sie wieder geschlossen und verstaut hatte, leerte er sein Glas in einem Zug und sagte: »Ich will nicht unhöflich erscheinen, Professor, aber lassen Sie uns zur Sache kommen. Die Formalitäten sind erledigt und uns allen ist bekannt, weshalb die Aufnahme meines Neffen so rasch abgewickelt wurde. Am besten, Sie schildern Freddie die Fakten, dann können wir uns direkt an die Arbeit machen.«

»Gewiss, gewiss.« Professor Brown schien sich nicht an der direkten Art von Lord Philip Dabinott zu stören.

»Wie Sie bereits wissen, Mister Westbrook«, begann er seine Ausführungen, »handelt es sich bei unserem Club nicht einfach um einen gewöhnlichen Gentlemen’s Club. Wir haben es uns vielmehr zur Aufgabe gemacht, unserem Namensgeber gerecht zu werden. Der heilige Sebastian gilt unter anderem als Schutzpatron der Sterbenden. Und einige unserer Mitglieder sorgen dafür, dass den Toten Gerechtigkeit widerfährt. Das bedeutet, wir klären Mordfälle auf, deren erfolgreiche Bearbeitung die Fähigkeiten von Scotland Yard übersteigen.«

»Und was hält unsere Exekutive davon?«, konnte sich Freddie nicht verkneifen zu fragen.

Professor Brown strich mit einer Hand über seinen kurz gestutzten weißen Bart und überlegte. Dabei zog er seine buschigen schwarzen Augenbrauen, in denen sich, im Unterschied zu Bart und üppigem Haupthaar, kein einziges weißes Härchen befand, zusammen. »Das ist uns, ehrlich gesagt, ziemlich einerlei. Zumal unsere Clubmitglieder so einflussreiche Personen der Gesellschaft sind, dass wir unsere Ermittlungen mit und ohne Zustimmung der Beamten durchführen können. Gerade bei unserem aktuellen Fall ist es zum Beispiel so, dass der zuständige Kommissar völlig im Dunklen tappt. Er geht von mehreren Tätern aus, behandelt die Fälle als nicht zusammenhängend. Dabei steckt hinter allen eindeutig ein und derselbe Mörder. Aber machen Sie sich selbst ein Bild, Mister Westbrook:

In den letzten Wochen wurden drei Männer ermordet. Einer davon ist ein Lehrer aus Croydon, der zweite ein stadtbekannter Zuhälter aus Whitechapel und der dritte Lord Reginald Pierce, der ein Stadthaus hier in Mayfair besaß. Bei den Getöteten fanden sich Spuren von, sagen wir, intensiven Verhörtechniken.«

»Sie wurden gefoltert?«

»Nun ja, zumindest wurden ihnen vor ihrem Tod Verletzungen zugefügt, die das nahelegen.«

»Wie wurden sie getötet?«

»Den Lehrer hat man aus dem Fenster seiner Wohnung hinunter auf die Straße gestoßen. Der Zuhälter wurde erstochen. Und Lord Pierce erschlagen. Er wurde übel zugerichtet.«

»Die Gewalt steigerte sich von Mord zu Mord«, konstatierte Lord Philip. Er schlug die langen Beine übereinander und zupfte das Hosenbein seines Maßanzugs zurecht. »Aber warum gehen Sie davon aus, dass ein und derselbe Täter am Werk war?«

»Wegen der Verhörtechnik. Allen drei Opfern wurden vor ihrem Tod dieselben, sehr speziellen Verletzungen zugefügt. Sie alle tragen die Handschrift eines einzigen Mörders. Somit hätten wir eine Serie.«

»Vermutlich steht zu befürchten, dass diese fortgesetzt wird«, meinte Freddie. »Es sei denn, der Täter hat bereits bekommen, wonach er suchte.«

Professor Brown schüttelte den Kopf. »Dagegen sprechen die schrecklichen Verletzungen, die Lord Pierce zugefügt wurden. Das zeugt von Frustration. Unser Täter wird immer aggressiver. Deshalb müssen wir ihn schnellstmöglich dingfest machen.«

»Und mein Onkel und ich sollen das für Sie erledigen. Deshalb wurde ich in den Sebastian Club aufgenommen.«

Professor Brown öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und nahm einen Stapel Akten heraus, die er Lord Philip reichte. »So ist es. Dies sind Kopien der entsprechenden Fallakten von Scotland Yard.«

Freddies fragendem Blick begegnete er mit einem Schulterzucken. »Der Sebastian Club hat weitreichende Beziehungen, wie ich schon sagte. Studieren Sie diese Unterlagen in Ruhe, und anschließend treffen wir uns wieder hier. Sagen wir morgen Abend zum Dinner? Dann werde ich Ihnen die beiden anderen Mitglieder unseres Ermittlerkreises vorstellen.« Professor Browns Stimme hatte einen warmen, tiefen Klang und den Akzent eines gebildeten Akademikers. Es war angenehm, ihm zu lauschen. Beinahe bedauerte Freddie es, dass er nach seiner kurzen Skizzierung der Fakten nun am Ende seiner Ausführungen angelangt war.

2. Belgravia

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, verließen Freddie und sein Onkel den Sebastian Club und hielten eine Droschke an. Der Kutscher musste wenden, um den Weg nach Belgravia einzuschlagen, wo das Stadthaus der Dabinotts stand. Dabei passierten sie den Parkeingang aus nächster Nähe.

»Diese Nanny«, bemerkte Freddie, »auf der ersten Bank links, gleich neben dem Weg, saß schon vor zwei Stunden dort, als wir ankamen. Sie scheint den Clubeingang gut im Blick zu haben. Falls wirklich ein Baby in ihrem Kinderwagen liegt, was ich bezweifle, da er in der prallen Sonne steht, dürfte es mittlerweile gegrillt sein. Oder zumindest lautstark brüllen. Ich höre aber nichts. Darüber hinaus würde es mich wundern, wenn sich ein Kindermädchen einen derartig exklusiven Hut leisten könnte. Die junge Dame trägt nämlich ein Modell von Aldous Kingsley, und das ist der teuerste Hutmacher in Piccadilly. Wenn du mich fragst, beobachtet sie das Kommen und Gehen auf der anderen Straßenseite.«

Zweifelsohne war es ein Geniestreich von Lord Philip gewesen, Freddie als Ermittler zu gewinnen. Seinen wachen Augen entging nichts. Und seine Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und richtig zu kombinieren, war überragend. Während die Kutsche sie zum Wilton Crescent brachte, musterte Lord Philip seinen Neffen. Der Tagesanzug, den er für Freddie hatte anfertigen lassen, stand diesem gut zu Gesicht. Das leichte Tuch war ideal für Freddies lange, schmale Figur. Und das gedeckte Grau schmeichelte seinem Teint und den familientypischen taubenblauen Augen. Für seine zwanzig Jahre wirkte er noch reichlich jungenhaft, das wusste er selbst. Kein Bartwuchs, nicht einmal Flaum bedeckte seine Wangen, dafür waren die Wimpern erstaunlich lang.

Ein schelmisches Lächeln glitt über Lord Philips Züge.

»Was ist?«, fragte Freddie ihn argwöhnisch. »Sehe ich so lächerlich aus in diesem Aufzug?«

»Mitnichten! Du siehst aus wie ein hochwohlgeborener junger Herr. Genauso, wie wir es beabsichtigten. Aber ich wette, du kannst es kaum erwarten, dich zu Hause umzuziehen, nicht wahr?«

»Falsch. Ich liebe meinen neuen Anzug und hoffe, ihn noch viele Male tragen zu dürfen. Wahrscheinlich werde ich noch einen zweiten und dritten brauchen. Mindestens. Das Einzige, was mich bei der Hitze wahnsinnig macht, ist dieser Kopfputz.«

Deshalb lief Freddie daheim sofort nach oben und riss sich die Kurzhaarperücke herunter. Nur mühsam gebändigte weizenblonde Locken quollen hervor, sprangen über Freddies Schultern und machten aus dem jungen Gentleman eine junge Lady.

Mit Bedauern schlüpfte diese aus dem Anzug und ergab sich widerstrebend den Zwängen ihres Korsetts. Es war bitter, den Genuss des freien Atmens wieder aufgeben zu müssen.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie in Rock und Bluse nach unten, wo ihr Onkel schon in seinem Büro auf sie wartete. Vor sich hatte er die Fallakten liegen. Er nahm die oberste und reichte sie Freddie, zusammen mit einem Apfel aus der Obstschale, die immer auf seinem Schreibtisch stand. Freddie zog sich damit in einen Sessel vor dem Bücherregal zurück, während Lord Philip damit begann, die zweite Akte zu lesen. Sie liebte das Büro ihres Onkels und genoss es jedes Mal, sich darin aufhalten zu dürfen. Es war kein übermäßig großer Raum, gerade richtig, um einen eleganten Regency-Schreibtisch aus Mahagoniholz, zahlreiche Bücherregale und eine Sitzgruppe vor dem Kamin zu beherbergen. Zwei Flügeltüren gingen hinaus auf den Garten. Nun standen sie offen, um ein wenig Luft hereinzulassen.

Eine Weile war nur das Rascheln, erzeugt durch das Umblättern der Seiten, zu hören sowie das Geräusch, das auch die wohlerzogenste Dame macht, wenn sie in einen Apfel beißt.

»Glaubst du, er hat etwas gemerkt?«, fragte Freddie schließlich.

»Wen meinst du? Professor Brown? Auf keinen Fall! Er ist immerhin nicht der Jüngste und seine Augengläser sind reichlich dick. Bestimmt sieht er nicht mehr allzu gut. Außerdem war deine Verkleidung perfekt. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich dich selbst für einen jungen Mann gehalten. Wir haben alles bestens vorbereitet, inszeniert und zur Genüge hier in unseren vier Wänden geübt. Immerhin wissen wir beide, was vom Gelingen dieser Scharade abhängt. Wir müssen einem Mörder das Handwerk legen, Frederique, so schnell es geht! Wie gut, dass du schon immer eine überraschend tiefe Stimme hattest. Klingt zwar wenig damenhaft, kommt uns aber jetzt sehr gelegen.«

»Es gibt Personen, die finden meine Stimme angenehm!«, protestierte sie.

»Gewiss, gewiss.«

»Sollte jemals herauskommen, dass Lord Philip Dabinott eine Frau in den hochehrenwerten Sebastian Club eingeschleust hat, wäre das ein handfester Skandal«, gab Freddie zu bedenken. »Aber ich vermute, der Zweck heiligt die Mittel.«

Lord Philip nickte. »Genau. Deshalb machen wir uns nun ans Werk, damit wir wenigstens Erfolge vorweisen können, sollte deine Tarnung auffliegen …«

3. Im Club

»Ich wusste nicht, dass Sie einen erwachsenen Neffen haben«, sagte Doktor Wallace Pebsworth zu Lord Philip, ohne von seinem Steak aufzusehen, das er mit dem Messer malträtierte. Es war bereits seine zweite Portion.

Freddie bezweifelte, dass das in Bratensoße ertränkte, blutige Stück Fleisch nebst gebuttertem Trüffelpüree und glasierten Karotten irgendetwas Positives für Pebsworths ausladende Mitte tun würde. Aber das müsste der gute Doktor selbst am besten wissen. Zugegebenermaßen war das Essen im Sebastian Club vorzüglich. Freddie selbst hatte Wachteln an Rotweinsud genossen und freute sich nun auf das Dessert – welches sie ohne Reue schlemmen konnte, schließlich quetschte kein Korsett ihre Körpermitte.

»Freddie ist der Sohn meiner verstorbenen Schwester«, hörte sie Lord Philip erklären. »Und er ist nur zwei Jahre jünger als ich.«

»Zwölf Jahre, Onkel Pip«, warf Freddie automatisch ein, wie immer. Lord Philip liebte es, bei seinem Alter zu schwindeln.

»Dann eben zwölf«, gab der widerstrebend zu. »Und du sollst mich nicht ›Onkel Pip‹ nennen, das weißt du doch. Das klingt, als wäre ich ein Tattergreis mit Puschen und Schlafmütze.«

Der junge Herr, der neben Doktor Pebsworth saß und die Runde mit aufmerksamen, hellen Augen betrachtete, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er schien selbst nur unwesentlich älter zu sein als Freddie. Freilich handelte es sich hierbei um einen richtigen Mann und keinen verkleideten. Fast ein wenig neidisch bemerkte sie die dunkelblonden Bartstoppeln, die sich auf seinem Kinn zeigten. »Five o‘clock shadow« nannte Onkel Philip das. Er hatte ihr davon abgeraten, sich einen Bartschatten zu schminken, zu hoch wäre das Risiko, er könnte angemalt aussehen.

Der junge Mann war ihr als Crispin Fox vorgestellt worden, ein Anwalt, hochbegabt und zusammen mit Doktor Pebsworth die Nummer drei und vier in ihrem illustren Ermittlerquartett. Wenn man Professor Brown nicht dazuzählte. Aber Freddie vermutete, dass er sowieso eher im Hintergrund die Fäden zog und Aufgaben verteilte.

Sie musste zugeben, dass das Dinner im Sebastian Club ihr regelrecht Freude bereitete, so ernst der eigentliche Anlass auch sein mochte. Die Herren saßen zusammen mit Professor Brown an einem Tisch im Round-Séparée, abseits des großen Speisezimmers, umrundet von den Porträts berühmter Clubmitglieder. Weil der kleine Raum in einen Erker eingebaut war, hatte er eine halbrunde Form, die sich nur auf einer Seite hin für breite, zweiflügelige Holztüren abflachte. Durch diese hatten Angestellte Servierwagen mit den Speisen hereingeschoben, bei denen kräftig zugelangt wurde, hauptsächlich dank Doktor Pebsworths Einsatz.

Für Freddie fühlte es sich grandios an, auf Augenhöhe mit gebildeten Menschen zu sprechen, über Dinge, die mehr waren als unwichtiges Geplauder oder oberflächliche Nichtigkeiten. Was sie sich zu sagen hatten, was sie hier diskutierten, würde einen Mörder zur Strecke bringen. Die Funktion von Doktor Pebsworth als Arzt leuchtete ihr dabei ein, er würde für den Fall von Nutzen sein. Aber was Crispin Fox’ besondere Begabung war, ließ sich auf den ersten Blick nicht erkennen.

Anstatt sich nach dem Essen ins Raucherzimmer zu begeben, blieben sie auf ihren Plätzen sitzen, während das Geschirr abgeräumt wurde. Wenig später wurde ein Barwagen gebracht, auf dem sich auch Aschenbecher nebst Rauchwerk befanden. Nachdem Pebsworth den Tabak gelobt hatte, steckte sich Freddie eine der ägyptischen Zigaretten an – was ihr einen strafenden Blick ihres Onkels einhandelte. Aber sie hatte vor, alle Privilegien auszukosten, die ihre temporäre Männlichkeit mit sich brachte. Dafür hielt sie sich beim Whisky zurück, nippte lediglich an der goldenen Flüssigkeit und beschloss, sich den Inhalt des Glases den restlichen Abend über einzuteilen und dafür mehr vom Mokka nachzubestellen, um einen klaren Kopf zu behalten.

»Ich schlage vor, wir bleiben hier«, leitete Professor Brown zum eigentlichen Thema über. »Hier spricht es sich intimer. Im Raucherzimmer sind überall Augen und Ohren. Doktor Pebsworth, darf ich Sie bitten anzufangen?«

»Gerne.« Mit kurzen, dicken Fingern drückte er seine Zigarette in einem Aschenbecher aus und setzte sich gerade hin. Dies entlockte seinem Stuhl ein gequältes Knarzen. Freddie bemerkte, dass die samtenen Polster so prall mit Rosshaar gestopft waren, dass sie kaum darin einsank, aber Pebsworths Gewicht schien doch substanziell zu sein. Wie alle Anwesenden ignorierte sie das Geräusch galant.

»Laut Berichten des Leichenbeschauers von Scotland Yard starb das erste Opfer, ein gewisser Theodore Hobbs, neunundfünfzig Jahre alt und von Beruf Lehrer, an Verletzungen, die von einem Sturz aus großer Höhe herrühren. Seine Wirbelsäule, seine Beine und sein linker Arm waren gebrochen, zudem die Rückseite seines Schädels zertrümmert. Opfer Nummer zwei, Eldon Guthrie, ein sogenannter Geschäftsmann, wurde durch einen Stich ins Herz getötet. Davor wurden ihm aber bereits weitere Stichwunden in Bauch, Oberschenkel und Schulter zugefügt, und zwar mit einer sehr dünnen, zweischneidigen Klinge. Dabei fällt mir auf Anhieb ein Stilett ein. Und schließlich Lord Reginald Pierce – Todesursache: Einwirkung von stumpfer Gewalt. Er wurde erschlagen. Die meisten Verletzungen befanden sich im Gesicht und am Oberkörper. Tödlich war wahrscheinlich ein Schlag, der die Halswirbel von der Schädelbasis abtrennte. Genickbruch.«

Freddie war froh, nur die Hälfte ihres Desserts gegessen zu haben, denn Doktor Pebsworth breitete nun Fotografien auf dem Tisch aus, welche die einzelnen Opfer zeigten und offensichtlich vom Leichenbeschauer oder der Polizei angefertigt worden waren.

»Können Sie Näheres zu den Folterverletzungen ausführen, die alle Opfer gemeinsam haben?«, fragte Lord Philip. Ihm schienen die Bilder weit weniger auszumachen als Freddie, denn er schob sich genüsslich eines der Petit Fours in den Mund, die auf einer dreistöckigen Etagere in der Mitte des Tisches thronten.

Doktor Pebsworth legte weitere Fotos nebeneinander, welche allesamt die Hände der Toten zeigten.

»Sehen Sie hier? Diese Flecken, Schwellungen, die geplatzte Haut? Allen drei Männern wurden vor ihrem Tod Verletzungen an den Fingern zugefügt. Quetschungen, teilweise sogar Knochenbrüche. Ich fürchte, man hat ihnen zur Unterstützung einer Befragung die sprichwörtlichen Daumenschrauben angelegt.«

»Wie unangenehm!«

Freddie hätte beinahe laut aufgelacht aufgrund dieser Bemerkung ihres Onkels. Anscheinend fiel außer ihr niemandem die Komik von Lord Philips beherrschtem Kommentar auf. Ein untertriebeneres Wort als »unangenehm« angesichts der grausigen Bilder konnte man kaum wählen! Allein beim Gedanken an die Qualen, welche die Opfer während ihrer Tortur ausgestanden haben mussten, befiel Freddie eine Gänsehaut.

»Er hat sie nicht am selben Ort getötet, an dem er sie folterte«, stellte sie fest. Die anderen blickten sie überrascht an, auf eine Erklärung wartend.

»Nehmen wir zum Beispiel das erste Opfer, Theodore Hobbs. In seiner Akte steht, er lebte in Croydon, in der Abbey Road Ecke Latimer Road, in einem mehrstöckigen Mietshaus, aus dessen Fenster er gestoßen wurde. Also in einer dicht besiedelten Gegend. Nun stellen Sie sich die Schreie vor, die er ausgestoßen haben muss, während seine Finger in einer Zwinge gequetscht wurden, bis sie platzten. Es sieht auf diesem Bild hier auch so aus, als ob der Knochen des Daumens gebrochen wäre. Das lässt niemand schweigend über sich ergehen. Geknebelt wurde er aber nicht, Spuren davon müsste man nämlich sonst um seinen Mund herum finden. Hätte Mister Hobbs diese Art von Folter in seiner Wohnung erfahren, wäre er sicherlich von den Nachbarn und wahrscheinlich sogar noch von Leuten auf der Straße gehört worden. Allerdings gaben alle Zeugen an, Hobbs wäre ohne einen Laut gefallen – aus einem Fenster seiner Wohnung im vierten Stock.«

Crispin Fox nickte zustimmend. »Natürlich! Das ist richtig! Bei Eldon Guthrie muss es sich ähnlich verhalten haben. Sehen Sie sich seine Fotografie an: ein stattlicher Mann, obwohl er nicht mehr der Jüngste war! Unser Mörder musste ihn fesseln – und zwar ordentlich. An den Handgelenken erkennt man, wie das verwendete Seil die Haut einschnürte, er scheint kräftig daran gezerrt zu haben. Laut Polizeibericht war er ein stadtbekannter Zuhälter, ständig von mehreren Leibwächtern umgeben, weil er sich viel zu viele Feinde gemacht hatte. Wie konnte er überwältigt, entführt, gefoltert und dann in sein Etablissement in Whitechapel zurückgebracht werden, wo man ihn schließlich tötete, ohne dass irgendjemand dies bemerkte?«

Lord Philip griff nach der Fallakte und blätterte darin. Nachdem er gefunden hatte, wonach er suchte, klappte er sie wieder zu und sah in die Runde. »Laut dem Bericht des Gerichtsmediziners starb Guthrie um zwei Uhr morgens. Gefunden wurde er aber erst um halb sieben, in seinem Büro im ersten Stock seines Bordells. Von einem Dienstmädchen, das den Kamin anheizen wollte. Sehen Sie sich an, wie er zugerichtet wurde!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er mit der Hand auf das Bild der Leiche von Eldon Guthrie. »Seine Finger sehen noch schlimmer aus als die von Hobbs, und ich vermute, dass ihm die tödliche Wunde als letzte zugefügt wurde.«

»Wie man weiß, sind Stiche in den Bauchraum oder die Schulter besonders schmerzhaft. Es könnte durchaus sein, dass diese ein beabsichtigter Teil der Folter waren. Und wenigstens zwei seiner Verletzungen wären mit hohem Blutverlust einhergegangen«, mischte sich Doktor Pebsworth ein, nahm die Fotografie von Guthries Büro und hielt sie hoch, »wovon auf dieser Aufnahme jedoch nichts zu erkennen ist. Der Boden in seinem Büro ist zwar schmutzig, aber nicht blutbesudelt.«